9punkt - Die Debattenrundschau

Perpetuierte Kontrollschleife

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2017. Die taz unterhält sich mit Mnyaka Sururu Mboro vom Verein Berlin Postkolonial über die Rückgabe von Schädeln aus dem Ethnologischen Museum in Berlin. Die SZ fragt, warum so viele Deutschtürken zu Erdogan halten und fürchtet eine Inflation der Überwachungskameras wie in Britannien. In der Welt warnt Alice Schwarzer vor einer Psychologisierung islamistischer Täter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.08.2017 finden Sie hier

Kulturpolitik

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz will Tausende Schädel aus der Sammlung des Ethnologischen Museums zurückgeben. Darüber unterhält sich  Alke Wierth in der taz mit Mnyaka Sururu Mboro vom Verein Berlin Postkolonial , der maßgeblich daran mitgewirkt hat, das Thema bekannt zu machen: "Es handelt sich größtenteils um Gebeine von BewohnerInnen europäischer und speziell deutscher Kolonien, heute Tansania, Ruanda, Burundi, Namibia, Kamerun, Togo und Papua-Neuguinea. Ich kenne diese Geschichte, seit ich sechs Jahre alt war, von meiner Großmutter. Menschen wurden verhaftet, weil sie gegen deutsche Kolonialisten gekämpft hatten. Viele wurden erhängt oder erschossen. Ihre Schädel wurden abgetrennt und zu Zwecken der Rassenforschung nach Deutschland geschickt, teils auch komplette Skelette. Oft wurden auch Grabstätten geplündert."
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Europa

Yavuz Baydar sucht in der SZ nach Gründen, weshalb so viel Deutschtürken weiterhin zu Erdogan halten: "Erdogan weiß, dass seine Regentschaft seinen Anhängern eine Gelegenheit zur Rache bietet für das, was sie als Dekaden kultureller Apartheid betrachten: die Demütigung der religiösen Gemeinschaften durch die Eliten. Kurz nach der Gründung der Republik, also nach der Abschaffung des Kalifats, mussten sich die meisten religiösen Gruppen in den Untergrund zurückziehen. Für ihre Enkel symbolisiert das Wirken der Regierungspartei AKP unter Erdogan einen kollektiven Racheakt."
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Überwachung

Mit Blick auf patrouillierende Militärs und Polizisten in den Innenstädten, Sicherheitskontrollen und Überwachungskameras, konstatiert Adrian Lobe in der SZ eine Militarisierung europäischer Städte und sorgt sich um die Offenheit urbanen Lebens: "In Großbritannien, wo schätzungsweise sechs Millionen Überwachungskameras installiert sind, wird jeder Bürger im Durchschnitt 70 Mal am Tag gefilmt. Es ist eine perpetuierte Kontrollschleife. Die Videoüberwachung, so Graham, spanne denselben Kontrollraum wie in Kriegsgebieten auf: Im Kontrollzentrum, dem Operations Room - der Begriff ist dem Militär entlehnt - erscheint das Individuum, egal, ob es ein unbescholtener Bürger oder Krimineller ist, als ein potenzielles Zielobjekt. Der Modus Operandi ist derselbe wie beim Militär. Man klickt auf die Zielperson, kann sie markieren, identifizieren und pönalisieren. Im Grunde erscheint das Stadtgeschehen wie eine Simulation in einem Computerspiel - irreal, hyperreal."
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Gesellschaft

Jan Feddersen wendet sich in der taz gegen konservative protestantische Geistliche, die sich in Christ und Welt (einer Beilage der Zeit) gegen die "Ehe für alle" ausgesprochen haben, unter anderem mit dem Argument, dass die Entscheidung dafür so schnell gefallen sei: "Das aber ist eine Verkennung der Diskursverhältnisse in den evangelischen Landeskirchen, ja, in gewisser Hinsicht eine Lüge antilutherischsten Kalibers: Keine Frage wurde unter reformatorischen Sonnen so intensiv in den vergangenen 25 Jahren diskutiert wie die der Würdigung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen und ihrer Ehefähigkeit."

Im Leitartikel der Welt kritisiert Gerichtsreporterinn Gisela Friedrichsen die Opferanwälte im NSU-Prozess, die darauf beharren, dass das NSU-Trio nicht allein agieren konnte: "In vier Jahren Hauptverhandlung hätte sich erfahrungsgemäß die Wahrheit ihren Weg gebahnt, wäre da mehr gewesen als das verschworene Trio."

Matthias Heine versucht sich in der Welt an einer Begriffsgeschichte des von Cem Özdemir geprägten Wortes "Biodeutscher". Passend findet er den spöttischen Beiklang des Wortes, denn ein ökologischer Lebensstil sei in den Augen vieler Migranten etwas typisch Deutsches: "Diese Bioladendeutschen stellt man sich kulturell weitestmöglich entfernt vor von Menschen mit Migrationshintergrund vor, bei denen dauernd der Fernseher läuft, die ihre vor Kraft strotzenden Kinder mit Süßigkeiten vollstopfen und die noch niemals auf einem Fahrrad gesessen haben."
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Medien

Hört auf die Terroristen zu psychologisieren und nehmt den Islamismus endlich ernst, ruft Alice Schwarzer in der Welt vor allem jenen FAZ-Kollegen zu, die immer wieder auf Persönlichkeit und Gesinnung der Täter abheben: "Hat man in Deutschland denn immer noch nicht begriffen, dass der Islamismus kein Staat und keine Organisation ist, sondern eine Ideologie, ein Geisteszustand? Die Islamisten, die zur Tat schreiten, haben immer auch persönliche Motive, aber sehr unterschiedliche Hintergründe. Nur eines eint sie alle: Sie nehmen ihre selbstgerechte Überheblichkeit gegenüber allen 'Nicht-Gläubigen' und vor allem gegen 'den Westen' zum Anlass beziehungsweise Vorwand, zur Tat zu schreiten."

Der Atlantic meldet, dass er seine Europaberichterstattung erheblich ausweiten will - und berichtet mit stolz über stark wachsende Nutzerzahlen mit inzwischen 42 Millionen Unique Visitors pro Monat (also unterschiedlichen Personen, die mindestens einmal in diesem Zeitraum vorbeischauen).
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Stichwörter: Schwarzer, Alice, Islamismus

Politik

Alle machen sich jetzt über die von der Washington Post publizierten Telefongespräche Donald Trumps mit den Präsidenten von Mexiko und Australien her. Aber David Frum warnt in Atlantic: "Den Anruf eines Präsidenten bei einem ausländischen Staatschef zu leaken, ist nie dagewesen, schockierend und gefährlich. Es ist von vitaler Bedeutung, dass ein Präsident im Vertrauen sprechen kann und vielleicht noch wichtiger, dass ausländische Politiker im Vertrauen antworten können... Kein Politiker wird mehr frei am Telefon mit Washington sprechen, jedenfalls nicht während dieser Präsidentschaft und vielleicht darüber hinaus."

Der Historiker Gregor Schöllgen erkennt in der FAZ zwar an, dass politische Gründe bei den neuesten amerikanischen Sanktionen gegen Russland eine Rolle spielen - war da mal nicht die Annexion der Krim? - , aber er vermutet vor allem wirtschaftliche Interessen am Boykott einer europäischen Energiepolitik, die den Deal mit Putin sucht: "Die Amerikaner wollen ihren Fuß in der europäische Tür halten, bei der lukrativen Energieversorgung des Kontinents mitmischen und so nicht zuletzt ihre zerbröselnde Vormachtstellung sichern." Am Ende spricht Schöllgen gar von einer amerikanischen "Kriegserklärung" an Europa!
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