9punkt - Die Debattenrundschau

Im Tempel von Chinas Kultur

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2017. Heute beginnt in der Türkei der Prozess gegen die Redakteure von Cumhuriyet. Selbst der Kantinenwirt des Blattes wurde festgenommen, schreibt Can Dündar bei Zeit online. Ebenfalls in Zeit online sieht Jana Hensel den Rechtspopulismus als "Produkt des Feminismus, der Feminisierung unserer Gegenwart". Im Tagesspiegel kommt der Sinologe Gereon Sievernich auf den Tod Liu Xiaobos zurück. In der Berliner Zeitung spricht der  mosambikanische Schriftsteller Mia Couto über die Gewalt der vorkolonialen Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.07.2017 finden Sie hier

Europa

Manchmal ist es ja auch interessant, wenn eine Zeitung zu etwas schweigt. Laut New Statesman hat der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn den "Massenimport" von Arbeitskräften aus der EU beklagt, der die Bedingungen für britische Arbeitnehmer verschlechtert habe, und schließt darum eine Zugehörigkeit zum Gemeinsamen Markt nach dem Brexit aus (was einen "harten" Brexit bedeutet) - und der Guardian bringt keinen Kommentar dazu!

Der britische Autor Jeremy Adler erkennt in der NZZ einen Grundzug zur Anarchie in der britischen  Geschichte, der sich nun Bahn gebrochen habe: "Solange das Parlament wusste, was es will, ließ sich das anarchische Element in Britannien bezähmen (oder geradezu unterdrücken)... Da nun aber das Plebiszit und in der Folge die planlos begonnenen Verhandlungen das nationale Gleichgewicht gestört haben, geht nichts mehr. Das britische Establishment steckt in einer argen Krise und verliert an Bedeutung, es kann die Risse in der Gesellschaft nicht mehr so leicht kitten und verbergen."

Der moderne Rechtspopulismus ist ein "Produkt des Feminismus, der Feminisierung unserer Gegenwart, ohne gleichzeitig feministisch zu sein", erkennt Jana Hensel auf Zeit online und verweist zum Beleg auf die erstaunliche Anzahl von Frauen, die führende Rollen in Europas rechten Parteien und Bewegungen spielen: Frauke Petry und Alice Weidel in der AfD, die beiden Pegida-Frontfrauen Kathrin Oertel und Tatjana Festerling, Marine Le Pen in Frankreich, Polens Ministerpräsidentin Beata Szydło, die Chefin der norwegischen Fortschrittspartei Siv Jensen, die Führungsfrau der Dansk Folkeparti Pia Kjærsgaard. Sie können eine agressive Politik propagieren, ohne auf ihre Wähler gewalttätig zu wirken. Da funktionieren Geschlechterstereotypen noch: "Die Adlige Beatrix von Storch und die Ostdeutsche Frauke Petry verbindet von ihrem Milieu her eigentlich nicht viel. Viel entscheidender ist, ob ein Mensch gegenüber anderen Menschen, Gruppen oder Ethnien zu einem sogenannten Dominanzverhalten neigt und sich als Einheimischer im Vorteil oder in Überlegenheit sieht, die er sichern zu müssen glaubt. 'Männer tun dies stärker über Gewalt und Konkurrenzverhalten - Frauen hingegen mehr über autoritäre Anpassungsforderungen', schrieb die Psychologin Rommelspacher in einem Aufsatz."
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Gesellschaft

In der Berliner Zeitung fragt Anetta Kahane, warum eigentlich nie über den Antisemitismus des NSU gesprochen wird und entwickelt dazu eine eigene Theorie: "Die Übergänge zwischen dem zwar verschwiegenen, aber realen Antisemitismus des NSU und der großen Verschwörungslegende unserer Zeit sind einfach zu peinlich. Niemand mag sich hier irgendeine Gemeinsamkeit mit den Mördern vorstellen. Von der hängenden Puppe an der Autobahn zu Streetart-Graffitis wie 'Smash Jews' oder 'Fake Jews' ist der gedankliche Weg nicht so furchtbar weit."

In der NZZ denkt Cora Stephan in einem langen Essay über Spiel und Krieg nach.
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Überwachung

Johan Schloemann liest für die SZ den Internetkritiker Adam Greenfield ("Radical Technologies"), der auch dem Internet der Dinge, dem 3-D Druck und der Roboterisierung nichts Gutes abgewinnen kann: "Das Modell der grenzenlos mächtigen Internetgiganten, Start-ups entstehen zu lassen und sie dann zu schlucken, bedeute, schreibt Greenfield: 'Praktisch keine Idee ist so sinnlos, dumm oder anstößig, als dass nicht irgendein Start-up irgendwo Ressourcen investieren wird, um sie zu einem kommerziellen Produkt zu entwickeln.' Letztlich gebe es nur ein einziges Ziel: 'das Alltagsleben im allergrößten möglichen Maße zu gestalten und zu monetarisieren'."
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Politik

Der Sinologe (und Leiter des Martin-Gropius-Baus) Gereon Sievernich kommt im Tagesspiegel auf den Tod Liu Xiaobos zurück. Was er aus den chinesischen Parteizeitungen zitiert, lässt einem die Adern gefrieren: "Die Bulldogge unter den chinesischen Zeitungen, das Parteiblatt Global Times gibt den Ton vor. Am 15. Juli schreibt sie in einem Editorial: 'Lius Ahnentafel hat keinen Platz im Tempel von Chinas Kultur. Die Vergöttlichung Lius durch den Westen wird überlagert sein von seiner Ablehnung durch China'. Am 18. Juli heißt es brutal im gleichen Organ: 'Das eigentliche Thema für den Westen ist die Kooperation mit China. Liu Xiaobo ist nur ein Werkzeug der westlichen Länder, um sich ihr Überlegenheitsgefühl zu bewahren und eine Trumpfkarte in Händen zu halten, um aus China mehr Profit zu ziehen. Liu Xiaobo ist gegangen. Westliche Mächte und Dissidenten im Exil sollten jetzt auch von Liu Xia lassen.'"
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Geschichte

Im Interview mit der Berliner Zeitung spricht der mosambikanische Schriftsteller Mia Couto über Rassismus, Kolonialismus, afrikanische Gewalt und über seinen Roman "Imani", der im Jahr 1895 spielt und den Schulbüchern widerspricht, die das vorkoloniale Mosambik als eine Art Paradies beschreiben: "Diese Geschichtsreduktionen sind  beleidigend, weil sie ein geschichtsloses Volk zurücklassen. Dabei treiben ja gerade Konflikte und Spannungen die Geschichte an, sind deren Motor. Stattdessen wird ein Idyll erfunden, in dem es nur gute Leute gab - bis das Böse, das Koloniale, von außen hereingetragen wurde. ... In meinem Buch erzähle ich von  Völkern, die von einem afrikanischen Herrscher, König Ngungunyane, überfallen wurden. Seine Krieger haben das Volk der Vachopi  regelrecht massakriert.  Die Leute dieser Ethnie, die ich während der Recherchen für das Buch befragte, wollten nicht darüber sprechen. Sie verweigerten sich. Sobald ich sagte, es gehe um Ngungunyane, antworteten sie: Nein, nein, darüber reden wir gar nicht. Diese Vergangenheit ist noch sehr lebendig, ihre Geister spuken noch immer umher."
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Medien

Heute beginnt in der Türkei der Prozess gegen die Redakteure von Cumhuriyet, und es wird kaum mehr ein Journalist in der Türkei sein, der das kritisieren kann, schreibt der Chefredakteur con Cumhuriyet, Can Dündar, aus seinem deutschen Exil in Zeit online: "Jeder Journalist hinter Gittern ist eine Geisel, die andere einschüchtern und zum Schweigen bringen soll. Dieser Weg wurde auch beschritten, um die Cumhuriyet, eine der letzten Bastionen der Pressefreiheit, zum Schweigen zu bringen. Zuletzt wurde sogar der Kantinenwirt der Zeitung verhaftet. Sein Verbrechen war es, gesagt zu haben: 'Wenn Erdogan herkommt, serviere ich ihm keinen Tee.' Das hatte der bei der Zeitung postierte Polizist gehört und seinen Vorgesetzten gemeldet, am nächsten Morgen wurde unser Kantinenwirt wegen 'Beleidigung des Staatspräsidenten' festgenommen." Auch in der SZ schreibt Dündar heute aus diesem Anlass.
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Kulturpolitik

In einem langen Interview mit dem Deutschlandfunk antwortet Horst Bredekamp, einer der Gründungsdirektoren des Humboldt-Forums, auf die Vorwürfe der französischen Historikerin Bénédicte Savoy, die dem Gremium schwere Vorwürfe gemacht hat, u.a., dass es die Kolonialgeschichte der Sammlungen nicht genügend aufarbeite. Bredekamp kann das nicht verstehen: "Wenn diese Forderung doch an Brüssel gewendet worden wäre oder nach Paris! Die Sammlungsgeschichte Berlin umfasst 460 Jahre und in diesem Zeitraum hat es 34 Jahre Kolonialherrschaft gegeben. Es kommt also darauf an, die Besonderheit der Sammlungen, die in Berlin und in Deutschland insgesamt zusammengekommen sind, zu erschließen."
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Religion

Es war nicht nur die sexuelle Gewalt. Die Leitung der Regensburger "Domspatzen" hat insgesamt ein Gewaltregime ausgeübt, schreibt Antje Schmelcher in einem eindringlichen Artikel für die FAS: "Ein Prügler soll auch der langjährige Domkapellmeister Georg Ratzinger gewesen sein. Seine Opfer habe er ins Gesicht geschlagen. Er habe mit allem geschmissen, was in der Nähe war, sogar mit Notenständern. Die Opfer erzählen von eingerissenen Ohrläppchen, Beulen, Striemen auf dem Gesäß, blutigen Nasen und Lippen. Manche Jungen wurden mit dem Rohrstock so verprügelt, dass ihnen der Urin aus der Hose lief. Fingerhieben mit einer dünnen Rute machten das Klavierspielen zur Pein. Schläfenhaare wurden ausgerissen und wuchsen nie wieder nach. Mitunter mussten Kinder Erbrochenes aufessen."
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