9punkt - Die Debattenrundschau

Desinformation im postfaktischen Zeitalter

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2017. Der Dokumentarfilmer Matthew Heineman erzählt der Columbia Journalism Review von der extremen Gewalt, die er in seinem Film  über die Bürgerjournalisten von "Raqqa is Being Slaughtered Silent" zugleich zeigen müsste und nicht zeigen kann. Die Drohungen der FAZ und Zeit-Verleger haben gefruchtet: Studenten dürfen ihre Artikel nicht ohne Lizenz kopieren, merkt irights.info an. In der NZZ hat Roland Reuß ein Intelligenzproblem mit dem UrhWissG. In der Pop-Zeitschrift fragt sich Wolfgang Ullrich, warum Martin Schulz seine Wahlkampffotos auf Instagram so nostalgisch tönt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.07.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Nach der Ehe für alle soll jetzt auch das Familienrecht modernisiert werden, berichtet Wolfgang Janisch in der SZ und stellt das Ergebnis eines Arbeitskreises des Justizministeriums zum Thema vor: Für lesbische Paare soll eine "Mit-Mutterschaft" eingeführt werden. Gleichzeitig wird das Recht der Kinder gestärkt, Auskunft über die Vaterschaft zu erhalten: "Diese Empfehlung entspricht einem langfristigen Trend, der von der Erkenntnis ausgeht, dass das Wissen um die eigene Herkunft elementar für die Identitätsfindung ist. So sieht man das inzwischen auch beim Thema Adoptionen, wo die Herkunftseltern nicht mehr - wie einst - anonym bleiben. Ebenso bei der Samenspende: Inzwischen hat der Bundestag die Einrichtung eines Spendenregisters beschlossen, um sicherzustellen, dass Spenderkinder ihre genetischen Väter finden können." Die wirklich strittigen Themen - Leihmutterschaft und Eizellenspende, die - abgesehen von einer Adoption - Voraussetzung sind für schwule Elternschaft, wurden ausgespart.

In der Berliner Zeitung fordert Götz Aly derweil eine Aufhebung des Ehegattensplittings, auch wenn ihm eine dafür notwendige Änderung des Art. 6 GG - mit vorhersehbaren politisch korrekten Wortungetümen wie "biologisch und/oder sozial Elternden" - ästhetische Kopfschmerzen macht. "Jenseits dessen ergibt sich aus Artikel 6 Grundgesetz ein weiteres zwingendes Argument gegen das Splitting. Absatz 5 fordert nämlich, dass für 'uneheliche Kinder gleiche Bedingungen' zu schaffen sind. Da im heutigen Deutschland - anders als 1957 - mehr als 35 Prozent der Kinder nichtehelich geboren werden, beinhaltet das Ehegattensplitting eine klare Diskriminierung."
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Europa

Die Briten tun wirklich alles, um die Brexit-Verhandlungen harmonischer zu gestalten! Nun stellt sich heraus, dass Steve Baker, einer von Theresa Mays wichtigsten Brexit-Unterhändlern, vor einem rechten Thinktank gewünscht hat, dass "die EU völlig niedergerissen wird", enthüllt der Independent und belegt es mit einem Video. Außerdem hat Baker die EU als "Hindernis" für den Weltfrieden und unvereinbar mit einer freien Gesellschaft bezeichnet.

Helmut Mayer antwortet in der FAZ auf das etwas seltsame und von weit links argumentierte Anti-Macron-Papier von Pascale Fautrier und Claus Josten, das diese Zeitung neulich brachte (unser Resümee): "Eine nostalgische Linke schreibt sich eine neue gefährliche Rechte, die 'extreme Mitte', herbei. Und sie wählt sich dafür jenen Mann, der es gerade geschafft hat, die tatsächliche extreme Rechte in die Schranken zu weisen."

Das "Zentrum für politische Schönheit" hat in einem Istanbuler Hotel am Gezi-Park einen ferngesteuerten Drucker aufgestellt, der aus einem Fenster Flugblätter auf die Straße spuckte, die zum Widerstand gegen Erdogan aufriefen. In der Berliner Zeitung ist Arno Widmann fasziniert: "Wir müssen davon ausgehen, dass es Tausende Emails gegen Erdogan gibt. Die rufen öffentlich kaum Reaktionen hervor. Der harmlose Drucker, bei dem man nicht einmal weiß, ob auch nur eines seiner Flugblätter auch nur einen einzigen Menschen erreicht hat, außer denjenigen, der zur Polizei ging, hat es immerhin in die türkischen Zeitungen gebracht."

Außerdem: In der Süddeutschen erzählt Annette Stachowski, die für die Europäische Union dolmetscht, von den Tücken ihrer Arbeit.
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Medien

Ziemlich skeptisch kommentiert FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld den Vorschlag des Pro 7-Sat 1-Vorsitzenden Conrad Albert, auch den Privatsendern und anderen Medien etwas von den Fernsehgebühren abzugeben (unsere Resümees): "Umzusetzen ist die Idee, einen Zwangsbeitrag für alle auszuschreiben, nicht. Der Preis, den die Presse dafür zahlte, wäre zu hoch. Sie wäre nicht mehr vom Staat unabhängig."
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Stichwörter: Albert, Conrad

Politik

Shelley Hepworth unterhält sich für die Columbia Journalism Review mit dem Dokumentarfilmer Matthew Heineman, der sich mit einen Film über den Drogenkrieg an der amerikanisch-mexikanischen Grenze einen Namen machte und nun einen Film über die Arbeit der Bürgerjournalisten der Gruppe "Raqqa is Being Slaughtered Silently (RBSS)" (unsere Resümees) vorlegt. Ein Thema dieses Gesprächs ist natürlich die extreme Gewalt, auch in den Videos, die Heineman sichten musste: "Mein Ziel ist es, mein Publikum wirklich in eine Welt zu transportieren, in die sie sonst nicht kämen und sie Menschen treffen zu lassen, die sie sonst nie kennen lernen würden. Ich will sie nach Rakka bringen und sie fühlen lassen, wie das Leben hier ist, und Teil davon ist die fürchterliche Gewalt und Angst, mit der die Bürger leben, und vor allem diese Bürgerjournalisten, die zeigen, was ISIS tut und die sich in extreme  Gefahr bringen, um diese Bilder einzufangen. Diese Gewalt nicht zu zeigen, hieße, ihrem Kampf nicht gerecht zu werden."
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Urheberrecht

Wenig bemerkt wurde bisher, dass das lobbyistische Zagen und Zürnen der FAZ- und Zeit-Verleger über das "Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz" (kurz UrhWissG, unsere Resümees) gefruchtet hat, schreibt Céline Lalé bei irights.info. Das Gesetz sei zwar eigentlich gut gemacht, aber im letzten Moment wurden Zeitungsartikel aus dem nun für Hochschulen einfacher zu benutzenden Material ausgenommen: "Zeitungs- und Zeitschriftenartikel werden nicht mehr von den Schrankenregelungen für Bildung und Forschung erfasst. Das heißt im Klartext: Ein Artikel aus der FAZ über das Gesetz darf beispielsweise nicht von einer Forscherin oder einer Schülerin kopiert werden, die einen Vortrag über 'Desinformation im postfaktischen Zeitalter' halten möchte."

In der NZZ wirft Roland Reuß einem "hysterisch agierenden deutschen Gesetzgeber", "konformistischen Bibliotheken", "immer populistischer auftretenden deutschen Hochschulrektoren", die alle "ein Intelligenzproblem" haben, vor, mit dem neuen Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz Verlage und Autoren enteignet zu haben: "Im Namen einer scheinheiligen Demokratisierung des Wissens wird hier im staatlichen Auftrag der Begriff des Eigentums ausgehöhlt." Es braucht schon ein Intellekt von der Größe Roland Reuß', um zu ignorieren, dass Universitäten und Bibliotheken unter den Fantasiepreisen der Großverlage zusammenbrechen und bald nicht mehr kostenlos vermitteln können, wofür sie selbst so teuer bezahlen sollen.
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Ideen

Kevin Kempke setzt sich beim Merkur mit Michael Kleebergs Frankfurter Poetikvorlesungen auseiander, die bereits zu Distanzierugen des Veranstalters geführt haben - unter anderem weil Kleeberg die angeblich so offene deutsche Flüchtlingspolitik mit einem Wunsch der Deutschen, von Auschwitz erlöst zu werden, in Beziehung setzt. Kleeberg hat versucht zu nuancieren, aber Kempke bleibt dabei, dass seine Argumentation gefährlich sei, weil sie "in ihrer Pathologisierung historischer Auseinandersetzung ('deutsche Neurose') genauso wie in ihrer Kritik an deutscher Erinnerungskultur in großer Nähe zu rechtspopulistischen Positionen steht".
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Internet

Äußerst vage haben sich die Vorschläge von Bundesjustizminister Heiko Maas zur Algorithmen-Kontrolle und Gründung einer "Digitalagentur" angehört, die er übrigens schon mehrfach vorbebracht hätte, meint Patrick Beuth bei Zeit online: "Forscher und Aktivisten, die sich mit dem Thema beschäftigen, freuen sich prinzipiell über die neue Aufmerksamkeit für ihr Anliegen. Aber Matthias Spielkamp von der Initiative Algorithm Watch befürchtet, dass Maas mit seinen vagen Vorschlägen nur Wahlkampf macht. 'Was nicht passieren darf', sagt Spielkamp, 'ist, dass plötzlich 'der Algorithmus' an allem schuld ist.' Denn nicht eine Software diskriminiere, sondern immer das Unternehmen, das sie einsetzt. Und da es bereits ein Antidiskriminierungsgesetz gebe, sehe er nicht, warum das unbedingt ins Digitale übertragen werden müsse. Es würde reichen, das bestehende auch gegen Internetunternehmen durchzusetzen."

Auch Lorena Jaume-Palasí von AlgorithmWatch reagiert skeptisch auf die Pläne von Maas: "Wir werden nicht in erster Linie über digitale Diskriminierung nachdenken müssen. Vielmehr müssen wir uns grundsätzlich über das Konzept der Diskriminierung Gedanken machen."


Alles ist politisch, selbst die Filter auf Instagram, zeigt Wolfgang Ullrich in der Pop-Zeitschrift, wo er eine Serie zu Instagram im Wahlkampf startet. Martin Schulz lässt sich da auf einem Bild in einer Schule mit Schülern zeigen. Das Bild wird im nostalgischen "Nashville"-Filter  gezeigt. Ullrich ist nicht überzeugt: "Statt die Gegenwart sentimental in die Vergangenheit zurückzuversetzen, müsste ein Kanzlerkandidat doch Bilder einer besseren Zukunft heraufbeschwören, die er realisieren will. Oder er müsste zumindest sichtbar machen, wo aktuelle Defizite liegen, müsste zuspitzen und skandalisieren. Was also soll der Hashtag #gerechtigkeit, das Leitthema des SPD-Wahlkampfs, in Verbindung mit einem Foto, das durch den Filter so harmlos und rückwärtsgewandt geworden ist, dass es garantiert niemanden zu irgendeinem Handeln, ja gar zu mehr Engagement und Kampfeswillen motiviert?"
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