9punkt - Die Debattenrundschau

Riskant formuliert in aphoristischer Zuspitzung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2017. Auf Youtube und bei Bild.de ist jetzt die umstrittene Arte-Doku über Antisemitismus zu sehen, die Arte partout nicht zeigen will - wird es rechtliche Probleme geben?  Der Ärger um die Sachbuchbestenliste des NDR ist nicht zu Ende - NDR Kultur setzt die Zusammenarbeit mit der Jury aus. Was für einen Begriff von Religion hat die ARD eigentlich, wenn sie das Nicht-Glauben als eine bloße Unterform des Glaubens darstellt, fragt hpd.de. Libération erzählt, wie der Koalitionspartner von Theresa May über Homosexualität und Abtreibung denkt. Und die NZZ weiß: Die russische Jugend hat Putin satt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.06.2017 finden Sie hier

Medien

Bild.de zeigt die Antisemitismus-Doku "Auserwählt und ausgegrenzt - Der Hass auf Juden in Europa" von Sophie Hafner und Joachim Schröder, die eigentlich von Arte in Auftrag gegeben war und dort aus formalen Gründen storniert wurde, berichtet  Timo Niemeier bei dwdl.de: "Unklar ist, inwiefern Axel Springer nun rechtliche Konsequenzen fürchten muss, die Rechte an dem Film liegen nämlich eigentlich bei Arte. Der WDR wies zuletzt Forderungen zurück, man solle die Doku doch einfach im eigenen Programm zeigen und verwies auf die Rechtelage. Dass Bild.de den Film nun zeigt, ist wohl eher nicht im Sinne der öffentlich-rechtlichen Anstalt." Die Doku ist bis heute Abend bis Mitternacht hier zu sehen. Auch auf Youtube kursiert der Film.

Sozusagen aus Notwehr startet der Humanistische Pressedienst eine "Themenwoche Nicht-Glauben" und reagiert damit auf die gerade laufende Themenwoche "Woran glaubst Du" der ARD. Geradezu grotesk liest sich in der Tat der von hpd.de zitierte Trailer der ARD zur Themenwoche: "Glauben. Ein Wort, unzählige Auslegungen. Viele Menschen glauben an Gott, einige an die Wissenschaft, andere an sich selbst. Manche haben ihren Glauben verloren. Andere haben ihn gefunden. Und selbst, wer an nichts glaubt, glaubt zumindest daran. Glauben hat viele Gesichter."

Zu dem Satz "Viele Menschen glauben an Gott, einige an die Wissenschaft" heißt es bei hpd.de: "Das Glauben an die Existenz eines Gottes unterscheidet sich fundamental von der Annahme, dass die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien zum Gewinnen neuer Erkenntnisse beiträgt. Während es für die Existenz eines behaupteten Gottes keinerlei objektiven Beweis gibt und an dessen Existenz mithin nur geglaubt werden kann, legen Wissenschaftler empirische Beweise für ihre Behauptungen vor. Wer diesen Unterschied nicht versteht, sollte auf jeden Fall die Finger von der Gestaltung einer ARD-Themenwoche zum Thema lassen."
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Kulturmarkt

Heute finden in Berlin die "Buchtage Berlin 2017" statt, in deren Verlauf um 12 Uhr der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels bekannt gegeben wird, annonciert das Börsenblatt. Es droht außerdem "die mit Spannung erwartete Gast­rede von Bundesjustizminister Heiko Maas zum Thema 'Streitkultur und Wissensgesellschaft im digitalen Zeitalter'", und es soll eine "Berliner Erklärung für eine zukunftsweisende europäische Buchpolitik" lanciert werden.
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Ideen

Gestern berichtete Lothar Müller in der SZ über Ärger bei der Sachbuchbestenliste, die der NDR in Kooperation mit der SZ veröffentlicht (unser Resümee). Ein Juror hatte das Buch "Finis Germania" des Historikers Rolf Peter Sieferle aus dem Verlag Antaios auf die Liste geschmuggelt. Heute meldet der NDR auf seiner Seite zur Liste: "NDR Kultur hat die Zusammenarbeit mit der Jury der 'Sachbücher des Monats' bis auf Weiteres ausgesetzt. Mit der Empfehlung von 'Finis Germania' von Rolf Peter Sieferle in der Juni-Liste hat die Jury eine gravierende Fehlentscheidung getroffen, die für NDR Kultur nicht tragbar ist. Nach Einschätzung von NDR Kultur und anderen Kritikern äußert der Autor in seinem Buch rechtslastige Verschwörungstheorien, von denen sich die Redaktion entschieden distanziert."

Per Rundmail informiert der verantwortliche NDR-Redakteur Andreas Wang außerdem: "Der Titel ist durch die Akkumulation von Punkten eines einzelnen Mitgliedes der Jury, Dr. Johannes Saltzwedel, Der Spiegel, auf die Liste gekommen. Da die Nominierungen für die Sachbuchliste ohne Abstimmung untereinander erfolgen, war die Nominierung von 'Finis Germania' den anderen Jurymitgliedern vor Veröffentlichung nicht bekannt. Johannes Saltzwedel hat inzwischen seinen Rücktritt aus der Jury erklärt und eine eigene Meldung veröffentlicht."

Die "eigene Meldung" wird von Spiegel.de als eine Meldung "in eigener Sache" präsentiert. Saltzwedel wird darin zitiert: "Mit der Empfehlung des Buches 'Finis Germania' von Rolf Peter Sieferle habe ich bewusst ein sehr provokantes Buch der Geschichts- und Gegenwartsdeutung zur Diskussion bringen wollen. Sieferles Aufzeichnungen sind die eines final Erbitterten, gewollt riskant formuliert in aphoristischer Zuspitzung."

In der FAZ informiert Hannes Hintermeier über die Affäre.

Außerdem: Christian Geyer fürchtet in der FAZ, dass die Angst vor dem Rechtspopulismus die Diskurse vergiftet und klagt: "die Penetranz und Präsenz dieser Art, aus dem Kleinhalten des Rechtspopulismus eine alles verschlingende, alles abgleichende Weltanschauung zu machen, verstört, hat etwas unglaublich Streberhaftes und Konformistisches".
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Kulturpolitik

In Berlin werden derzeit mehrere Straßen im afrikanischen Viertel im Wedding umbenannt. Der Grund: Die Rolle der Namensgeber während des deutschen Kolonialismus. Nun soll jedoch eine der Straßen ausgerechnet den Namen einer afrikanischen Königin tragen, die selbst mit Sklaven gehandelt hat (mehr hier). In der Berliner Zeitung ärgert sich Christian Seidl über das ganze Verfahren, das die Vorschläge der Anwohner ignoriert: "Um den Skandal auszusprechen: Man wickelt in Berlin das Erbe des Kolonialismus ab, indem man sich der Mittel des Kolonialismus bedient:  Fremdbestimmung, Dünkel, Vermessenheit, Ignoranz. Die Tupinambá  konnten sich damals nicht wehren. Die Menschen im Wedding sollten es tun."

Weiteres: In der Berliner Zeitung erzählt Andreas Förster die Geschichte des von den Nazis verfemten und in der DDR enteigneten Künstlers Albert Schaefer-Ast.
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Politik

Jürgen Gottschlich schildert in der taz die Bredouille, in der sich Tayyip Erdogan seit der Isolierung Katars durch die arabischen Länder befindet. Saudi-Arbien wirft dem Emirat Unterstützung des Islamischen Staatsa vor - eine fadenscheinige Brügründung: "Schon eher geht es um die katarische Unterstützung der von den Saudis ebenfalls als Terroristen angesehenen Muslimbrüder. Das ist zugleich einer der Gründe, warum Erdogan sich so vehement für Katar einsetzt. Denn die auf etliche Länder des Nahen Ostens verteilte Muslimbrüderschaft wird nicht nur von Katar, sondern auch von Erdogan protegiert - deshalb pflegt die Türkei seit dem Militärputsch gegen den Muslimbruder und ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi keine diplomatischen Beziehungen mehr zu Ägypten. Aus demselben Grund war auch das türkische Verhältnis zu Saudi-Arabien schwer gestört." Ähnlich sieht es Bahman Nirumand auf der Kommentarseite der taz, der allerdings auch das entspannte Verhältnis Katars zum Iran anspricht.
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Europa

Es gibt eine neue türkische Diaspora in Berlin: türkische Journalisten, Künstler und Intellektuelle, die vor den jüngsten Verfolgungen geflohen sind und denen die taz heute ein kleines Dossier widmet. Ali Çelikkan beschreibt, wie sich das Leben im Exil anfühlt: "Anders als die Türken, die früher kamen, sind wir Neuankömmlinge hoch privilegiert, für uns ist es geradezu unerträglich leicht, in Berlin zu leben. So traurig es ist - das verdanken wir der Globalisierung. Es sind die Künstler, Akademiker, Journalisten, die gebildeten Massen, die es rausschaffen. Die Leute, die gerade aus Cihangir nach Berlin kommen, haben viel mehr gemeinsam mit denen, die sie hier treffen, als mit ihren ultrakonservativen Nachbarn."

Theresa May muss um die Unterstützung der Democratic Unionist Party betteln, falls sie mit Mehrheit weiterregieren will, eine  protestantische nodirische Partei, die von dem fundamentalistischen Pastor Iain Paisley gegründet worden war und sich vehement gegen das Karfreitagsabkommen wehrte. Die Partei mag auch keine Homosexuellen, berichtet Libération: "Die aktuelle Parteiführerein Arlene Foster wiederholte noch letztes Jahr, dass sie 'an die Vereinigung von Mann und Frau' glaubt. Gleichermaßen widersetzt sich die DUP der Abtreibung, die in Nordirland verboten ist, es sei denn das Leben der Schwangeren ist in Gefahr."

Es ist etwas ganz Seltsames passiert, wundert sich Paul Taylor bei politico.eu: "Europa ist durch politische Umwälzungen auf den Kopf gestellt. Auf einmal steigt Frankreich nach einem gefährlichen Jahr in der EU  auf und Britannien läuft auf Grund."

Nach Protesten gegen Korruption in rund 200 russischen Städten wurden am russischen Nationalfeiertag hunderte Demonstranten festgenommen, darunter auch Organisator Alexander Nawalny, meldet Zeit online. Auslöser für die Protestwelle, die im März ihren ersten Höhepunkt hatte, war eine fünfzigminütige Videodokumentation über die Sommersitze, Luxusjachten und Auslandssitze des russischen Premierministers Dmitri Medwedew, die Nawalny bei Youtube veröffentlicht hatte. Unter diesem Link ist der Film mit englischen Untertiteln zu sehen:



Diese jungen Russen, die protestieren und dabei langjährige Haftstrafen risikieren, sind keine politischen Revolutionäre, meint in der NZZ der russische Journalist Nikolai Klimeniouk. Laut einer neuen Studie sind sie vielmehr familienorientiert, wertkonservativ und harmoniesüchtig. Das es der russischen Regierung gelingt, diese "ängstlichen Hedonisten" gegen sich aufzubringen, zeigt, wie abgehoben sie inzwischen ist, so Klimeniouk: "Der Staat verlangt bedingungslose Unterwerfung, und die jungen Menschen, die nichts für selbstverständlich halten und keine Autorität ohne weiteres hinnehmen, begreifen nicht, warum sie keine Gedichte auf der Straße lesen oder keine Handyspiele in einer Kirche spielen dürfen und warum sie nicht auf eine Demo gehen können, wenn ihnen danach ist. Wladimir Putin ist jetzt schon fast achtzehn Jahre an der Macht; er selbst, seine Gefolgsleute und sein System sind viel zu uncool, langweilig und unverschämt anmaßend geworden."
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Religion

Um der Radikalisierung vorzubeugen, fordert in der SZ der ehemalige Präsident des BND August Hanning "völlige Transparenz" bei der Finanzierung von Moscheen in Europa: "In den meisten Fällen ist es praktisch unmöglich, die Geldflüsse genau zurück zu verfolgen. Die Spenden von 'reichen Privatleuten', Zuwendungen religiöser Stiftungen und Religionsministerien von Golfstaaten wie Katar verfolgen eine strategisch angelegte Agenda der Missionierungsarbeit in Europa und versuchen den Anschein zu erwecken, als würden sie uns damit einen wertvollen Dienst erweisen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mäzene aus dem Golf exportieren ein intolerantes und rückwärtsgewandtes Wertebild nach Europa, das mit unseren westlichen Vorstellungen und Grundwerten nicht vereinbar ist."

Auch Sara Kan, Gründerin der britischen anti-Extremismus-Organisation Inspire, fordert im Guardian, endlich radikale Prediger zu stoppen: "Begleitet von unseren liberalen Segenswünschen durften extremistische Prediger ungebremst ihren Hass verbreiten. Anjem Choudary hat in den letzten zwanzig Jahren ungehindert hunderte wenn nicht tausende Muslime radikalisiert. Am Ende beeinflusste er mehr als 100 Briten, zu Hause und im Ausland Terrorattacken auszuführen. Wir verteidigten die Meinungsfreiheit von Extremisten im Glauben, Diskussion sei der effektivste Weg, sie zu marginalisieren. Nette Theorie, sie hatte nur ein großes Problem: Außer einer Handvoll Leute trat ihnen niemand entgegen. Und die wurden prompt als 'Islamophobe' etikettiert."
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Internet

Der Publizist Joachim Steinhöfel zitiert in seinem Blog aus dem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags über das von Heiko Maas geplante Netwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das scharf ablehnend ausgefallen ist. Schon vor eine Woche war von dem Gutachten (etwa hier) die Rede, das aber offenbar eigentlich noch einer Schutzfrist unterliegt. Aus dem Wortlaut des Gutachtens: "Kritiker sehen aufgrund der festen - insbesondere kurzen - Löschfristen und die hohe Bußgeldandrohung bis zu 5 Mio. Euro bzw. 50 Mio. Euro)…eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Derartige - in vielen Fällen auch existenzbedrohende - Bußgeldandrohungen erhöhten das Risiko, dass Unternehmen ohne sorgfältige vorherige Prüfung und vor allem in Zweifelsfällen auch legale Inhalte entfernten (sog. 'Overblocking')."
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