9punkt - Die Debattenrundschau

Die Humanität mancher Menschen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2017. Daniel Cohn-Bendit attackiert in der taz Jean-Luc Mélenchon und Didier Eribon, die einer "Neuauflage der These vom Sozialfaschismus" anhingen - die Mélenchon-Anhänger rufen bisher nicht zur Wahl Macrons gegen Le Pen auf. In der New York Times verteidigt der Uni-Funktionär Ulrich Baer die Einschränkung von Redefreheit an amerikanischen Unis zum Schutz der "Schneeflocken".  Und Jimmy Wales gründet laut Niemanlab die Wikitribune - die die Arbeitsweisen der Wikipedia auf ein neues Medium übertragen soll.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.04.2017 finden Sie hier

Europa

Dass Emmanuel Macron bei der französischen Linken eher saure Mienen auslöst, merkt man auch in der Kooperation zwischen der taz und Libération. Die Libération-Autorin Harriet Wolff schreibt: "Auffällig am Wahlabend und auch am Montag: Macron positioniert sich bewusst nicht gegen Marine Le Pen, seine Konkurrentin im zweiten Wahlgang, sondern stets nur für sein Projekt. Das machte seinen Diskurs, seine rund zehnminütige Rede am Sonntag an 'meine lieben Landsleute' seltsam oberflächlich, ja platt."

Immerhin spricht Daniel Cohn-Bendit, der Macron unterstützt hat, diesen Punkt im Interview mit tazler Andreas Fanizadeh deutlich an und attackiert nicht nur Jean-Luc Mélenchon, der bisher trotz Marine Le Pen keine Wahlempfehlung für Macron ausgesprochen hat, sondern auch den Feuilletonliebling Didier Eribon: "In Frankreich kursiert eine Neuauflage der These vom Sozialfaschismus aus den dreißiger Jahren: Der Liberalismus sei der Steigbügelhalter des Kapitalismus und des Faschismus. Das war 1930 unsinnig und ist es heute. Intellektueller Hochmut macht manchmal blind. Wir hören hier nicht Eribons 'Rückkehr nach Reims', sondern eine Rückkehr ins Berlin der 1930er Jahre. Mich entsetzt, wie Linke, die ich gut kenne, leichtfertig Macron denunzieren. Als Banker, als Büttel des Finanzkapitals, oft mit einem gewissen Unterton, Macron hat schließlich drei Jahre bei der Rothschild-Bank gearbeitet." Cohn-Bendit spricht auch französische Diskussionen über die Einführung eines proportionalen Wahlrechts an.

Außerdem: Libération gibt einen Überblick über Tweets von Mélenchon-Anhängern, die unter dem Hashtag #SansMoiLe7Mai erklären, warum ihnen ein faktisches Bündnis mit Le Pen lieber ist als eine Abstimmung pro Macron. In der Berliner Zeitung fordert Götz Aly eine grundlegende Reform der EU mit "klar definierter Selbstverantwortung jedes Mitgliedsstaats".
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Politik

Ganz interessant ist zu lesen, was hinter manchen kaum wahrgenommenen Meldungen steht. In Indonesien habe der "gemäßigte Muslim" Anies Baswedan die Wahl zum Gouverneur der Hauptstadt Djakarta gewonnen, meldeten Süddeutsche und taz, schreibt Marco Stahlhut in der FAZ und erklärt, was es mit der Moderatheit dieses Politikers auf sich hat: "Um Mäßigung war Anies Baswedan auch nicht bemüht, als es bitter nötig gewesen wäre; etwa als im Wahlkampf ihn unterstützende Parteien, Gruppen und Moscheen gegen Christen und chinesischstämmige Indonesier hetzten. Bei Demonstrationen gegen den bis dato amtierenden christlichen Gouverneur Basuki 'Ahok' Tjahaja Purnama, der chinesischer Abstammung ist, waren Schilder mit der Aufschrift 'bunuh kafir', 'bunuh Cina' (Töte den Ungläubigen/ Töte den Chinesen) zu sehen."
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Stichwörter: Indonesien, Islamismus, China

Überwachung

Innenminister Thomas de Maizière will Ausweise nur noch mit aktivierter Funktion zur elektronischen Identifizierung ausgeben (derzeit kann man noch wählen). Außerdem sollen die im Ausweis gespeicherten biometrischen Merkmale automatisch von den Geheimdiensten abgerufen werden können, berichtet Ingo Dachwitz auf netzpolitik. "Da die Nutzung der Biometrie von de Maizière ohnehin forciert wird, besteht die Gefahr, dass durch den vermehrten Abruf und die Auswertung der Lichtbilder und den Abgleich mit Gesichtserkennungssystemen künftig das eigene Gesicht zum digitalen Identifizierungsmerkmal im normalen öffentlichen Raum wird. Der automatisierte Abgleich von Gesichtsbildern, wie er aktuell im Berliner Bahnhof Südkreuz erprobt wird, ist keine technische Spielerei mehr, sondern wird zu einer praktisch nutzbaren Option. Das Gesetz ist damit ein wichtiger Baustein beim Aufbau eines Systems vernetzter Verhaltensscanner, mit denen Menschen im öffentlichen Raum automatisiert erkannt und identifiziert werden sollen."

Bei der gestrigen Anhörung im Bundestag kritisierten Experten wie der Münsteraner Informationsrechtler Bernd Holznagel das geplante Gesetz, berichtet Heise, weil es faktisch eine nationale Biometriedatenbank befördere: "Constanze Kurz vom Chaos Computer Club (CCC) sah die geplante Befugnis ebenfalls gerade im Hinblick darauf, dass die biometrische Gesichtserkennung und Videoüberwachung zunähmen, 'sehr kritisch'. Sie ging mit Holznagel konform, dass sich hintenrum 'Schattendatenbanken bilden werden'."
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Religion

In der NZZ stellt der Islamwissenschafter Abdel-Hakim Ourghi den hiesigen Imamen - radikal oder nicht - ein vernichtendes Zeugnis aus: "Es wird immer eine Religiosität des Erlaubten und des Verwerflichen gepredigt. So entstand mit der Zeit eine ganze Generation 'Halal oder Haram' ('erlaubt oder verwerflich'). Die Grundsätze des Westens gelten als verwerflich, die Lehren des Islam hingegen als zeitlos und für alle Muslime bindend. Alles, was mit dem reinen Islam der Gemeinde des Propheten von 610 bis 661 nicht vereinbar ist, wird als unerlaubte Innovation (Bid'a) betrachtet. Die 'Kultur des Konflikts' ist damit programmiert."

Sehr lesenswert das ausführliche Gespräch des Tagesspiegel mit Hamed Abdel-Samad und Mohanad Khorchide über die  Reformfähigkeit (oder auch nicht) des Islams.
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Gesellschaft

Viele Frauen, kleinkrämerisch und schuldbesessen - so charakterisiert Adrian Daub in der NZZ die Anti-Trump-Bewegung in den USA, die sich vor allem in sozialen Netzwerken organisiere und strikt protestantisch Bürgerpflicht absolviere: "Widerstand im Zeitalter Trump bedeutet zuerst einmal Hausaufgaben machen. Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Amerikaner sich in Facebook-Gruppen und Action-Networks zusammengeschlossen haben. Aber was in diesen geschieht, gleicht sich stark: Man gibt sich reihum Aufgaben auf und listet auf, was man heute schon getan hat. Kongressabgeordnete angerufen? Postkarte an eine islamische Gemeinde gesandt? Spenden an diese oder jene Gruppe geschickt? Jede dieser Gesten potenziert die Gruppe dutzendfach, hundertfach oder in manchen Fällen tausendfach."
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Ideen

Sehr viel retweeted wird ein New York Times-Artikel des Literaturwissenschaftlers und Kanzlers der New York University Ulrich Baer über die Generation Schneeflocke. Als "Snowflakes" werden Studentinnen und Studenten bezeichnet, die sich in ihrem Sosein als Frau/Schwarzer/LGBT-Person et etcetera verletzt fühlen, wenn gewisse nicht genehme Personen auf Uni-Veranstaltungen reden sollen. Baer bringt Verständnis für dieses Verhalten auf und begründet es mit einer nötigen Privilegierung der "Erfahrung" gegenüber dem "Argument". Das extreme Beispiel, das er dafür wählt, sind Holocaust-Opfer, die nicht von Holocaust-Leugnern in eine Lage gebracht werden dürfen, die auf Selbstrechtfertigung hinausläuft. Und darum soll den "Schneeflocken" stattgegeben werden, findet Baer: "Liberale Verfechter der freien Rede bestehen eilends darauf, dass die Ansichten dieser Individuen zunächst angehört werden müssen, bevor man sie zurückweist. Aber das ist nicht der Fall. Universitäten laden Sprecher nicht ein, um anderweitig nicht verfügbare Entdeckungen zu ermöglichen, sondern um dem Publikum Ansichten zu präsentieren, die bereits bekannt sind. Wenn diese Ansichten die Humanität mancher Menschen herabsetzen, dann schränken sie freie Rede als öffentliches Gut ein."
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Internet

(Via turi2) Gerne wird über Trolle im Netz geklagt und die böse Plattform Facebook kritisiert. So gut wie nie erwähnt wird, das die Wikipedia längst Methoden entwickelt hat, die Qualität von Informationen durch Diskussionen unter den Nutzern und Autoren zu überprüfen. Jimmy Wales will nun eine per Crowdsourcing finanzierte Plattform mit professionellen Journalisten und  Fakten checkenden Nutzern gründen, Wikitribune, berichtet Laura Hazard Owen im Niemanlab. Die Überlegung dahinter: "Eine Recherche durch bloßes Crowdsourcing, ohne eine Person, die den Überblick hat und vielleicht etwas bezahlen kann, wird wahrscheinlich ins Nichts führen. Gleichzeitig ist das Vertrauen in Medien gering und Fact checking ist oft mit parteilichen Stellungnahmen verbunden. Was würde also passieren, wenn man professionellen Journalismus mit freiwilligen Fact checkern kombiniert." Mehr bei Wired.
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