9punkt - Die Debattenrundschau

Aufschlussreiche Zwischentöne

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2017. Der Perlentaucher bringt einen Rundblick durch ungarische Medien zur gestern endgültig beschlossenen Schließung der Central European University. Marine Le Pen hat den "radical right gender gap" überwunden, erklärt die Politologin Nonna Mayer in Le Monde: Frauen wählen jetzt genauso oft rechtsradikal wie Männer. Für die FR analysiert Claus Leggewie die Rolle der algerischen Vergangenheit im französischen Wahlkampf.  In der SZ schildert Andrei Soldatov den Niedergang des von Putin einst so gepeppelten Geheimdienstes FSB.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2017 finden Sie hier

Europa

Trotz massiver Proteste und Interventionen prominenter Autoren hat der ungarische Präsident János Ader gestern Abend das Gesetz zur Schließung  der von George Soros gegründeten Central European University unterzeichnet - mehr dazu etwa bei politico.eu. Am Sonntag hatten noch 80.000 Ungarn gegen die Schließung demonstriert, auch in dieser Nacht gingen die Proteste weiter. Perlentaucher-Mitarbeiter Jozsef Berta hat einige Stimmen ungarischer Autoren zu diesem für ein EU-Land beispiellosen Vorgang gesammelt. Unter anderem wandte sich Peter Nadas in einem offenen Brief an Ader: "Selten konnte ein Staatsoberhaupt durch den bloßen Verzicht auf einen Federstrich so viel für jene politische Gemeinschaft tun, deren Einheit er repräsentieren soll." Zu spät! Mehr im Ententeich.

Die taz dokumentiert Doris Akraps, Daniel-Dylan Böhmers und Özlem Topcus Vorwort zu Deniz Yücels Buch "Taksim ist überall", für das er vor seiner Inhaftierung mit vielen Istanbulern gesprochen hat, um herauszufinden, was von den Taksim-Protesten übrig geblieben ist. "Auf den folgenden Seiten beschreibt Deniz Yücel auch, wie die Erzählung von den Aufbrüchen der Vergangenheit selbst Jahrzehnte später Einzelne beflügeln kann, ganze Generationen vielleicht. Selbst wenn die Revolten von damals gescheitert sind, zeigen ihre Geschichten, dass sich selbst unter den abstrusesten Verhältnissen Menschen aus unterschiedlichsten Richtungen kommend begegnen und sich gemeinsam etwas Besseres einfallen lassen können als das, was ist."

Marine Le Pen hat den "radical right gender gap" überwunden, erklärt die Politologin Nonna Mayer im Gespräch mit Nicolas Truong von Le Monde. Seit Marine Le Pen die Leitung des Front national übernommen hat, steht die Partei bei den Frauen genauso gut da wie bei den Männern: "Man kann darin einen 'Marine-Le-Pen'-Effekt sehen: eine Frau, die sich 'Quasi-Feministin' nennt, die in Fragen der Gesellschaftspolitik ein moderneres und weniger extremes Bild abgibt als ihr Vater. Aber die Tendenz spiegelt auch die schlechtere wirtschaftliche Lage von Frauen aus ärmeren Schichten wider, besonders bei Angestellten im Einzelhandel, wo der Durchbruch Marine Le Pens spektakulär ist."

Unterdessen konstatiert Cédric Mathiot in Libération wie viele seiner Kollegen in anderen Medien den Aufstieg des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon in den Umfragen, der schlimmstenfalls zu einer Konstellation Le Pen versus Mélenchon in der zweiten Runde führen könnte.

In einer Reportage für Zeit online schildert Lea Frehse die Bedingungen syrischer Flüchtlinge in der Türkei, die dort eigentlich - von drei Milliarden EU-Geldern unterstützt - ordentliche Flüchtlingslager, medizinische Grundversorgung und Schulen vorfinden sollten: "'Das Abkommen war von vornherein ein schmutziger Deal', sagt Cem Terzi, Gründer der Asylrechtsorganisation Halkların Köprüsü in Izmir. 'Die EU hat die Türkei als offenes Gefängnis gemietet.' Anfang April, auf den Tag genau ein Jahr nachdem die ersten Abgeschobenen aus Griechenland zurück nach Izmir gebracht wurden, lautet seine Bestandsaufnahme: 'Wir wissen weder, wie viel Geld von der EU an die Türkei geflossen ist, noch in welchen Kanälen es versickert. Wir wissen nur, dass sich die Lebensbedingungen der Flüchtlinge hier keinen Deut verbessert haben.'"

Der Geheimdienstexperte Andrei Soldatov erzählt in der SZ die Geschichte von Putins Geheimdienst FSB, dem Nachfolger des KGB, dessen Ehemalige als "neue Aristokratie" eine Zeitlang Putins gesamtes Personal stellten. "Aber  dieses Projekt scheiterte. Die 'neue Aristokratie' fand keine Lösungen für die politischen Herausforderungen, mit denen der Kreml konfrontiert war. Die Antwort des Kreml auf die entscheidenden Aufgaben jener Jahre - von der Reaktion auf die 'bunten Revolutionen' in Georgien und der Ukraine bis zu den Moskauer Massenprotesten - formulierte nicht das Personal in der Lubjanka, in dem berüchtigten FSB-Hauptquartier, sondern Putins politische Spin-Doktoren. Auch brachten die FSB-Denker keine Idee für die russische Zukunft zustande. Tatsächlich erwies sich der FSB politisch erstaunlich ineffektiv."
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Gesellschaft

In der NZZ empfiehlt Claudia Schwartz die Arte-Doku "Europas Muslime" von Hamed Abdel-Samad und Nazan Gökdemir, deren erster Teil heute abend um 20.15 Uhr läuft - "ein beeindruckender Film, weil er dort ansetzt, wo TV-Talks gewöhnlich mit der Feststellung von Ressentiments zur Tagesordnung übergehen. Wobei der Umstand, dass die Fernsehmoderatorin ihren unter Personenschutz stehenden Begleiter aus Sicherheitsgründen bei den Gesprächspartnern nicht ankündigen darf, zu aufschlussreichen Zwischentönen führt. Die jugendlichen Muslime, für die es keine Frage ist, dass sie oder Abdel-Samad Berliner sind, sehen durch dessen Bodyguards die Diskussion schon wieder auf Gewalt verengt, wo sie doch über ihre Zukunft sprechen wollten."
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Stichwörter: Abdel-Samad, Hamed

Ideen

Der Pariser Politologe Gaël Brustier will erstaunlicher Weise so etwas wie eine Rückkehr der Intellektuellen in die politische Arena bemerkt haben und nennt in slate.fr einige Namen, die sich um die Kandidaten Emmanuel Macron, Jean-Luc Mélenchon oder Benoit Hamon scharen. Als Grund für diese angebliche Tendenz sieht Brustier die "Präkarisierung und Deklassierung der am besten ausgebildeten Bevölkerungsgruppen in Europa, die den Intellektuellen eine neue Rolle im Protest und eine potenzielle Fürhungsrolle in der Neudefinition politischer Identitäten gibt. Es ist eine neue Version der einstigen gemeinsamen Front von Arbeitern und Intellektuellen, die zur strategischen Perspektive der Linken wird."

In einem Brief aus Paris analysiert Claus Leggewie für die FR die lastende Präsenz der algerischen Vergangenheit in Frankreich und konstatiert doch: "Das Umdenken hat längst begonnen. Jüngere Historiker um Patrick Boucheron vom Collège de France revidieren gerade das hexagonal beschränkte Weltbild der Nation und stellen ihre (ausdrücklich in den Plural gesetzten) Kulturen in einen globalgeschichtlichen Rahmen. Auch Macron forderte in einem kenntnisreichen Gespräch mit der Zeitschrift L'Histoire seine Landsleute auf, von einem überholten Souveränitätsideal abzulassen und die Widersprüche des 'nationalen Romans' auszuhalten."
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Medien

Das Medienkonsortium, das die "Panama Papers" veröffentlichte, zu dem prominent die SZ gehört, hat einen Pulitzer-Preis gewonnen - wir gratulieren! Der Guardian würdigt auch die Storm Lake Times, eine familienbetriebene Kleinstadtzeitung aus Iowa, die für ihre unnachgiebige Berichterstattung über große Agrarkonzerne ausgezeichnet wurde. Hier die Liste aller Gewinner.
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Stichwörter: Pulitzerpreis, Panama Papers