9punkt - Die Debattenrundschau

Überholende Kausalität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2017. Manfred Flügge prangert im Tagesspiegel die Ignoranz einiger französischer Präsidentschaftskandidaten gegenüber Osteuropa an. Basler Zeitung und New Statesman beleuchten den Antisemitismus in der Labour-Partei. Die taz befasst sich mit der Rolle der katholischen Kirche und Frankreichs beim Völkermord an den Tutsis. Die FAZ erzählt, wie der Fachhochschulprofessor Thomas Royen eines der berühmtesten mathematischen Probleme löste - und niemand hat es gemerkt. Laut Tagesspiegel ist der Direktor des Danziger Weltkriegsmuseums, Pawel Machcewicz, jetzt von den Nationalisten entmachtet worden. Die NZZ feiert gerade noch das von ihm konzipierte neue Museum.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.04.2017 finden Sie hier

Europa

Der Autor und Frankreich-Kenner Manfred Flügge prangert in einem Tagesspiegel-Essay zu den französischen Wahlen unter anderem die frankreichtypische Blindheit einiger Kandidaten für Osteuropa an: "Drei der fünf wichtigsten Kandidaten, allesamt Putin-Freunde, haben kein Problem damit, die Grenzen anderer Länder infrage zu stellen. Man müsse über die Grenzen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion verhandeln, erklärte Jean-Luc Mélenchon in der ersten großen Fernsehdebatte, und Marine Le Pen wie auch François Fillon stimmten ihm zu. Sie wollen einen Weg finden, das Krim-Ukraine-Probleme aus dem Weg zu räumen, ganz im Sinne der russischen Machthaber. Dass sie damit eine gefährliche Debatte eröffnen, scheint ihnen gleichgültig zu sein."

Es ist unter anderem der Antisemitismus, gekoppelt mit willfähriger Blindheit gegenüber dem Islamismus, der die britische Labour-Partei in den Abgrund reißt. Ken Livingstone, Ex-Bürgermeister von London, hat behauptet, Hitler habe den Zionismus unterstützt, bis er verrückt geworden sei und die Juden umbrachte - und hat sich für diesen Satz nicht entschuldigt. Dennoch wurde seine Mitgliedschaft nicht ausgesetzt, sondern nur für zwei Jahre suspendiert. Hansjörg Müller kommentiert in der BAZ: "Wie viele sozialdemokratische Parteien Europas war Labour traditionell immer auch eine jüdische Partei: Emanzipation als gemeinsames Ziel verband Arbeiter und Juden. Das ist nun vorbei. 'Nach diesem Vorfall haben Juden bei Labour nichts mehr verloren. Es ist aus', schreibt Marcus Dysch, der politische Redaktor des Jewish Chronicle, auf Twitter."

Ähnlich schreibt es Richard Ferrer von den Jewish News im New Statesman: "Die Beziehung zwischen Labour und den britischen Juden ist irreparabel geschädigt."
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Geschichte

In Danzig ist am 23. März das Museum des Zweiten Weltkriegs eröffnet worden. Felix Ackermann hat es für die NZZ besucht und ist beeindruckt: "Konsequent stellen die Ausstellungsmacher neben die Ereignisse in Polen solche in Griechenland, in Slowenien und in der Sowjetunion.  .... Das demonstriert eine zentrale Entscheidung des Gründungsdirektors Pawel Machcewicz: Das Museum erzählt die Geschichte des Weltkriegs souverän multiperspektivisch durch das Nebeneinander unterschiedlicher Erfahrungen. Die polnische politische Rechte befürchtet zu Unrecht, dass polnisches Leid und polnischer Widerstand in Danzig nicht sichtbar würden. Auch das Funktionieren des polnischen Untergrundstaates stellt die Ausstellung ausführlich dar. Damit ist die Kritik, das Konzept sei nicht ausreichend Polen-zentriert, kaum nachvollziehbar."

Dennoch hat die polnische Regierung den Gründungsdirektor Pawel Machcewicz jetzt entmachtet, berichtet der Tagesspiegel: "Kulturminister Piotr Glinski ernannte am Donnerstag den Danziger Historiker Karol Nawrocki zum gemeinsamen Leiter der Museen Zweiter Weltkrieg und Westerplatte. Die liberale Opposition und Danzigs Oberbürgermeister Pawel Adamowicz befürchten nun eine Veränderung der Kriegsausstellung hin zur Betonung des nationalen Heldentums. Der bisherige Direktor des vor wenigen Tagen eröffneten Weltkriegsmuseums, Pawel Machcewicz, bleibt den Angaben zufolge formal im Amt, muss jedoch die Vorgaben seines neuen Chefs umsetzen."
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Religion

Papst Franziskus hat die Mitschuld der katholischen Kirche am Völkermord in Ruanda in klaren Worten anerkannt, schreibt François Misser in der taz. Er sprach von Priestern, die sich "der Gewalt hingegeben und ihre Mission verraten haben". Es hat auch Katholiken gegeben, die den Völkermord bekämpften und dafür ihr Leben ließen, betont Misser. "Aber die Existenz dieser Märtyrer unterstreicht eher, dass sie die Ausnahme waren. Und nachdem Tutsi-Rebellen Mitte 1994 den Völkermord beendeten und die Hutu-Staatsmacht floh, half weltweit die katholische Kirche im Einklang mit der europäischen Christdemokratie, Täter außer Landes zu bringen und ihnen Schutz zu gewähren."

Zugleich prangert eine ganze Gruppe prominenter Autoren in einem von der taz dokumentierten Aufruf die Rolle Frankreichs beim Völkermord in Ruanda an, dessen zunächst von François Mitterrand protegierte Hauptverantwortliche oft genug unbehelligt in Frankreich leben: "Es ist höchste Zeit, dass alle beteiligten Länder, an erster Stelle Frankreich, die strafrechtliche Verfolgung, mit Auslieferung nach Ruanda oder Gerichtsverfahren im Land ihres Aufenthalts, von Völkermordtätern und ihren Komplizen ins Zentrum ihrer Strafrechtspolitik stellen."

In der FR plädiert Klaus Staeck dafür, das Neutralitätsgebot der Berliner Verfassung (Art. 29) endlich ernst zu nehmen: "Einen der schönsten Eiertänze in dieser Causa führt der neue Berliner Kultursenator Klaus Lederer von der Linkspartei auf, wenn er einerseits in der taz erklärt, die strikte Trennung von Staat und Religion sei richtig, andererseits jedoch zu Protokoll gibt: 'Wenn die Praxis aber anders aussieht, muss das Gesetz diskutiert und in der Konsequenz auch aufs Neue verhandelt, überarbeitet werden.' Man könnte ein solches Denken auch als überholende Kausalität einstufen. Wird ein Gesetz nur häufig genug durch praktisches Handeln unterlaufen, kann man es auch von der Legislative zur Disposition stellen."

Außerdem: Frederik Schindler schildert in der taz den Fall des religionskritischen Bloggers Mishu Dhar, der nach Bangladesch zurückgeschickt werden soll - trotz der bekannten und straflos bleibenden islamistischen Mordpolitik gegen Kritiker in diesem Land. Und Seyran Ates beschreibt im Interview noch einmal die liberale Moschee, die sie gerade mit anderen - hauptsächlich schweizer - Muslimen gründet: "Wir sind Sunniten, Schiiten und Aleviten, bei uns sind auch alle geschlechtlichen Identitäten willkommen. Es gibt ja viele Schwule und Lesben, die in die Moschee gehen und den Islam verstehen wollen. Die haben bis heute keinen Ort dafür."
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Medien

An fünf Beispielen beschreibt Marc Zitzmann in der NZZ, wie der Front National kritische Journalisten unter Druck setzt und Berichterstattung erschwert. Für Dominique Albertini, Redakteur bei Libération, ist etwa bezeichnend, "dass interne Quellen im FN immer anonym bleiben wollten. 'Wenn es darum geht, ein substanzielles Gespräch zu führen und nicht nur Floskeln wiederzugeben, haben alle Angst, bei der Parteileitung anzuecken. Ein führendes Mitglied des FN sagte mir einmal halb scherzhaft, seine Partei sei 'ein bisschen stalinistisch'. Alles läuft auf Marine Le Pen zu, alles geht von ihr aus. Wer nicht auf ihrer Linie liegt, wird rasch und hart mit Sanktionen belegt.'"
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Wissenschaft

Sibylle Anderl stellt im Feuilleton-Aufmacher der FAZ Thomas Royen vor, einen "Mathematik-Rentner aus dem Taunus", der "die Gaußsche Korrelationsungleichung gefunden hat, ein Problem, an dem sich Mathematiker viele Jahrzehnte lang die Zähne ausgebissen hatten". Den Beweis hat er schon vor drei Jahren geführt. Aber niemand hat es gemerkt: "In Deutschland hatte er mit dem niedrigen Ansehen der Fachhochschulen zu kämpfen. 'Wenn man in Deutschland nicht an einer Universität ist, dann gilt man ja nichts.' Er lacht."
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Stichwörter: Mathematik, Mathematiker

Politik

Nach dem von Donald Trump befohlenen Raketenangriff auf eine syrische Militärbasis als Antwort auf die Giftgasangriffe des Assad-Regimes, staunt Blake Hounshell in politico.eu über Trumps Wendemanöver: "Niemand hatte ausgerechnet von Trump erwartet, das er syrische Kinder rächen würde, die ja nicht mal als Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten kommen dürfen." Bill Powell erläutert in Newsweek: "Trump's strike is far riskier than one would have been under Obama because of the presence of Russian troops and military hardware - including sophisticated anti-aircraft units - in the country."

Die Tendenz zur Vereinfachung ist kein Alleinstellungsmerkmal des Populismus, meint der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit Paul Jandl in der NZZ: "Mir fiele kein Parteiprogramm einer linken, konservativen oder liberalen Partei ein, das die Dinge nicht vereinfacht. Niklas Luhmann hat schon vor Jahrzehnten beschrieben, dass die politische Kommunikation aus Komplexitätsreduktion besteht. Alle politischen Botschaften stellen Vereinfachungen dar." Die von Trump an der Grenze zu Mexiko geplante Mauer löse beispielweise nicht das Flüchtlingsproblem, "aber wenn alle Flüchtlinge in ein Land kommen können, löst das auch nicht unbedingt alle Probleme. War denn Angela Merkels Politik der offenen Grenzen im Sommer 2015 überkomplex?"
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Internet

Angesichts von Fake News, die selbst Wahlen beeinflussen, plädiert der kanadische Soziologe Philip Howard im Interview mit der SZ dafür, dass die sozialen Netzwerke ihre Algorithmen dem Staat gegenüber offen legen müssen: "Wir müssen darüber diskutieren, wie gute Gesetze für soziale Netzwerke aussehen könnten. Staatlicher Missbrauch muss natürlich verhindert werden. Gerade läuft der Missbrauch allerdings anders: Politische Akteure, die wir nicht komplett verstehen, nutzen soziale Netzwerke, um Allgemeinwissen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung zu beschädigen. Eine weitere Möglichkeit, soziale Netzwerke zu kontrollieren, könnte darin bestehen, ihre Algorithmen einem öffentlichen Audit-Verfahren zu unterwerfen. ... Auditing-Verfahren gibt es auch in anderen Bereichen, wo sie im öffentlichen Interesse liegen: für die Algorithmen von Spielautomaten zum Beispiel oder für die Algorithmen des Finanzhandels."
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Ideen

In der SZ kündigt Johan Schloemann eine Serie zur Globalisierung an. Denn wo einst nach dem Mauerfall Euphorie über das Zusammenwachsen der Welt ausbrach, herrscht jetzt Katerstimmung. Der Nationalismus ist auf dem Vormarsch und was daran jetzt rechts und was links ist, weiß auch niemand mehr. Schloeman skizziert die Fragen, die behandelt werden sollen, so: "Wie konnte es zum Zusammenbruch der internationalen Zusammenarbeit kommen, wie er gerade wieder in Syrien zu sehen ist? Warum werden derzeit die Gefahren der weltweiten Digitalisierung gegenüber den Gewinnen (über)betont? Wie aufhaltsam ist die wirtschaftliche Verflechtung und Dynamik? Was ist eigentlich aus der linken Globalisierungskritik geworden - ist sie etwa komplett nach rechts gewandert? Ist die Idee einer globalen Kultur abseits der kreativen Eliten hinfällig, oder sind die Leute nur ein bisschen diversitätsmüde?"
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