9punkt - Die Debattenrundschau

Das Wort Zukunft kommt überhaupt nicht vor

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2017. Im Standard prangert Sergej Lebedew den russischen Kult der historischen Größe an. Und Swetlana Alexijewitsch  schreibt im Tages-Anzeiger über die "rote Utopie". In der FAZ erinnert Heinrich August Winkler an die Spaltung der SPD vor hundert Jahren. Sueddeutsche.de berichtet über die brutale Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien. In der Welt fragt Ian Buruma die osteuropäischen Länder: Wie steht ihr zu George Soros? In der FAS kritisiert der kurdische Autor Yavuz Ekinci die mangelnde Solidarität der türkischen Intellektuellen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2017 finden Sie hier

Europa

Die Russen sind jederzeit bereit, Freiheit und Demokratie für vermeintliche Größe zu opfern, meint der russische Schriftsteller Sergej Lebedew im Interview mit dem Standard und verweist auf den enormen Popularitätsaufschwung Putins nach der Annexion der Krim: "Die Hauptfundamente unserer Identität liegen in der Vergangenheit. Wir beuten noch immer Symbole wie den Sieg im Zweiten Weltkrieg aus, wir sind alle die großen Söhne der Sieger, wir wollen noch immer etwas vom großen Kuchen des sowjetischen Ruhms haben. Die Geschichtsschreibung im modernen Russland wird auf absolut gleiche Weise zensiert wie in der Sowjetunion. Der letzte Krieg in Tschetschenien vor zehn, fünfzehn Jahren? Nichts, keine Bücher, keine Filme, keine Romane, keine Dokumentationen. Die Sowjets hatten eine Art von zukunftsgerichteter Vorstellung. Heute sind wir komplett rückwärtsgewandt. Die staatlichen Dokumente verteidigen allesamt Traditionen, russische Werte und Moralvorstellungen. Das Wort Zukunft kommt überhaupt nicht vor."

In einem Essay für den TagesAnzeiger schreibt Swetlana Alexijewitsch über die "rote Utopie" der Russen, die so kläglich scheiterte, und über das, was danach kam: "Es gibt in unserem Land mehr Verlierer als Gewinner. Deswegen entsteht das Gefühl einer aufgestauten Aggression. Das Wichtigste ist, wir haben es irgendwie geschafft, das Gute mit dem Bösen zu verwechseln. Wir dachten, wenn man Solschenizyn veröffentlicht, würde das Leben niemals wieder das alte sein. Doch als es dann so weit war, stürzten sich alle - daran vorbei - in etwas anderes, in den Konsum. Das Leben hat alle überwältigt. Vielleicht ist es sogar gut, dass man statt einer Kalaschnikow sich für eine Waschmaschine entschieden hat und dass die Energie dafür draufging. Aber sie war dann weg."

In Tschetschenien sollen mehr als hundert schwule Männer von Polizei und Sicherheitskräften festgenommen, misshandelt und in einzelnen Fällen sogar emordet worden sein, berichtet laut süddeutsche.de die russische Zeitung Nowaja Gaseta. "Demnach sollen Sicherheitskräfte vor allem über soziale Medien wie etwa den Facebook-Klon VKontakte Schwule ausfindig gemacht haben. Sie sollen den Männern vorgetäuscht haben, auf der Suche nach Dates und Bekanntschaften zu sein. Meist geschieht dies aber in geschlossenen Chatgruppen. Homo- und bisexuelle Menschen in Tschetschenien würden niemals auf die Idee kommen, ihre sexuelle Orientierung öffentlich zu machen. 'Das käme einem Todesurteil gleich', schreibt die Journalistin Milaschina."

Im Interview mit Karen Krüger in der FAS kritisiert der kurdische Autor Yavuz Ekinci seine Kollegen aus Istanbul und Ankara: "Als Cizre, Şirnak, Nusaybin, Diyarbakir und Sur, Städte, in denen vor allem Kurden wohnen, 2015 zu Kriegsgebieten gemacht wurden und es furchtbare Übergriffe auf Zivilisten gab, haben die türkischen Intellektuellen kaum reagiert. Sie denken über so vieles nach und reden darüber. Sie sind sehr wortstark, wenn ihnen selbst etwas zustößt. Doch wenn es Kurden betrifft, sind sie eher still. Es gibt dann in der Türkei immer eine einzige große Koalition. Alle sind plötzlich miteinander, und sei es nur, dass sie das Schweigen eint."

In der FR beschreibt Arno Widmann Erdogan als "Produkt der Demokratisierung der Türkei".

Ian Buruma hat in einem Artikel für Project Syndicate, auf Deutsch in der Welt, einen guten Test gefunden, um osteuropäische Länder auf ihre Demokratiefähigkeit zu prüfen: Man müsse "ihre Sicht auf den internationalen Investor und Philanthropen George Soros" betrachten. Viktor Orban, einst Zögling einer von George Soros finanzierten Uni, stellt sich heute gegen ihn und sagt voraus, dass dies auch in anderen Ländern geschehen wird: "Zumindest im Falle einiger Länder liegt Orbán richtig. Der Chef der regierenden Partei in Polen, Jaroslaw Kaczynski, ist der Ansicht, von Soros unterstützte Gruppen strebten 'identitätslose Gesellschaften' an. Liviu Dragnea, Vorsitzender der in Rumänien regierenden Partei, geht noch weiter und sagt, Soros hätte 'das Böse finanziert'. In Wahrheit finanziert Soros in Rumänien Bildungsprogramme, internationale Stipendien und Nichtregierungsorganisationen, die sich der Reinigung der Umwelt widmen."

Der Guardian bringt eine Meldung, die in der britischen Regierung für ungemütliche Stimmung sorgen könnte. Auf die Frage, ob Spanien, das mit Katalonien selbst eine ungebärdige Region hat, eine Aufnahme Schottlands in die EU blockieren würde, sagte der spanische Außenminister Alfonso Dastis: "Nein, das würden wir nicht."

Außerdem: Claus Leggewie liest für die SZ einige neue Bücher über die AfD.
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Kulturmarkt

Bertelsmann verliert den Anschluss an die großen Medienkonzerne, noch mehr aber an die Plattformen Google und Facebook, die den Online-Werbemarkt dominieren, schreibt Till Wäscher bei Carta. Heute steht Bertelsmann als recht traditionelles Haus da. Das war mal anders: "Mit bol.de und Lycos war der Konzern recht früh im Internetgeschäft dabei, verlor jedoch in der Post-Middelhoff-Ära, auch wegen dem steigenden Einfluss von Liz Mohn, weitgehend das Interesse an diesem Feld."
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Stichwörter: Bertelsmann, Medienkonzerne, Liz

Kulturpolitik

Im Tagesspiegel berichtet Eberhard Spreng, wie die Kulturinstitutionen in Frankreich nicht nur von finanziellen Kürzungen bedroht sind, auch ihr Publikum wendet sich ab oder schafft ganz neue Realitäten: "Dominique Pitoiset, der bereits an der Schaubühne inszeniert hat, erlebt dies derzeit bei seiner Frankreichtournee mit Brechts Stück vom 'Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui'. Es gibt, gespenstisch genug, Beifall von der falschen Seite. 'Wir sind in diversen kleinen Provinzstädten auf Tournee, in denen viele die extreme Rechte gewählt haben. Das Publikum hat nichts gegen die Sprüche eines Arturo Ui. Sie werden beklatscht.'"
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Geschichte

Auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ erinnert Heinrich August Winkler an die Spaltung der SPD vor hundert Jahren: "Die Spaltung der SPD war eine schwere Belastung der deutschen Sozialdemokratie und eine Hypothek für die von ihr erstrebte parlamentarische Demokratie. Doch zugleich war sie, so paradox es klingt, noch etwas anderes: die Vorbedingung der ersten deutschen Demokratie, der Republik von Weimar. Ohne die Bereitschaft der gemäßigten Kräfte der Arbeiterschaft und des Bürgertums zur Zusammenarbeit wäre sie nicht zustande gekommen."

Zynisch attackiert der Spiegel den von einem reichen Exil-Ukrainer finanzierten Film "Bittere Ernte" über den Holodomor, den Hungermord an ukrainischen Bauern, schreibt Regina Mönch in der FAZ. Titel des Spiegel-Artikels "Böse Russen, guter Mäzen". Mönch dazu: "Nur gibt es für die Meinung des Spiegels, hier würden 'alle Russen' als Schurken vorgeführt, im Film kein Indiz. Die Marodeure, die aushungern und töten, sind für die Bauern 'Bolschewisten' oder 'Sowjets' - was der historischen Wahrheit entspricht. Auch der Hinweis, ob die Hungersnot von der Sowjetführung ausgelöst wurde, sei unter Historikern umstritten, führt in die Irre. Nur Trolle behaupten das noch, nicht die Wissenschaft, die sich auf offizielle Dokumente stützen kann."

Außerdem: In der NZZ porträtiert Elena Panagiotidis Argyris Sfountouris, der 1944 als Vierjähriger das Massaker deutscher Soldaten in Distomo überlebte.
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