9punkt - Die Debattenrundschau

Das Über-Geheiß des Sozialen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2017. Über 30.000 Menschen sind beim Versuch nach Europa zu kommen in den letzten fünfzehn Jahren im Mittelmeer gestorben, berichtet Linkiesta - und die Zahlen steigen. In der Zeit fordert Lech Walesa mehr Führung von den Deutschen. Die New York Times porträtiert den Publizisten Maajid Nawaz, auf dessen Kritik am Islamismus die amerikanische Linke allergisch reagiert. Nein, der Terrorismus hat nichts mit Religion zu tun, meint dagegen The Intercept. In der Columbia Journalism Review stellen Emily Bell und Taylor Owen ein hundertseitiges Papier über den Einfluss der Plattformen auf den Journalismus vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2017 finden Sie hier

Europa

Deprimierende Statistiken gibt  Marco Sarti in Linkiesta bekannt: "In den letzten fünfzehn Jahren sind über 30.000 Personen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben gekommen. Die Opfer sind zum großen Teil unbekannt. 60 Prozent von ihnen bleiben ohne Namen und ohne Identität. Das ist ein bekannter und doch diffuser Aspekt der dramatischen Immigration nach Europa. Das Phänomen setzt sich ohne Pause fort. Im Jahr 2015 sind 3.771 Personen beim Versuch, nach Europa zu kommen, gestorben. Im folgenden Jahr waren es laut der Internationalen Organisation für Migration 5.022 Personen. Bis März dieses Jahres sind bereits 521 Personen ums Leben gekommen."

Es gibt jetzt Stimmen, die sagen, man solle die Briten nicht für den Brexit "bestrafen", aber das ist Unsinn, meint Salonkolumnist Sebastian Geisler, es geht nicht um Strafe: "Als wäre der Vergleich nicht oft genug bemüht worden: Wer seinem Kegelverein die Mitgliedschaft kündigt, der kann dann auch die Kegelbahn nicht mehr benutzen. Mit Nachtreten hat das nichts zu tun. Schon gar nicht, wenn man seinen Vereinskollegen auch noch mitteilt, man gedenke zwar weiter die Bahn zu nutzen, aber künftig die Regeln des Clubs nicht mehr einzuhalten und außerdem keinen Mitgliedsbeitrag mehr zu zahlen, auch keinen freundschaftlichen Zuschuss in die Vereinskasse."

Manchmal sagt eine Überschrift einfach alles: "May kann uns keine Predigt über Selbstbestimmung halten", schreibt die schottische "Erste Ministerin" Nicola Sturgeon im Guardian.

Im Interview mit der Zeit möchte Lech Walesa künftigen Politikern gern einen Überwachungschip einpflanzen, Polens Verteidigungsminister Antoni Macierewicz zum Arzt schicken und die Deutschen aufrütteln: "Die Deutschen sind in einem komischen Komplex gefangen, aus dem sie nicht mehr herauskommen. Sie haben Angst vor der Füh­rungsrolle. Das hat mit der deutschen Geschichte zu tun. Das behindert jede Tat. Die Deutschen sind zu verhalten. Dabei tragen sie die Verant­wortung, eine Antwort auf die Probleme Euro­pas zu finden. ... Und falls Merkel nicht führen will, dann gebt mir das Zepter in die Hand."
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Politik

Der mexikanische Autor Juan Pablo Villalobos ist im Tagesspiegel einverstanden, dass die Mexikaner die Mauer bauen und bezahlen - aber dann sollen sie auch bestimmen, wie der Bau voran geht: "Wir werden natürlich nur unsere Freunde auffordern, sich an den Ausschreibungen zu beteiligen. Und den allerbesten unserer Freunde werden wir den Zuschlag geben. Die, die die Mauer planen sollen, werden ihre Fristen immer wieder überschreiten, um Jahre. (Sie sind als Architekten bestenfalls mittelmäßig, aber sie sind eben unsere engsten Freunde.) Also wird der Bau erst nach jahrelanger Verzögerung beginnen. Und dann wird es Probleme mit den Baugenehmigungen geben. Und Probleme mit den Lieferanten. Und Streiks der Arbeiter."
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Stichwörter: Villalobos, Juan Pablo

Gesellschaft

Der Brite Maajid Nawaz war ein Islamist und saß als solcher fünf Jahre in einem ägyptischen Gefängnis. Heute warnt er vor dem Islamismus und lässt nicht gelten, dass dieser nichts mit dem Islam zu tun habe. Das hat ihn - zusammen mit Ayaan Hirsi Ali und anderen - auf eine amerikanische linke Liste mit angeblichen Anti-Muslim-Extremisten gebracht, schreibt Thomas Chatterton Williams in einem Porträt Nawaz' für die New York Times. "Ein Begriff, den Nawaz häufig gebraucht, ist der der 'regressiven Linken', da vermeintlich progressive Organisationen wie  das Southern Poverty Law Center in ihrer legitimen Sorge um eine Bestrafung aller Muslime für die Taten einiger weniger eine rückwärtsgewandte Idee des Islams entwickeln. 'Es ist ein orientalistischer Fetisch', sagt Nawaz, 'nur ein zutiefst konservativer Muslim von möglichst mittelalterlichem Aussehen ist ein 'realer' Muslim, und wer den Status quo in Frage stellt, ist ein Verräter.'"

Kein Zufall, dass in einem der Zentralinstitute der amerikanischen Superlinken, in The Intercept, genau die von Nawaz kritisierte These verfochten wird. Nein, Attentäter wie jüngst Adrian Ajao in London, hätten mit dem Islam nichts zu tun, schreibt Mehdi Hasan: "Im letzten Jahrzehnt haben immer mehr Studien die konventionelle und denkfaule Behauptung über die Rolle der Religion im Radikalisierungsprozess widerlegt. In den letzten Jahren habe ich mit einer ganzen Reihe führender Experten gesprochen - dem Anthropologen Scott Atran, dem Psychiater Marc Sageman, der Historikerin Lydia Wilson  - die alle 'Dschihadi'-Terroristen interviewt haben, auf den Schlachtfeldern im Irak und in den Gefängniszellen der USA und alle übereinstimmen, dass Glaube nicht der Hauptantrieb des globalen Terrors sei." Was ist es dann, ein Schnupfen?
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Ideen

Schwer verständlich werden, nichts mitteilen wollen und endlich den "entleerten Diskurs des Sozialen" abschütteln - dann haben Intellektuelle vielleicht wieder was zu sagen, meint Botho Strauß in der Zeit: "Wozu hat es einmal Wittgenstein und Beckett gegeben? Um uns vor der Hegemonie des Sozia­len über Geist und Dasein zu schützen. Oder: gesellschaftsbereinigte Kunst. Rothko, Hitchcock und Jean-Pierre Melville. Um uns vom Sozialen zumindest zu beurlauben. Weshalb ist die Malerei im 20. Jahrhundert abstrakt geworden? Weil sie das Soziale, dem Figürlichen angebunden, nicht mehr ertragen konnte. Das Über-Geheiß des Sozialen abzuschütteln käme heute dem Gottessturz Nietzsches gleich. Es wäre wohl zuvörderst ebenso nur eine laute Proklamation."
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Stichwörter: Strauß, Botho

Wissenschaft

In der NZZ denkt der Astrophysiker Martin Rees über die Möglichkeit eines Multiversums nach. "Die Vorstellung ist atemberaubend, aber sie ist mittlerweile im Mainstream kosmologischen Denkens angekommen: Die physische Realität könnte um ein Vielfaches größer sein als das, was wir bis dato 'das Universum' genannt haben. Unser kosmisches Umfeld könnte reich gewirkt und vielschichtig sein, aber in so gewaltigen Größenordnungen, dass unsere Astronomie nur einen winzigen Bruchteil davon erfasst." Daneben denkt der Physiker und Unternehmer Yuri Milner über die mögliche Kolonisierung des Weltraums nach.

Joachim Müller-Jung stellt in der FAZ ein von liberalen Professoren verfasstes Papier über die "Ethische und rechtliche Beurteilung des genome editing in der Forschung an humanen Zellen" (hier als pdf-Dokument) vor und fürchtet, dass das sehr restriktive deutsche Verbot von Forschung an Embryonen in frühesten Stadien aufgeweicht werden könnte.

Außerdem: In der NZZ beschreibt Bernd Noack die Arbeit mit einer Lochkamera.
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Medien

Die bekannten Medienprofessoren Emily Bell und Taylor Owen stellen in der Columbia Journalism Review einen fast hundertseitigen Forschungsbericht über den Einfluss von Plattformen wie Facebook und Google auf den Journalismus vor. Hier schon mal das Resümee: "Traditionelle Verlegerrollen werden zusehends von Firmen wie Facebook, Snapchat, Google und Twitter übernommen. Diese massive Übernahme zeigt keine Zeichen der Verlangsamung und wirft die Frage auf, wie Journalismus künftig finanziert wird. Diese Unternehmen sind längst über ihre Rolle als Vertriebskanäle hinausgewachsen und kontrollieren heute, was das Publikum sieht, wer für seine Aufmerksamkeit bezahlt wird und sogar, welche Formate und Typen von Journalismus blühen." Der Bericht kann als pdf-Dokument hier heruntergeladen werden.

Die deutsche Medienbürokratie hat jüngst gezeigt, dass nicht mit ihr zu spaßen ist und dass sie sich auch fürs Internet zuständig fühlt. Ein Videokanal bei Youtube, der Livestreams über Spiele anbot, muss eine Rundfunklizenz beantragen. Im Interview mit der FAZ sagt der Medienrechtsexperte Christian Solmecke: "In der Pressemitteilung der Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) der Medienanstalten wird deutlich, dass die ZAK ein Exempel statuieren und künftig konsequenter gegen Live-Streamings vorgehen will. Youtuber und Let's Player wie 'Piet Smiet' sind mit dem Thema Rundfunklizenz bislang vielleicht etwas naiv und fahrlässig umgegangen." Aber hätte nicht eigentlich das ganze Internet zunächst um eine Lizenz nachsuchen sollen?
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