9punkt - Die Debattenrundschau

Blogger ohne journalistische Standards

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2017. Ein Artikel in der Times löst in Schottland und Irland Empörung aus: Darf nur Britannien beanspruchen, eine Nation zu sein? Die NRW-Zeitungsverleger haben die Ursache für Brexit- und Trump-Voten gefunden: Die Adblocker sind schuld. Golem.de ist nicht einverstanden. Die taz feiert zum Frauentag "People of Color, Muslim*innen, Trans*menschen, Reiche, Arme und Geflüchtete".  In der SZ findet die Historikerin Lorraine Daston den Ursprung von Fake News: Es war der Buchdruck.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2017 finden Sie hier

Ideen

Obwohl heute Weltfrauentag ist, macht die taz unter dem Titel "Wir sind viele" eine Beilage über "People of Color, Muslim*innen, Trans*menschen, Reiche, Arme und Geflüchtete", den ganzen Regenbogen also, in dem die Frauen allenfalls eine Farbe darstellen - man wundert sich höchstens, dass "Reiche" dazugehören und dass nicht wenigstens eine Frau in der Grafik mit Kopftuch dargestellt ist.

"Seit einiger Zeit bin ich an der AfD schuld", schreibt die taz-Frauenredakteurin Heide Oestreich in ihrem Debattenbeitrag dazu: "Ich soll ja keine Identitätspolitik mehr machen. Und wenn nun die People of Color kommen und finden, sie würden ebenso 'entnannt', also ignoriert, oder die Trans*menschen fordern eigene Toiletten, und dann noch diese Genderideologen in ihrem Elfenbeinturm, dann halten die alle bitte in Zukunft die Klappe, denn sie ärgern damit den weißen kleinen Mann nur noch mehr, der dann wieder AfD wählen muss. Die Aufzählung macht eines gleich sonnenklar: Menschen, die Diskriminierung abbauen wollen, sollen schweigen. Und leider greifen auch vermeintlich Linke zu dieser Argumentation."

Während die taz Frauen am Frauentag zur Untergruppe erklärt, legt Hengameh Yaghoobifarah in der unvermeidlichen Attacke auf Alice Schwarzer dar: "Alice Schwarzers Zeitschrift Emma gilt für viele Frauen seit 40 Jahren als feministisch. Ein genauerer Blick genügt, um festzustellen, dass sie es eigentlich nicht ist, denn sie steht nur für einen bestimmten Anteil von Frauen."

Immerhin: Christa Wichterich macht in dem Dossier auf die Allianz von  Islam und Christentum aufmerksam: "In den 1990er Jahren waren es vor allem der Vatikan und ein paar islamistische Staaten wie der Sudan und der Iran, die vereint unter dem Banner der Familie gegen Abtreibung und sexuelle Vielfalt zu Felde zogen. Später kamen Irland, Malta, Polen, Russland und Ägypten als konservative Wortführer hinzu, um mit Parolen wie 'Family First' fortschrittliche Positionen der EU bei den Verhandlungen zu blockieren. Sie eint die Ablehnung von Feminismus als 'gemeinschaftszersetzende' Kraft."

In der Stuttgarter Zeitung erklärt die italienische Schriftstellerin Dacia Maraini das Phänomen des Feminicidio, die Tötung von Frauen durch ihren Partner oder Ex-Partner, in Italien: "Sobald die Frau den Wunsch nach Eigenständigkeit äußert, arbeiten will, ­ausgehen will, reisen will, beginnt für diesen Typ Mann die Krise. Er verliert seine Privilegien, die er glaubt als Mann zu haben, das Privileg des Besitzes und das der Dominanz. ...  Wenn wir uns erinnern: Selbst das Gesetz hat noch bis zum ­Ende des letzten Jahrhunderts dieses Besitz-Konzept legitimiert. Das Gesetz zum Ehrenmord wurde erst 1981 abgeschafft. Und bis in die neunziger Jahre konnte eine Frau ins Gefängnis wandern, wenn sie ihren Mann betrog. Andersherum hatte der Mann nichts zu befürchten."

Im Tagesspiegel erinnert Ronja Ringelstein die Frauen, die beim Stichwort Feminismus mit den Augen rollen, daran, wie schnell einst erkämpfte Rechte wieder fallen: "Die Szene vergangene Woche im Europäischen Parlament wirkte wie aus der Zeit gefallen: Der polnische Nationalist und EU-Abgeordnete Janusz Korwin-Mikke sagte bei einer Plenarsitzung: 'Natürlich müssen Frauen weniger verdienen als Männer, denn sie sind schwächer, kleiner und weniger intelligent.' Der Mann ist 74 Jahre alt. Seine Meinung ist heute in der westlichen Welt nicht mehrheitsfähig. Die Frage, die sich dennoch jetzt stellt: Ist er ein übrig gebliebenes Fossil oder der Vorbote einer neuen Zeit?"

Karl Heinz Bohrer legt einen neuen Band seiner Autobiografie vor, in dem er die in Band 1 ausführlich beschriebene Schulzeit offenbar glücklich überwunden hat. Im Gespräch mit Jürgen Kaube von der FAZ erklärt er, wie er sich gegen die marxistischen Versuchungen der 68er-Zeit impfte: "Das Buch von Artur Koestler, 'Sonnenfinsternis', hatte mich zutiefst beeindruckt, und ich machte mir seine politischen Urteile über den Kommunismus zu eigen. Daran änderte auch meine große Bewunderung für den frühen Sartre nichts, den ich geradezu inhalierte. Sartre verwarf Koestlers Beschreibungen als reaktionären Impuls eines ehemaligen Kommunisten. Das hat mich sehr geschmerzt, aber es änderte nichts. Die Anhänger des Marxismus damals sprachen eine Sprache, die mir verdächtig vorkam."
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Kulturpolitik

Plötzlich ist die Farah-Diba-Kunstsammlung in Teheran zu sehen. In der SZ kann Xifan Yang auch nur darüber spekulieren, wie es auf einmal dazu kam: "Im Mai wird im Iran gewählt. Es heißt, Präsident Rohani wollte weiteren Diskussionen um den zuletzt stark politisierten Verleih der Bilder aus dem Weg gehen. Nicht nur Konservative hatten sich gegen das deutsch-iranische Projekt gestellt, auch aus der Künstlerszene in Teheran kam Kritik: Warum sollten Ausländer in Europa die Bilder zuerst sehen dürfen und nicht die Iraner selbst?"
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Medien

Leute, ihr braucht nicht länger zu suchen. Die nordrhein-westfälischen Zeitungsverleger haben den Grund für die Wahl Trumps und den Brexit gefunden: Es lag an den Werbeblockern im Internet, die die Online-Ableger der Zeitungen behindern, schreiben sie in einer Stellungnahme zu diesem Thema für den NRW-Landtag (hier als pdf-Dokument): "Schon heute ist die redaktionelle Qualität von Online-Medien beeinträchtigt, weil Internet-Werbeblocker die Refinanzierung aufwendiger Medieninhalte erschweren oder sogar unmöglich machen... Die Meinungsbildung für die breite Masse erfolgt dann durch Blogger ohne journalistische Standards und soziale Netzwerke. Erste Auswirkungen eines solchen Trends lassen sich in den letzten Wahlen in Großbritannien und den USA besichtigen. Ein barrierefreier Zugang zu Qualitätsmedien im Internet ist für die demokratische Meinungsbildung der Bevölkerung von grundlegender Bedeutung. Die Werbefinanzierung gewährleistet dies."

Aufgespürt wurde diese zwingende Argumentationskette von Friedhelm Greis bei golem.de, der allerdings ein paar Einwände hat: "Schließlich wurde die Brexit-Kampagne auch von traditionellen Medien wie The Sun oder Daily Mail unterstützt. Der US-Wahlkampf wurde wiederum von Fake-News-Medien befeuert, die nur deshalb gestartet wurden, um an Werbeanzeigen zu verdienen. Geradezu hanebüchen erscheint die Vorstellung, dass die Menschen soziale Medien wie Facebook nutzen, weil den etablierten Medien Anzeigeneinnahmen verloren gehen."
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Europa

Westliche Regierungen werden Erdogan keine klare Kante zeigen, meint Timothy Garton Ash in der SZ, dafür sind sie zu angewiesen auf die Türkei. Helfen kann jetzt nur die Zivilgesellschaft: "Es mag depriminierend sein, daran zurückdenken zu müssen, was die westliche Zivilgesellschaft seinerzeit für die Dissidenten in der Sowjetunion getan hat, aber da stehen wir heute mehr oder weniger. Daher sollten Universitäten auf der ganzen Welt sich für Wissenschaftler einsetzen, die sie kennen. Akademien sollten der unabhängen Akademie der Wissenschaften Hilfe anbieten, das gleiche gilt für Thinktanks, Verlage und Theater..."

Ein Artikel der Times-Kolumnistin Melanie Phillips sorgt für Empörung in Schottland und Irland, denen sie unter dem Titel "Britain is the Authentic Nation in this Battle" die Eigenständigkeit abspricht. Zugleich legt sie aber dar, wie schwierig eine Zugehörigkeit zu dieser Nation zu erringen ist: "Die nordirischen Unionisten hassen es, wann man es ihnen sagt, aber sie sind nicht britisch. Sie sind das Stück Land, das an Großbritannien geheftet wurde, um daraus das Vereinigte Königreich zu machen. Heißt das, dass Westminster das Karfreitagsabkommen niederreißen und Nordirland Adieu sagen sollte? Nein, denn es hat den Unionisten gegenüber eine Verpflichtung, und der Anspruch auf eine Vereinigung mit Irland ist schwach, weil Irland insgesamt nur einen geringen  Anspruch auf den Begriff einer Nation hat, da es sich erst im Jahr 1922 als freier irischer Staat abspaltete."

Daniel Mulhall, der irische Botschafter in London, hat gegen diesen Artikel per Twitter protestiert:



Ein Artikel in thejournal.ie fasst die Debatte zusammen.

Auch Schotten fühlen sich von Phillips' Artikel provoziert. Am witzigsten reagiert J.K. Rowlings, die im schottischen Referendum eigentlich das "Nein" unterstützte. Sie tauscht - ebenfalls per Tweet - in Phillips' Artikel einfach ein paar Wörter aus:


In thejournal.ie findet sich auch die Fortsetzung einer anderen irischen Debatte. Die Historikerin Catherine Corless hat der Zeitung eine Liste der Namen zur Verfügung getellt, die in dem katholischen Waisenhaus Tuam anonym verscharrt worden waren (unser Resümee) - Namen von 796 Kindern.
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Internet

Im Interview mit der SZ erinnert Lorraine Daston, Direktorin am MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, daran, dass schon der Buchdruck eine Flut von "Fake News" auslöste. Sie schlägt vor, die EU solle das Internet so regulieren, dass Fake News - na, zumindest kontrolliert werden: "Es wäre sicher besser, wenn die Regulierung international geschähe. Aber die UN können ja nicht einmal das Format der Netzstecker weltweit vereinheitlichen. Die Europäische Union wäre in einer guten Position. Sie hat eine überraschende Vorreiterrolle eingenommen, als es um Big Data und Konsumentenrechte ging. Leider wird jeder Plan zur Regulierung von den Internetideologen bekämpft werden. ... ich sehe keine Alternative. Und die Verschwörungstheorien, dass wir alle von oben herab manipuliert werden, sind doch genau das Ergebnis des unregulierten Internets. Die Gesetzlosigkeit des Netzes wird kaltblütig ausgenützt."
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