9punkt - Die Debattenrundschau

Revolutionäre Versatzstücke

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2017. Aus Videoüberwachung wird Gesichtserkennung, aus Kontrolle Erzwingung von Wohlverhalten, fürchtet Sascha Lobo in Spiegel Online nach Ankündigung neuer Überwachungstechnik in Berlin. Zeit und und Zeit online zeigen, wie die Türkei nun auch in Deutschland Medienpolitik macht: brachial. Auch Emily Bell fordert in der CJR nun Google und Facebook auf, Journalismus zu finanzieren. Die Verharmlosung des Kommunismus befeuert den Rechtspopulismus, füchtet der Tagesspiegel. Die Zeit dagegen lechzt von ihrem gemütlichen Hamburg aus dann doch nach einer etwas prickelnderen Kapitalismuskritik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.02.2017 finden Sie hier

Überwachung

Kaum Aufsehen machte neulich die Meldung, dass in Berlin Videoüberwachung mit Erkennung von Gesichtern und Verhaltensmustern installiert wird (unser Resümee). Hier entsteht ein schleichender Übergang von Überwachung zu Erzwingung von Wohlverhalten, legt Sascha Lobo ziemiich zwingend in seiner Spiegel-Online-Kolumne dar: "Wohlverhalten ist kein feststehendes Konstrukt, sondern entwickelt sich weiter. Was hindert die Kameraüberwacher daran, das in manchen Städten bestehende Alkoholverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln per Videoüberwachung zu kontrollieren? Und demjenigen, der zum dritten Mal mit einer Dose Feierabendbier von einer U-Bahn-Kamera aufgezeichnet wird, Hausverbot auszusprechen? Angenommen, aus Gründen des Klimaschutzes würde die Bahn den Fleischkonsum auf ihrem Gelände untersagen - trauten Sie sich noch, mit einem Würstchen in den Zug zu steigen?" Nein, denn von nun an sind wir das Würstchen.

Weiteres: Und in Zeit online berichtet Christian Bergmann, dass der BND in einem ähnlichen Sinn mit Mitteln der EU Spracherkennungssoftware optimiert. In der taz streiten Terrorexperte Peter Neumann, der Grüne Konstantin von Notz und Verfassungsschutzkenner Thomas Grumke über Maßnahmen, die weitere Attentate verhindern helfen.
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Medien

Die Türkei macht jetzt auch in Deutschland Medienpolitik. Das Recherchebüro Correctiv, das die in Deutschland ansässige, von dem Oppositionellen Can Dündar geleitete Onlineplattform Özgürüz eingerichtet hat, wird von türkischen Nationalisten bedroht, denen die Richtung nicht passt, meldet die Zeit laut turi2: "Die Anfeindungen richteten sich vor allem gegen die türkischen Journalisten der Website Özgürüz. Fünf Redakteure hätten bereits gekündigt, weil ihnen die Arbeit zu gefährlich wurde. Das türkische Staatsfernsehen hatte zuvor über die Exil-Redaktion berichtet."

Die Türkei selbst ist mittlerweile das größte Gefängnis der Welt für Journalisten, schreibt Zia Weise bei Zeit online und schildert Hintergründe zur Inhaftierung des deutsch-türkischen Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, der über geleakte E-Mails des Energieministers Berat Albayrak geschrieben hatte: "Nur wenige türkische Medien trauten sich, darüber zu berichten. Kritische Texte über Erdogan und seine Familie gelten als tabu - der Präsident hat schon mehr als tausend Kritiker wegen 'Beleidigung' verklagt - und Albayrak ist Erdogans Schwiegersohn. Neben Yücel wurde nach acht anderen Journalisten aufgrund von Berichten über die gehackten E-Mails gefahndet; Fünf von ihnen sitzen in Haft."

Gestern appellierte Steven Wladman in der New York Times an Plattformkonzerne wie Facebook und Google, dass sie Gelder für investigativen Journalismus stiften (unser Resümee). Heute setzt Emily Bell in der Columbia Journalism Review nach und packt die Konzerne bei ihren Interessen: "Zuckerberg spricht sich für Lokaljournalismus aus, und die Digital News Initiative von Google tut dasselbe. Das ist zum Teil PR, um Verleger zu beruhigen. Aber es steckt mehr dahinter. Die Kritik an Filterblasen und Fake News hat wirklich getroffen. Es zeichnet sich Regulierung ab, und der moralische Imperativ, das Informations-Ökosystem zu verbessern wiegt schwer für die Plattform-Unternehmen."

In der NZZ fragt sich Angela Schader, wie wir mit den brutalen Bildern aus dem Syrien-Konflikt umgehen sollen: "Können wir sicher sein, nicht einer Art schwarzer Faszination anheimzufallen? Erlaubt der Respekt vor der Menschenwürde der Opfer, ihrer totalen Erniedrigung, ihrer Qual, ihrer Dehumanisierung zumindest mittelbar beizuwohnen?"
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Urheberrecht

Jede zitierte Minute in einem Dokumentarfilm, ja sogar Abbildungen gemeinfreier Werke sind heute durch wütende Rechteinhaber geschützt. Erben verwalten die Werke ihrer Erblasser zu Tode. Das Internet und das Kulturleben sind durch den "Terror der Rechte" gefährdet, meint Perlentaucher Thierry Chervel in seiner Welt-Kolumne. "Viel mehr als durch die viel beraunten Fake News, denn dafür gibt es Korrektive. In den Medien steht aber sehr viel weniger über diese Gefahr zu lesen, denn hier agieren eher die Time Warners als die Googles. Die hehren Reden vom 'geistigen Eigentum' kaschieren nur eine rasend um sich greifende Verdinglichung des Geistigen."
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Ideen

Ingo Arend stellt sich in der taz die Frage, ob die Kultursphäre sich geschlossen "gegen rechts" stellen soll: "Einigkeit und Solidarität der Kultur gegen Angriffe von rechts sind wichtig. Natürlich sollen Theater, Literaturhäuser und Museen Visionen, 'andere Narrative' und eine andere Sprache entwickeln - solche gegen die rechte Umdeutung von Kunst, Geschichte und Kultur. Doch wo anders sollte der Dialog auch mit denen stattfinden, die den Neu- und Altrechten immer noch auf den Leim gehen? Kultur lebt von Offenheit, Neugier und Dialog. Sie schließt die Türen nicht, sondern öffnet sie."
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Europa

Die neuen mehrsprachigen Straßenschilder in Vilnius, die nach Tataren, Karäern, Juden, Deutschen und Ruthenen benannt wurden, sind für Felix Ackermann in der NZZ eine kleine Sensation, denn Multikulturalität ist in Litauen keine Selbstverständlichkeit: "Eine strenge Regulierung des öffentlichen Raums lässt nur in Ausnahmefällen andere Sprachen zu, etwa wenn es sich um einen internationalen Firmennamen handelt. Eine schwedische Bank darf deshalb ihr Logo auf Schwedisch als Leuchtreklame verwenden. Die Bewohner einer mehrheitlich von Polen bewohnten Straße dürfen aber keine zusätzlichen Schilder auf Polnisch anbringen. Selbst die Verwendung von Buchstaben, die offiziell nicht im litauischen Alphabet vorhanden sind, gilt vielen Litauern als Sakrileg."

Außerdem: Die FAZ druckt auf ihrer Medienseite einen - gekürzten - Artikel des Welt-Korrespondenten Deniz Yücel aus dem aktuellen Kursbuch. Thema: Der lange Aufstieg Erdogans. Hier ein Auszug. Und Bülent Mumay gratuliert - ebenfalls in der FAZ - dem verhafteten Yücel zu seinem Mut: "Deniz hat Schweigen nie akzeptiert. Und das, obwohl er neben einem deutschen auch einen türkischen Pass besitzt; er also wusste, dass er in der Türkei unter das türkische Strafgesetzbuch fällt und kritische Fragen und Berichte ein Risiko für ihn bedeuten können."
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Gesellschaft

Die Zeit sucht in drei Artikeln die Schuld am Aufstieg rechter Populisten bei einer Linken, die ihr nicht links genug ist: Für Gero von Randow sind Frankreichs Intellektuelle zu eng mit Macht und Geld verwoben, als dass sie noch echte Kritik leisten könnten, zumal einige unter ihnen "gegen 'Massenabtreibung und Masseneinwanderung', die Globalisierung und 'die 68er-Revolution'" sind und damit in die Nähe Ma­rine Le Pens rückten.

Auch der Schriftsteller Edouard Louis findet im Interview die Linke (darunter Michel Houellebecq und Emmanuel Macron) viel zu rechts: "Der große Soziologe Pierre Bourdieu hat als Erster benannt, dass ein Land in eine alles ansteckende Stimmung geraten kann. Und Macron ist Teil der generellen bürgerlich nationalen Stimmung, in der Xenophobie und Homophobie so normal werden wie Frauenfeindlichkeit und Populismus. In dieser Stimmung braucht ein Michel Houellebecq nur ein grob islamfeindliches Buch zu schreiben, schon steht er damit auf den Titelseiten. Diese Stimmung wird von rechten Ideologen offensiv befeuert. Sie hat alles infiziert."

Und der Dramatur Bernd Stegemann wirft der Linken Heuchelei vor, weil sie keine "Systemkritik des Kapitalismus" leiste und so den Rechten in die Hände spiele: "Auf der Seite der Rechtspopulis­ten besteht das Paradox in der richtigen Behaup­tung, dass liberale Werte und soziale Ungleichheit zu zwei Seiten derselben Medaille geworden sind, und zugleich sind ihre Lösungen, die im Rassisti­schen oder Nationalistischen liegen, absolut falsch. Was es für unsere Zeit bedeutet, dass die größte rebellische Kraft von Rechtspopulisten ausgeht, müsste die Vordenker und Kritiker des Liberalis­mus beunruhigen."

Außerdem: Auf faz.net berichtet Hannah Bethke über den Streit um die geplante Umbenennung der nach Ernst Moritz Arndt benannten Universität Greifswald.
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Geschichte

Wer sich nochmal daran erinnern möchte, wie Systemkritik und Klassenkampf das letzte Mal ausgingen, kann eine Ausstellung über die Russische Revolution 1917 im Landesmuseum Zürich besuchen. Dort lernt Guido Kalberer vom TagesAnzeiger den Schweizer Politiker Fritz Platten kennen, dessen letzte Briefe aus seiner Haft in Sibirien ausliegen. Platten war von der Revolution so begeistert, dass er 1917 in die SU auswanderte, "um am Aufbau der kommunistischen Gesellschaft mitzuhelfen. Um diesen Zweck zu erreichen, war Fritz Platten jedes Mittel recht, selbst der gewaltsame Tod von unschuldigen Menschen. 'Was bedeuten 100 000 Tote im Namen des Proletariats', ruft er 1919 am SP-Parteitag aus, 'wenn damit ein jahrhundertelanges Glück der Proletarier geschaffen werden kann?' Sein Feuer für die bolschewistischen Ideen, welche die ursprünglichen Ideale längst pervertiert hatten, erlosch selbst dann nicht, als er zusammen mit seiner Frau Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde."

"Die mangelnde Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kommunismus erleichtert Populisten nach Einschätzung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur die Verächtlichmachung von Marktwirtschaft und Demokratie", berichtet Hans Monath im Tagesspiegel. Laut Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Stiftung, führe dies einerseits dazu, das im Kommunismus begangene Verbrechen immer weniger erinnert würden. Aber "Auch Rechtspopulisten profitierten davon, dass der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur nur ein Stiefkind sei. Immer häufiger bedienten sich Rechtspopulisten in ihrer Rhetorik revolutionärer 'Versatzstücke', erklärte die Stiftungs-Chefin."
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