9punkt - Die Debattenrundschau

All die Visionäre

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2017. Peter Sloterdijk taucht für die NZZ tief ins neosophistische ZeitalterJulian Barnes denkt in der Welt über die Dehnbarkeit des Wahrheitsbegriffs schon zu Schostakowitschs Zeiten nach. Die SZ lernt den Kulturbegriff von Algorithmen kennen. Die Zeit verstrickt sich in den Widersprüchen Facebooks.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.02.2017 finden Sie hier

Ideen

Die Neuzeit ist das Zeitalter der Sophisten, der Berater und Konsultanten, erklärt Peter Sloterdijk in einem langen Essay in der NZZ. Das setzt voraus, dass der Beratende selbst immer mehr zum Mann ohne Eigenschaften wird: "Im Zeitalter der Entdeckung der Welt und des Menschen wird der Mensch vor allem als 'das zu beratende Wesen' entdeckt - mithin als das Wesen, dessen Eigenforschungskompetenz niemals ausreichen könnte, um sich im Horizont des entgrenzten Wissens zureichend zu orientieren. Er ist somit das von Grund auf exzentrische Wesen - nicht im Sinne Plessners, nach welchem wir durch Reflexion neben uns stehen und uns selbst wie Schauspielern zuschauen, sondern im Sinne der konstitutiven Konsultation, wonach jeder Handelnde exzentrisch auf seine Sophisten bezogen ist. Kraft dieser neosophistischen Wende entsteht ein neues anthropologisches Dispositiv, für das ich oben bereits den Ausdruck 'Bipolarismus der Leistungsrollen' vorgeschlagen habe. In dem Maß wie dieser förmlich ausgearbeitet wird, tritt die Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen unter Performanzdruck immer offener zutage."

Andrian Kreye besucht für die SZ das Google Cultural Institute in Paris und lernt den Kulturbegriff von Algorithmen kennen: "Der stammt, wie so vieles im Wertekanon der digitalen Kultur, aus der Zeit der psychedelischen Experimente. Seit einiger Zeit schon wird er von der sogenannten Netzgemeinde mit dem Titel des ersten Kapitels von 'Alice im Wunderland' beschrieben: 'Down the rabbit hole'. Hinunter in den Kaninchenbau. Die Hippies bezeichneten damit ihre Drogenerlebnisse, bei denen Chemie Gedankenströme in das Flussdelta des Geistes katapultierte, in dem man sich leicht verirren, aber auch auf immer neue Überraschungen stoßen konnte."

Der britische Autor Julian Barnes hat einen Roman über Schostakowitsch geschrieben. Zu dessen Zeiten war der Wahrheitsbegriff auch schon ziemlich dehnbar, was den Roman sehr aktuell macht, wie er im Interview mit der Welt erklärt: "Ich bin inzwischen einigen Lesern begegnet, für die der Roman eine Resonanz in unserer Gegenwart erfährt. Ein Aspekt sind zum Beispiel die Grenzen der Ironie. Schostakowitsch hat sich immer mit Ironie verteidigt, aber was nützt dir Ironie, wenn dein eigener Sohn in der Schule gezwungen wird, dich vor seinen Mitschülern zu denunzieren? Als Donald Trump noch Präsidentschaftskandidat war, hat es Spaß gemacht, sich über ihn lustig zu machen. Aber jetzt, wo er tatsächlich Präsident ist, wirken Spott und Ironie ziemlich schnell wie ein billiger Versuch, der Tatsache zu entkommen, dass Trump über die mächtigste Nation der Erde bestimmt."

Außerdem: In der NZZ denkt der Philosoph Otfried Höffe über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen nach.
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Internet

Christian Meier hat für die Welt Mark Zuckerbergs Manifest gelesen, in dem der Facebook-Gründer seine Vision von einer globalen Community formuliert: "Zuckerberg stemmt sich mit dem gesamten Text gegen die zuletzt dominierende Lesart, dass aus der Utopie des Netzes eine Dystopie geworden ist. All die Visionäre wie Web-Erfinder Sir Tim Berners-Lee oder John Perry Barlow, der die 'Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace' formulierte, wurden von Schwarzsehern wie Jaron Lanier und Evgeny Morozov an den Rand gedrängt. Zuckerberg predigt gewissermaßen das Hohelied der Inklusion. Nicht zufällig zitiert er an einer Stelle einen Geistlichen. Er zitiert auch Abraham Lincoln, der zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges sagte: 'Wir können nur gemeinsam erfolgreich sein.' Und: 'Weil unsere Situation neu ist, müsen wir neu denken, neu handeln.'"

Im Guardian reagiert Anne McElvoy zwiegespalten auf das Facebook-Manifest: "Businessfolk who enter the political arena need to do something that does not come easily. They need to look at themselves and their creations not just as their fans or shareholders see them, but from the viewpoint of what they threaten - and how that can be changed. A striking omission in Zuckerberg's letter is acknowledgment that the dominance of new media tech platforms is a structural threat to smaller publishers - not just niche ones, but players from the BBC to the Guardian, on both sides of the Atlantic. .... Where does public-interest journalism figure in their model and what is their view on how to support it?"

Facebook versucht auch gerade, etwas gegen Terrorwerbung und Hetze in seinem Netzwerk zu tun, droht dabei aber an seinen Widersprüchen zu scheitern, berichtet in der Zeit Eva Wolfangel: "So könnte es sein, dass die Beteiligten den Vorwurf fürchten, hier Nutzer auszuspähen. Schließlich setzt Facebook im Rahmen des Projekts sein Wissen über individuelle User ein. Deren Anfälligkeit für islamistische oder rechtsradikale Inhalte errechnet ein Algorithmus aus den Datenspuren, die bei Interaktionen im Netzwerk hinterlassen wurden. 'Wir haben verschiedene Methoden ausprobiert, um die gleichen Menschen im Netz zu finden, die auch der 'Islamische Staat' findet', erklärt Amanullah das Prinzip - und zwar, bevor sie abtauchen. Wer laut Algorithmus für Hassbotschaften anfällig zu sein scheint, dem wird Gegenrede in seinen Nachrichtenstrom eingeblendet. Etwa Warnungen von IS-Aussteigern oder aktuelle Informationen gegen rechte Hetze. ... Aber ist das nicht Manipulation, wenn die Nutzer glauben, das zu bekommen, was sie gesucht haben, aber genau das Gegenteil erhalten?"
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Politik

Die Presse - und die meisten Menschen - sind immer noch baff von der jüngsten Pressekonferenz Donald Trumps, nur Arno Widmann bleibt in der Berliner Zeitung gelassen: "Donald Trump macht alles richtig. Er beschimpft die Presse. Er beschimpft Richter. Er beschimpft Abkommen, die sein Vorgänger unterzeichnet hat. Er sagt nicht, was Parteistrategen ihm zu sagen empfehlen, sondern er sagt, was ihm durch die Birne geht. Dafür wurde er gewählt. Warum also aufhören damit?"
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Stichwörter: Trump, Donald

Religion

Auf Zeit online erklärt der Islamwissenschaftler Hazim Fouad, wie der Salafismus entstand, der, das würde er gerne festhalten, "nur von einer deutlichen Minderheit" der Muslime vertreten werde: "Vor allem bei den gewaltaffinen Salafisten fällt auf, dass ihre theologischen Kenntnisse oft gegen null tendieren. Ein Großteil der sogenannten Foreign Fighters hat eine kriminelle Vergangenheit und sieht in der Ideologie des IS wahlweise die Möglichkeit, Gewalt mit neuer Legitimation fortzuführen oder sich vermeintlich von seinen bisherigen Sünden reinzuwaschen. Von einer 'Islamisierung von Radikalität' spricht daher der französische Politologe und Islamexperte Olivier Roy statt von der 'Radikalisierung des Islams'."
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Wissenschaft

In der Germanistikdebatte diagnostiziert der Sprachwissenschaftler Helmut Glück in der FAZ eine Entfremdung innerhalb der Germanistik: "Sprach- und Literaturwissenschaft haben sich in ihren Methoden, Theorien und Erkenntnisinteressen so weit voneinander entfernt, dass sich die Fachvertreter gegenseitig für fachfremd halten."
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Geschichte

In der NZZ macht sich Joachim Güntner mit Blick auf die Lufthansa-Maschine "Landshut", den Bus des Berliner Attentäters Anis Amri und die drei hockkant stehenden Busse vor der Dresdner Frauenkirche Gedanken über die Erinnerungskultur der Deutschen. Macht es einen Unterschied, dass es in zwei Fällen um Geschichte und in einem um Kunst geht? "Einmal angenommen, die 'Landshut' würde im Herbst erst komplett gezeigt und danach ausgeschlachtet, weil Museen wie das Bonner Haus der Geschichte ohnehin nur Platz für ein Teil hätten, etwa für eines der ausgehängten Fenster, durch die 1977 die GSG 9 stürmte. Dann wäre, wenn dies Fenster seinen Platz in einer Ausstellung gefunden hätte, sehr viel mit ihm geschehen, und wir würden es dennoch 'authentisch' nennen. Schon seltsam."

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Medien

In der Türkei ist der Welt-Korrespondent Deniz Yücel verhaftet worden, meldet seine Zeitung. Laut seinen Anwälten werde gegen ihn wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, wegen Terrorpropaganda und wegen Datenmissbrauchs ermittelt. In anderen Ländern nennt man das schlicht Journalismus: "Yücel hatte zwei Artikel über gehackte Mails geschrieben, die vom Konto von Energieminister Berat Albayrak stammen sollen - der zugleich Erdogans Schwiegersohn ist. Gehackt haben will das Mailkonto eine Gruppe namens Redhack, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. Yücels Artikel befassten sich nicht mit Albayraks Privatleben, sondern mit Politik. Und der Journalist hatte sich nicht selber Zugang zu den Mails verschafft: Im ersten Artikel im Oktober zitierte er regierungskritische türkische Medien, die darüber schrieben. Im zweiten Bericht vom Dezember berief er sich auf Wikileaks. Die Organisation hatte die gesammelten Mails zuvor online gestellt."
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Stichwörter: Türkei, Yücel, Deniz