9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Käfig, in dem ständig das Licht brennt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2017. Slate hat die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten Mike Pence über Abtreibung gehört und stellt einen mörderischen Unterschied zwischen Diskurs und Utopie fest. Die FAZ macht sich Sorgen um die katholische Kirche in Deutschland - aber zum Glück keine materiellen. Zeit online sieht Trump als  Ideologen des fossilen Kapitalismus. In der taz beschreibt Deborah Feldman, wie sich ihre Alpträume über Auschwitz veränderten, seit sie in Deutschland lebt. In der NZZ und FAZ spricht Asli Erdogan über ihre Zeit in "Gewahrsam".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.01.2017 finden Sie hier

Politik

Gestern fand in Washington der 44. "March for Life", ein jährliches Treffen von Abtreibungsgegnern, statt, wo eine der Hauptreden vom neuen Vizepräsidenten der USA, Mike Pence gehalten wurde: Sein Herz breche für junge Mütter und ihre ungeborenen Kinder, und er würde ihnen gerne mit Großherzigkeit begegnen, sagte er da. Eine unerträglich rührselige und heuchlerische Rede sei das gewesen, schreibt Mark Joseph Stern bei Slate: "Pence würde also gern Frauen 'begegnen' , die eine Abtreibung wollen, 'wo immer sie sind'? Nun, laut seiner Utopie  müsste das wohl im Gefängnis sein. Da braucht man nur bei Kenlissa Jones nachzufragen, die vom Staat Georgia des Mordes beschuldigt wurde, weil sie sich übers Internet eine Abtreibungspille besorgt hatte. Als die Polizei das entdeckte, steckte sie sie ins Gefängnis - ohne Option, eine Kaution zu stellen. Die Staatsanwälte drohten ihr die Todesstrafe an, obwohl sie die Klage später fallen ließen, weil sie sahen, dass das Gesetz dies wohl nicht erlauben würde. Wenn die Abtreibungsgesetzgebung verändert wird, wäre Georgia frei, Frauen wie Jones zu verfolgen und bestrafen."

Adam Gopnik leistet im New Yorker Abbitte bei George Orwell, dessen "1984" ihn kaum interessiert hatte - bis jetzt: "Was den Blick darauf veränderte, war natürlich Donald Trumps Präsidentschaft. Denn das Erschütterndste an dieser beispiellos bizarren ersten Woche ist, als wie primitiv, atavistisch, ungeniert brutal sich Trumps Version des Autoritarismus erweist. Wir müssen bis zu '1984' zurückgehen, weil wir in Wirklichkeit bis 1948 zurückgehen müssen, um den Geschmack zu spüren."

Daniel Pelletier und Maximilian Probst sehen Donald Trump in einem Essay für Zeit online als einen Ideologen des fossilen Kapitalismus - bis hin in die ästhetischen Verästelungen seines protzigen Geschmacks, den er ganz genau mit zwei weiteren Grupen auf der Welt teilt: den russischen Oligarchen und den Ölscheichs, die im übrigen seine Kunden sind: "Wer wie Trump sagt 'Make America great again!', der schaut zurück in dieses amerikanische Öljahrhundert. Der meint vor allem die Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen das Öl die gesamte Wirtschaft schmierte. Der meint die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre, in denen die boomende Ölindustrie einen Lebensstil förderte, wenn nicht erfand, der auf immer größeren Verbrauch ihres Produktes angewiesen war."
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Religion

Daniel Deckers macht sich im politischen Teil der FAZ Sorgen um die katholische Kirche in Deutschland. Um materielle Sorgen handelt es sich aber nicht: "Misst man den Erfolg der Kirchen in Deutschland an dem Geld, das ihr die Mitglieder zukommen lassen, so könnte er derzeit größer nicht sein. Mehr als elf Milliarden Euro nahmen die 27 katholischen Bistümer und die 20 Gliedkirchen der EKD im Jahr 2015 ein. Obwohl die Zahl der Kirchenaustritte mit zusammen fast 400.000 im Jahr auf historisch hohem Niveau verharrt, dürfte es 2016 noch mehr geworden sein." Leider sind es ja nicht einfach die "Mitglieder", die den Kirchen das Geld zukommen lassen - sondern der Staat knöpft es ihnen ab!
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Ideen

Der britische Evolutionsbiologe Matt Ridley will den Begriff der Evolution in der NZZ auch auf Gesellschaft und Debatte ausdehnen: "Evolution geschieht allenthalben um uns herum. Ich möchte behaupten, dass sie wesentlich weiter verbreitet und wirkungsmächtiger ist, als die meisten von uns vermuten. Sie beschränkt sich nicht auf genetische Systeme, sondern erklärt auch, wie sich praktisch jeder Bereich der menschlichen Kultur wandelt - von den Moralvorstellungen bis zur Technologie, vom Geld bis zur Religion."

Ebenfalls in der heute sehr reichhaltigen NZZ denkt der Historiker Ernst Köhler über Techniken der Seelenvernichtung unter Stalin und Hitler nach. Und (leider nicht online) bespricht der Politologe Jan-Werner Müller (mehr hier) Timothy Garton Ashs Buch "Redefreiheit - Prinzipien für eine vernetzte Welt".
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Europa

Deborah Feldman, die durch ihr Buch über ihre Abkehr von einer orthodox-jüdischen Gemeinde in New York bekannt geworden ist, schreibt in einem lesenswerten taz-Essay über einen Auschwitz-Traum, der sich seit der Kindheit bei ihr immer wiederholte und verwandelte, auch durch ihre Deutschland-Erfahrung: "Mir wurde klar, dass sich in der Opferrolle zu befinden zwar schmerzhaft und beängstigend war, aber emotional relativ klar zu verarbeiten. Sobald ich mir vorstellte, in der Szenerie meines Traums, Deutsche zu sein, verlor ich schlagartig den Trost der moralischen Überlegenheit. Ich konnte nicht erfassen, was es bedeutete, in dieser Rolle das Richtige zu tun. Wenn ich schon Zweifel hegte, dass ich stark genug gewesen wäre, um Auschwitz zu überleben, wie konnte ich dann annehmen, dass ich den Mut gehabt hätte, mein Leben zu riskieren, um das Richtige zu tun?"

Sehr plastisch erzählt  die türkische Autorin Asli Erdogan im Interview mit  Veronika Hartmann in der NZZ über ihre Zeit in Untersuchungshaft - besonders die ersten Tage in "Gewahrsam" waren ein Horror: "Man hat uns Decken gegeben, in denen zuvor mindestens zwanzig Menschen geschlafen hatten. Die waren total verschmutzt. Um nicht auf die Toilette zu müssen, habe ich nichts gegessen. Zwei Frauen hatten einen Nervenzusammenbruch. Eine davon, ein armes Ding, habe ich wie ein Baby im Arm gehalten und getröstet. Sie hat dauernd geweint. Die andere sagte die ganze Zeit, dass sie sich umbringen werde. Sie hat eine Scherbe gefunden und sich die Arme geritzt. Die war ein echtes Nervenbündel. Damit war ich beschäftigt. Die Gewahrsamszelle ist ein Käfig, in dem ständig das Licht brennt. Ein weißer Eisenkäfig, in dem man dauernd eine Kamera vor sich hat."

Auch Karen Krüger hat sich fürs faz.net mit Asli Erdogan unterhalten: "Das Gefängnis zu verlassen ist schwieriger, als ins Gefängnis zu kommen. Draußen zu sein ist ein Schock, die Welt ist auf einmal zu groß."
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