9punkt - Die Debattenrundschau

Wie ein Katzenbaby

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2017. In der SZ erklärt Asli Erdogan, warum sie nach Entlassung aus der Untersuchungshaft eigentlich nur noch eines will: raus aus der Türkei. Im Guardian schildert Tim Wu die Fragmentierung der Öffentlichkeit durch das Internet.  Die SZ beschreibt die Gleichschaltung der ungarischen Medien. In der NZZ sagt der Grazer Philosophieprofessor Peter Strasser eine ungewisse Zukunft voraus. Schuld ist dieses Internet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.01.2017 finden Sie hier

Europa

Thomas de Maizières "Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten" haben die politische Szene letzte Woche aufgescheucht. Sein FAZ-Artikel steht inzwischen online. Der Bundesinnenminister fordert eine Bündelung der Terrorismusbekämpfung und der Ausweisung von Flüchtlingen beim Bund. Sämtliche Länderminister sind seitdem sauer. Heute antwortet Sigmar Gabriel auf einer ganzen Seite ebenfalls in der FAZ und hält die Bundesrepublik nicht in angemessenem Tempo für reformierbar: "Der Bundesinnenminister beantwortet die aktuellen Herausforderungen des Terrorismus letztlich mit der Forderung nach einer großen Föderalismuskommission. Das mag als Haltung eines selbstbewussten Bundespolitikers noch nachvollziehbar sein. Aber jedem ist bewusst, dass auf diesem Wege keine Ergebnisse und Verbesserungen in vertretbarer Frist zu erreichen sind."

Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan ist zwar aus der Untersuchungshaft entlassen worden, steht aber immer noch unter Anklage wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Im Interview mit der SZ will sie nur noch eins: raus aus der Türkei. Das Gefängnis habe sie psychisch in ein Kind verwandelt: "Ich finde mich gerade im Alltag überhaupt nicht zurecht. Ich brauche Hilfe bei jeder Kleinigkeit. Kann mich in der Stadt nicht orientieren, kann nicht mit Geld umgehen. Es strengt mich an, dass ich mich um ein Bankkonto kümmern muss. Um eine Sim-Karte. Ich habe das Passwort meines E-Mail-Zugangs vergessen... Das macht das Gefängnis mit Menschen. Mit mir hat es das gemacht. Sie haben mein inneres Alter auf ungefähr neun gesenkt. Bei der letzten Gerichtsverhandlung hab' ich gezittert wie ein Katzenbaby. All die strengen Gesichter. Ich habe geheult, als es hieß, ich werde freigelassen."
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Überwachung

Die Electronic Frontier Foundation warnt in einer ganzseitigen Anzeige im Wired Magazine die großen Internetfirmen davor, dass ihre gesammelten Daten von Donald Trump benutzt werden könnten, das freie Internet zu untergraben: "Der offene Brief der EFF hebt vier Möglichkeiten vor, wie die Technologie-Community helfen kann: indem sie jede Usernutzung verschlüsselt, indem sie routinemäßig Datenlogs löscht, indem sie jede Anfrage der Regierung öffentlich macht, wenn diese unangemessen User überwachen oder die Meinungsfreiheit beschränken will, indem sie den Kampf für Userrechte in den Gerichten, im Kongress und darüber hinaus unterstützt", heißt es in einer Zusammenfassung auf der Webseite der EFF.

Adrian Daub macht in der NZZ daraus eine reine Aufforderung zum Daten löschen. Er fürchtet jetzt schon Donald Trump die Daten der Konzerne nutzen wird, um "Listen von mexikanischen Einwanderern zu erstellen, von schwarzen Wählern oder von den vielen anderen Gruppen, die die Trumpisten sich zu Feinden erkoren haben".
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Ideen

Der Medienhistoriker Tim Wu legt ein neues Buch über die "Aufmerksamkeitsindustrie" vor, in dem er darlegt, dass viele Medien nur erfunden worden seien, um die Aufmerksamkeit der Nutzer an die Werbeindustrie zu verkaufen - die letzte Phase ist die der totalen Individualisierung im Zeitalter des  Internets und der Smartphones. Aber im Interview mit John Naughton im Guardian erklärt Wu, dass Atomisierung auf individueller Ebene nicht alles ist: "Es ist ein bisschen komplizierter, denke ich, denn das Web diente nicht nur dazu, Individuen, sondern auch Gruppen und Subkulturen herauszuheben. Darum lässt sich eine breitere Fragmentierung nicht nur entlang individueller, sonder auch politischer und kultureller Linien feststellen. Während eine Nation früher aus einer dominierenden Kultur und verschiedenen Subkulturen bestand, gibt es heute kein wirkliches Zentrum mehr, keinen Mainstream, sondern nur mächtige Untergruppen, die totale Loyalität fordern."
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Internet

Der Grazer Philosophieprofessor Peter Strasser warnt in der NZZ vor populistischen "PC-Meuten in moralischer Mission", vor einem "gesichtslosen Mob", "Gesinnungstrupps" und "Hetzmeuten" im Internet: "Man sagt es nicht offen, aber es wird immer offensichtlicher: Alle Anstrengungen der Nachkriegsepoche, die im Menschen allzeit bereitliegenden Hasspotenziale in einen staatsbürgerlichen Diskurs, eine demokratische Streitkultur, einzubinden und zu transformieren, kommen langsam an ihr Ende. Wohin dieser Prozess führen wird, ist ungewiss."

Unternehmen können heutzutage kaum mehr steuern, auf welchen Internetseiten ihre Werbung platziert wird, denn längst ist nicht mehr Content der King, sondern die Werbung folgt den Nutzern, wo immer sie sich befinden. Darum werben etwa honorige Unternehmen auf Breitbart, ohne es zu wissen. Dagegen hat sich jetzt eine Intiative von Nutzern gebildet, schreibt Pagan Kennedy in der New York Times: "Mitte November wurde eine Gruppe namens Sleeping Giants zum Zentrum der neuen Bewegung. Die Giants und ihre Follower haben mit mehr als tausend Unternehmen und Nonprofit-Organisationen kommunziert, deren Anzeigen auf Breitbart erschienen, und etwa 400 von ihnen haben versrprochen, diese Site aus ihren Anzeigenplatzierungen auszuschließen."
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Medien

Cathrin Kahlweit berichtet für die Süddeutsche über den neuesten Stand in der Gleichschaltung ungarischer Medien. Die Redakteure der mir nichts dir nichts geschlossenen oppositionellen Zeitung Népszabadság suchen inzwischen neue Stellen. Und auch die ungarische Regionalpresse wird immer mehr in der Holding eines Vertrauten von Premier Viktor Orban gebündelt. "An Weihnachten wurde die neue Linie jedenfalls schon mal demonstriert: Zwölf Ausgaben erschienen, zentral redigiert, mit demselben Interview von Premier Viktor Orbán. Nur: Ein Scherzbold hatte in der Regionalausgabe Fejér Megyei Hírlap einige Sätze dazugedichtet. Demnach pries Orbán seine Regierung dafür, das Volk oft nach seiner Meinung zu fragen, 'auch wenn die uns gar nicht interessiert'."
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Politik

Die Hackerszene um Wikileaks und Glenn Greenwald fällt durch ein freundliches Verhältnis zu Russland auf. Auch Constanze Kurz will in ihrer neuesten FAZ-Kolumne keinen Beweis für russische Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf erkennen. Und überhaupt: "hat kein böswilliger Russe die Inhalte der geleakten E-Mails der Demokraten-Polit-Manager geschrieben - das waren sie schon selbst. Auch dass FBI-Chef James Comey eine Mitverantwortung daran tragen dürfte, dass Clinton Schiffbruch erlitt, als er durch sein Vorpreschen gegen die Kandidatin im Oktober überraschte, ist wohl kaum 'den Russen' anzulasten."
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