9punkt - Die Debattenrundschau

Dabei bin ich noch nicht mal ein Mädchen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2017. Der Niedergang der sozialen Bewegungen ist der Grund für den Aufstieg des Rechtspopulismus, meint Kenan Malik im Observer. Libération beobachtet die rasante Verbreitung der Hatespeech-Neologismen "Journalope" und "Merdia" in den sozialen Medien.  Wer Begriffe wie "Sonderbehandlung" und "Selektion" benutzt, um die Polizeikontrollen in Köln zu beschreiben, bagatellisiert, was er angeblich bekämpfen will, meint die Jüdische Allgemeine. FAZ.Net schildert, wie der deutsche Ableger von Breitbart versucht, Fake News zu verbreiten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.01.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Was in Deutschland "Lügenpresse" ist, sind in Frankreich die Hatespeech-Neologismen "Journalope" (eine Zusammenfügung von "Journaliste" und "Salope") und "Merdia" (Erklärung nicht nötig). Juliette Deborde verfolgt diese Begriffe für eine Sprachkolumne in Libération - sie wurden bei Twitter seit 2007 sehr sporadisch verwendet und haben sich inzwischen rasant verbreitet: "Heute werden Journalisten sehr häufig mit dieser Art von Beleidigungen beschimpft, die manchmal gar mit Todesdrohungen versetzt werden. 'Es passiert immerzu, es gehört mittlerweile zum Beruf', beobachtet etwa Samuel Laurent, ein Journalist bei Monde.fr, der regelmäßig auf Twitter attackiert wird, wo er hunderttausend Follower hat. 'Man muss nur ein bisschen in den Netzen präsent sein, und dabei bin ich noch nicht mal ein Mädchen', sagt er."
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Stichwörter: Hate Speech, Laurent, Samuel

Ideen

Kenan Malik, ein eher linker Kritiker der EU, erklärt in einem Essay für den Observer (online auf seinem Blog), warum für ihn vor allem der Niedergang von Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen den Niedergang der Demokratie und den Triumph der Rechtspopulisten beförderte: "Der Niedergang dieser Organisationen hat zu einer Machtverschiebung weg von den demokratischen Institutionen, wie nationalen Parlamenten, und hin zu nicht-politischen Institutionen wie internationalen Gerichtshöfen und Zentralbanken geführt. Viele Liberale begrüßen das als eine Absicherung der guten Verwaltung (good governance) und einen Schutz politischer Verfahren vor den Gefahren des demokratischen Prozesses. Auch viele Linke, die nicht mehr in der altmodischen Klassenpolitik verwurzelt sind, begrüßen diese Verschiebung und sehen transnationale Organisationen wie die EU als Schlüsselinstrumente für sozialen Wandel. Große Teile der Öffentlichkeit hingegen haben das Gefühl, dass sie ohne politische Stimme dastehen."

Intellektuelle dominieren den öffentlichen Diskurs nicht mehr. Schuld ist das Internet, meint in der Presse Günther Haller. "Martin Burckhardt hat in einem spannenden Text in der Kulturzeitschrift Lettre vor Kurzem darauf hingewiesen, dass der Bedeutungsverlust des Intellektuellen Begleiterscheinung einer umfassenden historischen Verschiebung, eines 'politischen Wetterwandels', sei. Er vergleicht dieses Verschwinden mit dem Tod des Kanarienvogels, der als Begleiter der Bergleute im Schacht eine gefährliche Ansammlung von Kohlenmonoxiden anzeigt. Heute ist der Primat einzelner Denker durch die 'Weisheit der vielen' abgelöst, wie man in der Aufbruchszeit des Internets euphorisch gesagt hat ... Daraus wurde eine Anhäufung disparater, zufällig versammelter Individuen, eine Cloud mit früher unvorstellbaren Erregungskurven, die durch Social Bots angeheizt werden, die aus hundert aggressiven Kommentaren schnell Tausende wüste Beschimpfungen generieren.
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Medien

In der mal wieder ziemlich hysterischen Debatte um Köln (die sich wiederholt, obwohl sich Köln doch gerade nicht wiederholte) hat der taz-Autor Christoph Herwartz den Vogel abgeschossen. Er nannte die Kontrolle der Nordafrikaner eine "Selektion" und sprach in einem Kommentar von "Sonderbehandlung" - eindeutig aus dem Holocaust besetzte Begriffe. Das ist nicht nur perfide, kommentiert Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen: "Es ist selbstentlarvend. Die politische Korrektheit, die überall Rassismus wittert, führt sich selbst ad absurdum, wenn ausgerechnet der mörderische Höhepunkt des eigenen deutschen Rassismus begrifflich bagatellisiert wird." Den Begriff "Sonderbehandlung" hat die taz online inzwischen zurückgenommen - in der Print-taz hat die Debatte keine Spuren hinterlassen.

Christoph Herwartz wehrt sich in einem Facebook-Posting, in dem er die Kritik Wuligers die "massivste Beleidigung" nennt, die ihm je untergekommen sei: "Ich veröffentliche seit sechs Jahren politische Texte im Internet. Wenn es meine Absicht wäre, hier und da einmal den Holocaust zu bagatellisieren (Wie absurd das klingt!), sollten sich doch weitere Hinweise darauf finden lassen. Oder ein Anruf. Hätte mich Herr Wuliger mit seinen Vorwurf konfrontiert, hätte ich für den entstandenen Eindruck um Entschuldigung gebeten, mir seine Sicht erklären lassen und mit ihm zusammen überlegt, was nun zu tun sei."

Zur immer noch nicht geklärten Frage, warum überhaupt so viele junge Männer aus Nordafrika und anderen Ländern zum Kölner Hauptbahnhof gekommen sind, legt ein Autorenkollektiv auf Zeit online die These vor, es sei reine Neugier gewesen. "Der Sozialwissenschaftler Mimoun Berrissoun sagt, die jungen neu angekommenen Männer seien unter den Einwanderern aus Marokko oder Tunesien eine ungeliebte Randgruppe. 'Deshalb treffen sie sich dann draußen, an einem zentralen Platz in einer großen Stadt, um dort gemeinsam abzuhängen. Und die Domplatte und das Rheinufer in Köln sind solche Plätze.'"

Da trifft das Wort Lügenpresse doch ausnahmsweise mal zu: auf faz.net schildert Jonathan Hackenbroich die irreführende Berichterstattung des rechten Internetportals Breitbart News über Silvester in Dortmund: Dort sollen laut Breitbart durch Islamisten ausgelöste bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht haben - was totaler Blödsinn ist, wie Polizei und Kölner Zeitungen richtig stellten. Weiterverbreitet wurde die Falschmeldung durch die österreichische, der FPÖ nahestehende Internetseite Wochenblick.at, so Hackenbroich weiter: "In den Vereinigten Staaten sind Webseiten wie Breitbart News so erfolgreich, dass man ihnen mit der Frage nach Belegen oder auch dem Gegenbeweis kaum mehr beikommt. Der Begriff 'Fake News' kann dort mittlerweile auch eine abweichende Meinung bezeichnen. Das macht es den Rechtsextremen von der Alt-Right-Bewegung leicht, die Bezeichnung als vermeintliches Bemühen der 'Mainstream-Medien' auszugeben, den Bürgern die Ansichten des Establishments einzutrichtern. Lassen sich für ein Gerücht keine Belege finden, beweist das nach Ansicht der Verschwörungstheoretiker erst recht das Geschick der 'Eliten', die Wahrheit zu verschweigen."
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Kulturpolitik

Auch in der FAZ kommt das geplante neue Bundesarchivgesetz (mehr hier) nicht gut an. Die Historiker Frank Bösch und Eva Schlotheuber fürchten einmal, dass künftig wichtige Akten zu schnell geschreddert werden. Andere Dokumente, etwa von Bundeskanzlern, landen bei Stiftungen. "Der Gesetzentwurf sieht zudem neue Sonderregelungen für die Nachrichtendienste vor. Diese sollen Akten nur dann an das Bundesarchiv übergeben, wenn 'überwiegende Gründe des Nachrichtenzugangs oder schutzwürdige Interessen der bei ihnen beschäftigten Personen einer Abgabe nicht mehr entgegenstehen'. Wann das der Fall ist, entscheiden nach diesem Entwurf die Geheimdienste selbst. Eine zumindest nachträgliche demokratische Kontrolle ihrer Arbeit ist so schwerlich möglich. Die Selbstsicht der Behörde auf die eigene Tätigkeit wird zum Leitmotiv erhoben. Kann oder, besser gesagt, will sich eine Gesellschaft das leisten?"
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