9punkt - Die Debattenrundschau

Rücksicht auf politische Befindlichkeiten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.01.2017. Luther war Antisemit, und er begründete seinen Antisemitismus nicht nur theologisch, meint der Theologe Thomas Kaufmann in der FR. 142 Brandanschläge auf Flüchtlingsheime zählt die taz im Jahr 2016. Die Zeit macht Vorschläge für eine neue Migrationspolitik. Das unabhängige Verlagswesen in Hongkong ist tot, erklärt der Verleger Bao Pu in Spon. Wladimir Putin verdankt seine weltpolitischen Erfolge auch seinen Verharmlosern im Westen, meint die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.01.2017 finden Sie hier

Politik

An eine ewige Wahrheit erinnert Richard Herzinger in der Welt mit Blick auf Putin und seine Verharmloser im Westen: "Autoritäre und totalitäre Führer und Bewegungen waren nie die Verursacher der Krise jener Demokratien, die sie am Ende beseitigten. Wohl aber verstanden sie es, diese so weit zu verschärfen, dass sie für die demokratische Gesellschaft tödlich endete. Erleichtert wurde ihnen dieses Zerstörungswerk stets dadurch, dass die Demokraten ihre Gefährlichkeit unterschätzten."

Die Historikerin Sophie Bessis kritisiert in Libération die Linke in Tunesien und anderen Ländern des Maghreb, die einen angeblich vom Mossad ermordeten tunesischen Islamisten und Hamas-Anhänger zum Märtyrer erklären, während sie zur Bombardierung der Zivilbevölkerung in Aleppo schweigen: "Warum verschweigen diese Herolde der Laizität nach syrischer Art die Tatsache, dass die wichtigsten Unterstützer Baschar al-Assads die Islamische Republik Iran und der libanesische Hisbollah - wörtlich 'Partei Gottes - sind?"
Archiv: Politik

Kulturpolitik

In der SZ kritisiert Rudolf Neumaier das geplante neue Bundesarchivgesetz: "Als Archivar könnte man sich leicht entmündigt fühlen von dem neuen Gesetz. Die Frage nach der Hoheit über Akten, die in laufenden Verwaltungsprozessen nicht mehr gebraucht werden, aber für zeithistorische Forschung relevant sein könnten, beantworten die neuen Regeln tendenziell gegen die Archive - und damit gegen die gebotene Nachprüfbarkeit von Regierungsentscheidungen und Verwaltungshandeln."

In Russland wird die Kunst mehr und mehr vom Staat gegängelt. Vom jüngsten Fall berichtet im Standard Herwig G. Höller: Es geht um das 1992 gegründete Staatliche Zentrum für zeitgenössische Kunst (GZSI) in Moskau, das ursprünglich einmal das russische Centre Pompidou werden sollte. Der Kurator musste gehen, die Leitung hat der Militär und Putin-Apparatschik Sergej Perow übernommen: "Als einen der ersten Schritte verkündete er die Schließung des wichtigsten Ausstellungssaals in Moskau, zudem beschloss er die formale Auflösung des GZSI als eigenständige Rechtsperson. Gleichzeitig scheiterte eine seit langem vom Zentrum geplante Retrospektive polnischer Performancekunst an Perows Einspruch: Der neue Direktor wollte eine historische Arbeit des bekannten Künstlers Jerzy Beres (1930-2012) wegen möglicher 'Verletzung der Gefühle von Gläubigen' nicht zeigen. 'Skandale sorgen nicht dafür, dass zeitgenössische Kunst stärker geliebt wird', begründete er dies in einem Interview."
Archiv: Kulturpolitik

Kulturmarkt

"Das unabhängige Verlagswesen in Hongkong ist tot, ohne die Druckereien und Buchläden steht es auf verlorenem Posten. China hat fast alles unter seiner Kontrolle", erklärt der Verleger Bao Pu im Interview mit Spon. "Viele Druckereien haben Untergesellschaften in China, weil sie Maschinen benötigen, die dort gefertigt werden. Zudem gehören viele Buchläden chinesischen Investoren. Deswegen nehmen sowohl Druckereien als auch Buchläden Rücksicht auf politische Befindlichkeiten. Das nächste Problem ist, dass Hongkongs Buchketten Zugeständnisse machen, um Zugang zum chinesischen Markt zu gewinnen. Und nicht zuletzt filzt der Zoll immer strenger. Früher konnten chinesische Touristen in Hongkong ziemlich bedenkenlos Bücher kaufen und mit nach Hause nehmen. Das geht kaum mehr. Seit 2012 konfisziert alleine der Zoll in Peking bis zu 700.000 chinesische Bücher und Zeitschriften pro Jahr."
Archiv: Kulturmarkt

Geschichte

Luther war ein echter Antisemit - und das nicht nur aus religiösen Gründen, da gibt es für Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann keinen Zweifel, wie er im Interview mit dem Tagesspiegel erklärt: "In Luthers Tischreden finden sich Äußerungen wie: 'So wie die Elster das Rauben nicht lassen kann, so kann der Jude nicht davon absehen, Christen umzubringen.' Diese Vorstellungen, die mit biblischen Befunden nichts mehr zu tun haben und von einer geradezu naturhaften Andersartigkeit der Juden ausgehen, sind für mich vormoderne Formen dessen, was dann ab dem späten 18. Jahrhundert rassetheoretisch ausformuliert wurde. Die häufig aufgestellte Behauptung, der rassische Antisemitismus sei etwas völlig Neues, muss meines Erachtens korrigiert werden."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Antisemitismus, Die Räuber

Europa

Die taz zählt 142 Brandanschläge gegen Flüchtlingsheime in Deutschland im Jahr 2016 auf.  Konrad Litschko erläutert im Editorial: "Zu den Festgenommenen listet der BKA-Bericht nur für das erste Halbjahr Zahlen auf. Bis dahin konnten 255 Verdächtige ermittelt werden, 18 davon Frauen. Drei Viertel der Beschuldigten waren unter 30 Jahre alt und 60 Prozent wohnten in dem Ort, in dem sie die Tat begingen. Knapp die Hälfte war der Polizei bis dahin nie aufgefallen. 39 der Verdächtigen kannte der Verfassungsschutz als Rechtsextreme."

Die Zeit hat Jochen Bittners Überlegungen zur Zuwanderung online nachgereicht. Für Bittner ist es vollkommen legitim, dass sich ein Staat seine Zuwanderer aussucht. Ein Problem sei aber, dass der Unterschied zwischen Zuwanderern und Asylbewerbern immer mehr verwische: "Zugespitzt formuliert muss jeder Migrant, der aus einem autoritären Staat kommt, nur behaupten, schwul zu sein, um in Deutschland mindestens geduldet zu werden. Im Jahr 2013 wurden in Deutschland 127.000 Asylanträge gestellt, 81.000 wurden geprüft und 11.000 anerkannt. Abgeschoben wurden aber nur 10.000 Personen. 95.000 blieben als Geduldete im Land. Und genau hier liegt der eigentliche Grund für das bedrohte 'Wir'-Gefühl: Was Asyl ist und was Einwanderung, was Flucht ist und was Migration, ist faktisch kaum noch zu unterscheiden. Derselbe Nordafrikaner, der im Sommer als Erntehelfer nach Italien geht, kann sich im Winter in Deutschland als Asylsuchender melden." Bittner schlägt deshalb vor, dass "Hilfe- wie Einreisegesuche beispielsweise nur noch von deutschen Botschaften im Ausland ausgestellt werden. Oder bei einer strategisch positionierten EU-Behörde außerhalb der EU".

In der Tagesspiegel-Reihe "Europa - mein scHmERZ" schildert Michal Hvorecký die deprimierende Situation der wenigen Flüchtlinge in der Slowakei. Nicol Ljubić erinnert sich, dass sein kroatischer Vater noch fürchtete, an der Grenze erschossen zu werden, als er nach Westeuropa flüchtete. Jagoda Marinić erklärt: "Es ist die Liebe zum Eigenen, die jetzt zählt. In dem Europa, in dem ich aufgewachsen bin, schließt dies die Liebe zum Fremden mit ein." Und Sima Djabar Zadegan wünscht sich, dass auch die Schweiz der EU beitritt: "Vielfalt und Zusammenwachsen sind schon längst Realität, also lasst uns dafür sorgen, dass es gut wird. Wer zweifelt, kann sich selbst davon in den 26 Kantonen mit vier Landessprachen und Mentalitäten überzeugen. Dieses Geheimnis gebe ich gerne preis."
Archiv: Europa

Urheberrecht

Einen seltsamen Vorschlag zur Regelung von Urheberrechtsfragen bei Youtube und Co. machen die Professoren Matthias Leistner und Axel Metzger in der FAZ. Nutzer sollen demgemäß zwar Inhalte freischalten dürfen - aber "ganze Spielfilme, Serienfolgen oder komplette Musikwerke sollten ausgenommen bleiben". Wo genau sie die Grenze sehen, erklären die Professoren nicht.
Archiv: Urheberrecht
Stichwörter: Urheberrecht

Gesellschaft

Schwarzen bleibt gar nichts anderes übrig, als sich als Opfer zu definieren, meint Hülya Gürler in der taz zum Thema "kulturelle Aneignung" (heute unter dem Stichwort "Blackfacing") und an die Adresse von Kritikern, die linke Identitätspolitik ablehnen: "Angesichts eines zermürbenden Rassismus in der Gesellschaft sind sie permanent gezwungen, sich als Betroffene beim Namen zu nennen. Zugleich müssen sie diese von Rassisten negativ besetzte Identität positiv füllen - ähnlich wie Schwule und Lesben, die immer noch gegen Homophobie und um ein positives Bild von sich kämpfen müssen. Das Problem hierbei liegt vielmehr bei den weißen Linken selbst, die so etwas vorwerfen: Sie wollen nicht wahrhaben, dass sie als Weiße privilegierte Nutznießer eines strukturellen Rassismus sind." Schließt sich die Autorin da ein, hätte man noch gern gewusst?

Titanic-Chefredakteur Tim Wolff klagt in der FAZ über all die Sicherheitsmaßnahmen, die er nach den Anschlägen gegen Charlie Hebdo erleiden musste, freut sich aber nach Erscheinen der deutschen Ausgabe von Charlie Hebdo, dass nun alle sehen können, "wie unberechtigt und manisch jegliche Aufregung um diese grundfreundliche, redlich bemühte, mit leicht aus der Zeit gefallenen Brachialzeichnungen verzierte Zeitschrift namens Charlie Hebdo war und ist."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Die taz veranstaltet eine Serie zu den Folgen der Digitalisierung. Der zuständige taz-Redakteur Kai Schlieter kann schon mal nichts Gutes an ihr finden: "Die kalifornische Ideologie von heute reicht ans Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Nach dem Horror der NS-Zeit glühte die Angst vor der Barbarei und der Unberechenbarkeit der Masse. Eine Antwort darauf war die Vernetzung von Computern. Und der Aufbau einer globalen Überwachung, die heute durch Regierungen und Konzerne gleichzeitig erfolgt."
Archiv: Internet
Stichwörter: Digitalisierung, Barbarei