9punkt - Die Debattenrundschau

Genaues Hinschauen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2016. Es sind doch ganz einfache Fragen, die jetzt zu stellen sind, schreibt Eva Quistorp im Perlentaucher. Zum Beispiel haben die Opfer des Berliner Massakers ein Recht zu erfahren, warum der Breitscheidplatz nicht besser geschützt war. In Zeit online diagnostiziert Kersten Augustin eine eigenartige Fühllosigkeit an sich. Viel mehr Angst hat er von den "rechten Profiteuren der Terrorangst".  Die FAZ hat einen Trost: Noch mehr Tote als die Religionen haben die Ersatzreligionen produziert.  Trotz allem: Frohe und geruhsame Feiertage wünscht auch das Perlentaucher-Team!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.12.2016 finden Sie hier

Europa

Schon gestern äußerte Stefan Kuzmany in Spiegel online seine seltsame Gefühlskälte angesichts des Berliner Massakers (unser Resümee). Kersten Augustin sieht es nun in Zeit online ähnlich und führt seine emotionale Taubheit darauf zurück, dass er selbst nie zu diesen Spießern auf den Weihnachtsmarkt gehen würde und dass in seiner Neuköllner Hipsterblase nichts passiert ist. Ohnehin hat er viel mehr Angst vor den Reaktionen der "Rechten", obwohl bislang noch kein AfD-Politiker zwölf Menschenleben auf dem Gewissen hat: "Gelassenheit wird aber nicht reichen, um den rechten Profiteuren der Terrorangst etwas entgegen zu halten, das zeigen die Erfahrungen in anderen Ländern... Nach den Anschlägen in Frankreich meinten manche Kommentatoren, in Israel ein Vorbild gefunden zu haben..." Aber auch "die Bevölkerung in Israel ist weit nach rechts gerückt..."  Na, Hauptsache nichts trübt das eigene Weltbild.

Georg Seeßlen steuert in der taz eine degenhardthafte Weihnachtsmarkt- und Deutsche-Spießer-Beschimpfung bei: "Auf dem Weihnachtsmarkt möchte das deutsche Volk unter sich sein, und das ist es immer am liebsten, wenn es jemanden hat, dem man unterstellen kann, dass er es einem missgönne."

Sehr viel konkreter geht Eva Quistorp die Frage im Perlentaucher an, die daran erinnert, dass Weihnachtsmärkte schon seit längerem im Visier der islamistischen Terroristen stehen: "Ich stelle die einfache Frage: wieso hat man das Stück der Kantstraße nicht gesperrt und spätestens nach Nizza da einige Betonpoller aufgestellt? So einfach dürfen wir es uns angesichts der Toten und Verletzten nicht machen, rumzuplappern über die offene Gesellschaft und dass das angeblich immer und angeblich überall passieren könne. Weder diese Beruhigungs- und Verschleierungsfloskeln noch allgemeiner Verdacht gegen Flüchtlinge oder Hetze gegen sie sind angesagt. Sondern genaues Hinschauen... Die Opfer haben nicht nur ein Recht auf Mitgefühl und Hilfe zur Genesung, sondern auch auf die Wahrheit, dass sie nicht richtig geschützt wurden."

Richard Herzinger schreibt in der Welt: "Eine Rhetorik und Tonlage der Beschwichtigung und emotionalen Ruhigstellung der Bevölkerung bestimmt auch das Auftreten der Spitzen von Politik und Staat - als ob sie eine mögliche Aufheizung der öffentlichen Stimmung mehr fürchteten als die Gewalt der Terroristen selbst."

Pünktlich zum Weihnachtsfest und trotz dieses religiös motivierten Massakers hat Daniel Deckers in der FAZ tröstliche Erkenntnisse parat: "Auch das lehrt das lange 20. Jahrhundert: Eine Welt ohne Religion wäre anders, aber nicht besser. Gegen die Leichenberge, die den Weg des Kommunismus in die klassenlose Gesellschaft säumen, gegen Völkermord im Namen von Rasse und Lebensraum verblassen auch die Kapitel der Religionsgeschichte, die mit Blut geschrieben sind." Es sei denn, man zählt sie hinzu.

Auch im Feuilleton der FAZ erhofft man sich termingerecht Antworten von der Religion. Jürgen Kaube und Hannes Hintermeier lassen Pfarrerin Angela Rinn und Kapuzinerbruder Christophorus Goedereis über die Lage diskutieren: Beide sind sich einig, dass keine Weihnachspredigt ohne das Attentat auskommen wird. Außerdem: Andrian Kreye freut sich in der SZ, dass in den sozialen Medien recht moderat auf den Anschlag reagiert wurde.
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Ideen

Der Sinologe  Heiner Roetz plädiert in der FR gegen die Akademisierung und vor allem Europäisierung des "Fachs" Philosophie - man war schon mal weiter: "Das eindrucksvollste Beispiel dafür, dass die Philosophie immer wieder einmal bereit war, über ihren kulturellen Rand hinauszusehen, liefert die europäische Aufklärung. China war für viele der großen Geister der Epoche wie Leibniz, Wolff, Voltaire, Quesnay, Diderot und die englischen Deisten Gegenstand einer kongenialen Beschäftigung und Konfuzius eine anerkannte Autorität, auf einer Stufe mit Sokrates und den Stoikern. Jesuitische Übersetzer hatten unter dem Titel 'Confucius sinarum philosophus' mit durchschlagendem Erfolg wichtige Texte des antiken Konfuzianismus vorgestellt, nicht ahnend, dass sie damit die Axt an das christliche Meinungsmonopol legten."

In der NZZ liest Uwe Justus Wenzel die Weihnachtsgeschichte als Freiheitsgeschichte: "Die Freiheit, die durch den Menschensohn in die Welt kommt, kommt - auf ihre Weise - mit jedem Neugeborenen erneut zur Welt. Es ist eine Freiheit des Anfangs, des individuellen Anfangenkönnens, die Freiheit, zu handeln und die Welt zu verändern. Es ist zugleich, sonst wäre sie nicht christlich verstanden, die Freiheit von sich selber."
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Gesellschaft

Auch Biobauern spritzen Pflanzenschutzmittel schreibt Johannes Kaufmann bei den Salonkolumnisten: "Ja, auch ein Acker mit Bio-Weizen ist eine Monokultur. Einer Weizengallmücke sind die ideologischen Überzeugungen des Landwirts, der ihr den Tisch deckt, herzlich schnuppe. Daher muss selbstverständlich auch der Bio-Bauer seine Pflanzen vor Schädlingen und Krankheiten schützen - auch mit Spritzmitteln. Die Liste der vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zugelassenen Anwendungen von Pflanzenschutzmitteln im ökologischen Landbau umfasst knapp hundert Din-A4-Seiten."
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Stichwörter: Biolandwirtschaft, Din, Pflanzen

Medien

Jens Twiehaus meldet in turi2: "DuMont will auch am Stammsitz Journalisten loswerden. Kurz vor Heiligabend erhalten Mitarbeiter von Express und Kölner Stadt-Anzeiger die Einladung zum goldenen Handschlag - über die Feiertage sollen sich Redakteure über Abfindung und Altersteilzeit Gedanken machen, erfährt Marvin Schade. Der Verlag nennt es routiniert einen 'mittlerweile herkömmlichen Vorgang'." Der Verlag hat inzwischen korrigieren lassen, dass die Aufforderung nicht "kurz vor Weihnachten" kam, sondern schon seit einiger Zeit im Intranet der Firma stehe. Vor kurzem hat der Verlag die Redaktionen von Berliner Zeitung und Berliner Kurier zusammengelegt. 150 Mitarbeiter müssen sich neu auf nur noch hundert Stellen bewerben.

Ungarn erlebt gerade einen "Höhepunkt des Zeitschriftensterbens. Es trifft jetzt auch die Besten", schreibt Wilhelm Droste in der NZZ. Zugleich senden die großen Radio- und Fernsehsender fast gleichgeschaltet auf Orban-Linie. "Besonders fatal ist ihre Wirkung auf dem Land weit weg von der Hauptstadt Budapest, denn da sind häufig nur sie zu empfangen. Politische Flüchtlinge werden dort systematisch dämonisiert, und diese dämonischen Bilder gelangen in die Dorfkneipen, da werden sie bei Bier und Palinka noch weiter ausgemalt und verschärft. Was hier mit Steuergeldern systematisch betrieben wird, gehört in die unterste Schublade der öffentlichen Vergiftung politischer Kultur."
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