9punkt - Die Debattenrundschau

Die neue Chronologie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2016. Im EU-Parlament soll demnächst über eine "Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union" abgestimmt werden, die vor allem den Interessen von "Rechteinhabern" dienen soll, fürchtet die EU-Parlamentarierin Julia Reda in ihrem Blog. Die Zeit brüstet sich damit, dass Martin Schulz diese Charta zusammen mit Frank Schirrmacher und Giovanni Di Lorenzo erfunden hat. In den Feuilletons wird viel über Mark Lillas Kritik am linken Identitätsdiskurs diskutiert. In der NZZ zeigt Felix Philipp Ingold, wie Russland nicht mehr nur die Aktualität, sondern jetzt auch wieder die Geschichte fälscht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.12.2016 finden Sie hier

Urheberrecht

Seit einigen Tagen wird über eine "Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union" diskutiert, die Martin Schulz angeblich in wenigen Tagen einem Ausschuss des Europaparlaments zur Abstimmung vorlegen will (mehr im faz.net). Bei Zeit online wird ein Text präsentiert, in dem sich auch die Zeit-Stiftung dieser Charta brüstet: "27 Bürgerinnen und Bürger haben in den vergangenen 14 Monaten gemeinsam eine Europäische Charta der digitalen Grundrechte erarbeitet, die heute zum ersten Mal in ganzseitigen Anzeigen in der Zeit, der Süddeutschen Zeitung, der Welt, dem Tagesspiegel und anderen Zeitungen vorgestellt wird." Beim Perlentaucher wurde leider keine Anzeige geschaltet.

Die Initiative zur Charta, so das Zeit-Papier, "geht auch zurück auf Gespräche, die der verstorbene FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher seinerzeit mit dem SPD-Politiker Martin Schulz und Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo führte". Da passt es ja, dass am Montag ein "Symposion im Gedenken an Frank Schirrmacher" geplant ist, bei dem auch der mögliche Kanzlerkandidat Martin Schulz (der in Schirrmachers späten Tagen von der FAZ stark gefeaturet wurde) und Internetkritiker wie Evgeny Morozov sprechen.

Hier ein Ausriss aus der heutigen Anzeige in der SZ mit der Liste der Persönlichkeiten - von Rebecca Casati bis Christoph Keese -, die diese Charta initiieren:



In einem sehr interessanten Blogbeitrag analysiert die EU-Politikerin Julia Reda von der Piratenpartei die Charta und stellt fest, dass sie vor allem darauf abzielt, nicht so sehr die Nutzer und Urheber, als alle Rechteinhaber, also vor allem die "Verwerter" zu schützen: "Im direkten Vergleich mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fällt zunächst auf: Bisher wird das Recht auf kulturelle Teilhabe dem Recht der Urheber*innen vorangestellt, im Entwurf für die Digitalcharta ist es anders herum: Rechteinhabern von Immaterialgüterrechten wird ein Grundrechtsstatus verliehen; die Interessen der Nutzer*innen kommen nur in Form einer Einschränkung dieses Grundrechts vor, sie werden nicht selbst als Grundrecht formuliert." Und "anders als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte will die Digitalcharta hier also ein Grundrecht auf Schutz materieller Interessen nicht nur Urheber*innen zuerkennen, sondern allen Rechteinhabern."
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Politik

Wie Populisten zu begegnen ist, die mit Argumenten nicht zu überzeugen sind, wird nicht erst seit der Wahl in den USA kontrovers diskutiert. Jedenfalls nicht durch Diskriminierung wie jenes Berliner Restaurant, das an der Tür einen "AfD unerwünscht"-Aufkleber angebracht hat, meint Jens Bisky in der SZ: "Man mag die Ansichten nicht teilen, aber wenn es, wie gegenwärtig, viele gibt, die den Euro abschaffen wollen, die keine Einwanderung wünschen, dann ist es gut, wenn diese parlamentarisch vertreten sind. Anders als oft befürchtet, kommt man ihnen mittels parlamentarischen Streits nicht entgegen. Sie werden gewiss nicht 'entzaubert', da Petry, Höcke, Gauland, Trump, Le Pen keinen Zauber besitzen. Aber sie können gestellt werden..."

Politiker verschiedener Parteien, darunter Winfried Kretschmann, Ursula von der Leyen und Sigmar Gabriel, verbreiten in letzter Zeit die Auffassung, die Political Correctness sei "überzogen worden", stellt Mely Kiyak in ihrer Kolumne bei Zeit Online fest. "Wenn Politiker hier in Deutschland glauben, dass man den rechtsextremen und autoritätssehnsüchtigen AfD-Wählern und Pegida-Mitmarschierern offiziell erlauben müsse, auch mal politisch inkorrekt sein zu dürfen - was immer damit gemeint sei - , damit die wieder CDU, SPD oder Grüne wählen, dann haben sie nicht verstanden, dass die Grenzen des Sagbaren schon längst, schon ganz längst überschritten sind."

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Ideen

In der Zeit verteidigt Ijoma Mangold seinen Kollegen Adam Soboczynski, der mit Mark Lilla ein Nachdenken über die linke Identitätspolitik forderte (unser Resümee), gegen Angriffe von Patrick Bahners, der in der FAS Soboczynski und Lilla beschuldigt hatte, sie erklärten "just jene für schuldig an Trumps Erfolg, die dessen erste Opfer sein dürften: die Minderheiten. Das ist rabulistisch und geradezu bösartig. Für Bahners gibt es offenbar nur einen Weg zum Heil: Wer auf die Widersprüche der Identitätspolitik hinweist, kann damit keine aufklärerischen Absichten verfolgen, wer den Universalismus stark macht, will in Wahrheit Minderheitenrechte kassieren. ... Als sei Universalismus nur das Deckwort für Diskriminierung, von der laut zu sprechen man sich nicht traut."

In der SZ erhebt Lothar Müller auf der Seite von Bahners Einspruch gegen den seiner Meinung nach konstruierten Gegensatz von Universalismus und Minderheitenrechten: "Ein Liberalismus, der sich weismachen lässt, die Rücksicht auf 'Diversität' gefährde die Universalität seines Gesellschaftsmodells zugunsten von Partikularinteressen, hat schon verloren. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Der Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, 'that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights', hat erst durch die verschiedenen 'Diversitäten', die ihn in Anspruch nahmen, seine Abstraktheit verloren."

Weiteres: In der FR erklärt Christian Thomas "Identität" zum "Schlagwort der Stunde". Der inzwischen unvermeidliche Didier Eribon hat ein weiteres Interview gegeben, diesmal der Berliner Zeitung. In der FAZ interviewt Ursula Scheer den Kunsthistoriker Hans Belting zur Kulturgeschichte des Gesichts und der Verscheleierung.
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Europa

Der italienische Journalist Marco d'Eramo, häufiger Autor bei der zu den Fünf Sternen neigenden Zeitschrift Micromega, spielt in der taz die Bedeutung des italienischen Referendums angesichts der drängenden Probleme des Landes herunter. Die von dem Referendum mitbezweckte Wahlrechtsreform (mehr hier) hätte seiner Ansicht nach sogar fatale Konsequenzen: "Einer der Gründe, die einen zum Nein drängen, ist, dass eine 'populistische' Partei in diesem Szenario nur 25 bis 30 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen müsste, um eine fast absolute Macht ausüben zu können. Und wie der Economist schrieb: Von starken Führern hat Italien nun wirklich eher zu viele als zu wenige gehabt."
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Medien

Ob das funktioniert? In diesen Tagen erscheint erstmals eine deutsche Ausgabe von Charlie hebdo, keine Satirezeitschrift, sondern eine Zeitung mit ganz schön viel Text, wie Chefreakteurin Minka Schneider im Gespräch mit Michael Angele vom Freitag betont: "Unsere Texte sind intellektuell, aber der Humor erscheint mir oft nicht so verkopft wie in Deutschland, er ist eher handfest, burschikos, spontan, manchmal auch gaga." In der Huffpo.fr werden dann auch gleich nochmal alle Karikaturen präsentiert, die in Deutschland wohl nicht durchgehen würden.

Ärger bei der Spiegel-Gruppe. Eine Reihe von Spiegel-Online-Redakteuren setzt sich per offenem Brief für ihren Chefredakteur Florian Harms ein. Hintergrund ist offenbar, dass das jetzige Bezahlmodell bei Spiegel online nicht so doll funktioniert. In turi2 schreibt Jens Twiehaus: "Der Vorstoß setzt vor allem die Verlagsleitung unter Druck. Sie müssen sich allmählich entscheiden - klar für oder gegen Harms. Die Rückendeckung speziell aus dem Berliner Büro wirft erneut ein Schlaglicht auf die massive Zerrissenheit innerhalb des stolzen Verlags, der auf radikalem Schrumpfkurs ist." Mehr zum Thema auch bei Meedia.

Außerdem: In der FAZ unterhält sich Michael Martens mit dem türkischen Journalisten Erol Önderoglu, dem 14 Jahre Haft drohen, weil er einen Tag lang aus Solidarität bei einer kurdischen Zeitung mitarbeitete.
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Geschichte

In der NZZ stellt der Slawist Felix Philipp Ingold das Moskauer Forschungsinstitut unter der Leitung des Mathematikers Anatoli Fomenko vor, das die russische Desinformationsstrategie auf den Bereich einer alternativen Geschichtsschreibung ausweitet. Dessen Erkenntnisse - etwa, dass Jesus auf der Krim geboren wurde - wären witzig, würde sich nicht etwa Putin mit seinem Machtanspruch auf die Krim auf sie berufen: "Fomenko glaubt aufgrund seiner mathematischen und astronomischen Berechnungen die Lebensdaten des Heilands exakt mit 1053 bis 1086 angeben zu können (wodurch zumindest das überlieferte Sterbealter Jesu, 33 Jahre, bestätigt wäre)... Die diesbezüglichen fomenkistischen Erwägungen und Behauptungen laufen darauf hinaus, den Begründer des Christentums als historische Gestalt dem heiligen Russland zuzuordnen. Die 'neue Chronologie' versetzt auch zahlreiche andere biblische Gestalten sowie Landschaften und Legenden in den 'russländischen' Kulturraum − sie seien in alten byzantinoslawischen Schrift-, Bild- und Bauwerken unzweifelhaft, wenn auch stark verfremdet wiederzuerkennen."
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