9punkt - Die Debattenrundschau

Dass alle Angst hatten, nur Einzelne nicht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2016. Sollte Hillary Clinton nachzählen lassen? Nach bloßer Stimmenzahl führt sie inzwischen mit 1,5 Prozent, hat die New York Times herausgefunden. Tanja Maljartschuk erinnert in Zeit online an Ukrainer, die nach der Annexion der Krim nach wie vor in russischen Gefängnissen sitzen und zum Teil schwer gefoltert werden. In der SZ schlägt der Anwalt Joachim Kersten vor, dass die Verlage aus der Künstlersozialkasse aussteigen - wenn sie schon nichts von der VG Wort kriegen. In der Zeit gibt  Peter Sloterdijk dem President-elect bestenfalls zwei Jahre - bis dahin wird er wohl ohnehin erschossen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.11.2016 finden Sie hier

Politik

J. Alex Halderman geht in einem vielfach hoffnungsvoll retweeteten Artikel auf Medium.com der Frage nach, ob die amerikanischen Wahlen in einigen Staaten gehackt worden sein könnten. Um das herauszufinden, müsste man die per Computer ermittelten Ergebnisse manuell nachzählen. Zwar wird bei jedem Wahlakt auch ein Papier ausgedruckt: "Es gibt nur ein Problem, und das mag manche Sicherheitsexperten überraschen: Kein Staat plant im Moment die Ergebnisse auf Papier in einer Weise zu checken, die ermöglichen würde, die Computer-Ergebnisse zu falsifizieren. Etwa die Hälfte der Staaten hat kein Gesetz, das eine Überprüfung der Papierstimmen von Hand vorsieht, und die meisten anderen Staaten prüfen allenfalls oberflächlich." Hillary Clinton müsste in den nächsten Tagen agieren, falls sie Ergebnisse in Frage stellen will.

Unterdessen meldet die New York Times, dass Hillary Clinton nach den jüngsten Ergebnissen ihre Führung bei den reinen Wählerstimmen auf 1,5 Prozent ausgebaut hat - "einen solchen Abstand hat es prozentual bei keinem verlierenden Kandidaten seit 1876 mehr gegeben".

Da sich auch Barack Obama kaum in Wladimir Putins Bombardierung der Zivilbevölkerung von Aleppo einmischt, vermuten manche, dass sich für die Syrer unter Trump nicht viel ändern werde. Richard Herzinger sieht das in der Welt anders: "Diese Einschätzung negiert, dass es sehr wohl einen qualitativen Unterschied ausmacht, ob eine US-Regierung die rücksichtslose Kriegsführung gegen Zivilisten opportunistisch toleriert oder ob sie eine solche systematische Vergewaltigung des Völkerrechts offen billigt."
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Medien

Charlie Hebdo plant eine Deutschland-Ausgabe, meldet Le Monde: Die erste Nummer wird eine Auflage von 200.000 Exemplaren haben. Sie wird zum großen Teil aus übersetzten Texten und Zeichnungen der französischen Ausgabe bestehen, aber die Redaktion will auch exklusiven Inhalt auf Deutsch produzieren und mit deutschen Satirikern zusammenarbeiten." Dier erste Ausgabe erscheint am 1. Dezember. Mehr bei Politico.eu.
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Europa

Es sind nach der Annexion der Krim immer noch Ukrainer in russischen Gefängnissen, etwa Oleh Senzow, ein ukrainischer Filmregisseur, der zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt ist, oder  Stanislaw Klych, der so schlimm gefoltert wurde, dass er den Verstand verlor. In der Zeit online-Kolumne "Freitext" schreibt Tanja Maljartschuk dazu: "Aus gegenwärtiger Sicht könnte man diese ständig sich wiederholende Gefängniskultur auch als Kultur der feigen Mehrheit betrachten. Die Zuschauer senken ihren Kopf mit schlechtem Gewissen und sagen den Kindern: 'Nicht alle hatten Angst.' Ich frage mich, ob es doch nicht fairer wäre, den Kindern zu sagen, dass alle Angst hatten, nur Einzelne nicht."

Inzwischen werden in Russland an der Stelle ehemaliger Gulag-Lager Gedenksteine errichtet, die sich dankbar der Leistungen des Personals erinnern, schreibt die Wiener Psychologin  Anna Schor-Tschudnowskaja in einem dazu passenden Artikel in der NZZ und zitiert eine jährlich abgehaltene Umfrage, die von den Russen wissen will, ob die Opfer unter Stalin sinnvoll gewesen seien: "2008 wählten 27 Prozent die Antwortoptionen 'bestimmt ja' oder 'teilweise ja'. Seitdem steigt dieser Anteil kontinuierlich. 2010 vertraten 34 Prozent und 2015 bereits 45 Prozent der Befragten ganz oder teilweise die Meinung, dass die Opfer gerechtfertigt waren. Und seit 2015 sind sie in der Mehrheit, denn haben sich 2008 noch 60 Prozent für 'nein' entschieden, waren es 2015 41 Prozent." Gehirnwäsche ist möglich.

Und dann noch dies: Der slowakische Premierminister Robert Fico nennt laut Guardian lokale Journalisten, die ihn nach Korruptionsaffären fragen, "schmutzige anti-slowakische Huren".
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Urheberrecht

In der SZ beklagt der Anwalt Joachim Kersten die "absurde Rechtsfindung" des BGH und aller Instanzen vor ihm sowie des EuGH zur Verteilung der VG-Wort-Auszahlungen und fordert von der Politik, die Folgen dieses Urteils umgehend durch ein Leistungsschutzrecht der Verlage zu reparieren. Außerdem sollen die Autoren ihre Ansprüche an die Verlage abtreten, andernfalls "müssen auch die Pflichten der Verleger zu Zahlungen in die Künstlersozialkasse auf den Prüfstand". In der taz informiert Peter Weissenburger über den Diskussionsstand vor der zweiten außerordentlichen Mitgliederversammlung am Samstag.
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Ideen

In der Zeit lässt Peter Sloterdijk bei Gelegenheit eines Dinners in Palo Alto, bei dem auch Condoleezza Rice zugegen ist, ein bisschen seine Gedanken schweifen und kommt nebenbei zu ein paar traulichen Prophezeiungen: "Seien wir realistisch. Die Chance von ­ Donald Trump, die ersten zwei Jahre seiner Amtszeit zu überleben, liegt vermutlich bei kaum mehr als zehn Prozent. In einem Land mit einer so ausgeprägten Tradition des Schießens auf Präsidenten wäre ein mehr als zweijähriges Durchhalten eine Anomalie. Sofern der politische Mord eine Kategorie ist, die über das Gegebensein oder Nicht-Gegebensein einer Demokratie entscheidet, so waren die USA nie mehr als eine hypothetische Demokratie."

In einem Interview von Dradio Kultur konnte Herfried Münkler seine ganze professorale Schnöseligkeit in einen Satz bannen: "Der Pöbel folgt sowieso immer nur dem Schein... wir müssen deswegen eine kluge Politik machen, dass der Schein nicht gegen uns spielt, sondern für uns spielt."

Sascha Lobo sagt dazu in seiner Spiegel-online-Kolumne: "Die heutige Variante des Schauspiels funktioniert nicht mehr. Denn mit dem radikalen Medienwandel durch das Internet ist diese auf die klassischen Medien zugeschnittene Aufführung schal geworden. Das spüren die Leute, und das treibt die Verstörung."
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Religion

Protestantische Funktionäre lügen sich im Lutherjahr was in die Tasche, wenn sie einfach nur Luthers judenfeindliche Texte kritisieren - der Protestantismus führte auf anderen Wegen auch ins völkische Denken, meint Klaus Holz von der Evangelischen Akademie in Deutschland in der Zeit: "In der Formierung und Formulierung dessen, was deutsch sei, war der Protestantismus eine Avantgarde. Nicht Luthers Antijudaismus hat die Deutschen in den Antisemitismus geführt, sondern das Selbstverständnis und der politische Gestaltungsanspruch des Protestantismus, die deutsche Religion zu sein."

Außerdem: Ebenfalls in der Zeit fürchtet der Staatsrechtler Wolfgang Bock, dass durch Verbot einen Salafistenvereins der Salafismus noch nicht abgeschafft ist.

Ja, das Kopftuch kann für manche Frauen auch eine wirkliche Befreiung sein, berichtet Clarence Rodriguez in huffpo.fr: "Frauen in Riad scheinen entschlossen, gewisse Prinzipien fallen zu lassen - allen voran den Niqab, Hauptsymbol belastender Tradition... Die lokale Presse zögert nicht mehr, über ein in den letzten Jahren mehrfach beobachtetes Phänomen zu berichten. Saudische Frauen bewegen sich in der Hauptstadt ohne ihr Gesicht mit dem Niqab zu verschleiern, der von vielen als nicht verpflichtendes Gebot des Islams angesehen wird. Immer häufiger greifen junge Frauen zum islamischen Kopftuch und lassen manchmal gar den Haaransatz sehen."
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