9punkt - Die Debattenrundschau

Die Grenzen des Sagbaren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2016. Im Tagesspiegel erklärt Carolin Emcke, warum sie lieber politisch korrekt als moralisch infantil ist. FAZ und NZZ zeichnen ein trostloses Bild der ungarischen Medienlandschaft. Der Tagesspiegel berichtet von Rassismus bei der Polizei, die NZZ von Rassismus gegen Asiaten in Frankreich. Reichlich blauäugig findet die taz die Hoffnung, dass der Wildwuchs der Überwachung durch das neue BND-Gesetz eingedämmt würde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.10.2016 finden Sie hier

Gesellschaft

Im Tagesspiegel unterhält sich Nadine Lange mit der designierten Friedenspreisträgerin Carolin Emcke über das - wie sie meint: hasserfüllte - gesellschaftliche Klima in Deutschland. Anders als früher gebe es heute keine großangelegten Gegenbewegungen, die Aggressoren würden als "besorgte Bürger" sogar noch verharmlost, so Emcke: "Dabei wird die Sorge, die manche Menschen berechtigterweise angesichts von sozialen und politischen Missständen oder prekären Arbeitsverhältnissen empfinden, vorgeschoben, um die Grenzen des Sagbaren zu verrücken und dahinter Ressentiments zu verbergen. Es ist doch bemerkenswert: Man tut so, als ob ein Gefühl an sich bereits ein politisches Argument darstellte. Aber Gefühle lassen sich auch befragen: wie zutreffend sie sind, wie verhältnismäßig, wie angemessen." Für Emcke steht jedenfalls fest: "Ich bin doch lieber politisch korrekt als moralisch infantil."

Im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo in der Zeit macht sich der österreichische Bundeskanzler Christian Kern hingegen Sorgen um die besorgten Bürger: "Wir erleben eine Verrohung der Sprache, eine unglaubliche Respektlosigkeit, die Bereitschaft, persönlich vernichtend mit Personen umzugehen. Wir wissen aus der Geschichte, dass der Gewalt der Worte irgendwann die Gewalt der Taten folgt. Das macht mich besorgt."

Wer eine Straftat anzeigt, wird als erstes gefragt, ob der Täter Deutscher oder Ausländer ist, kritisiert Susan Djahangard aufgebracht im Tagesspiegel: "Wenn ihre erste Frage ist, ob der Täter Ausländer war, entsteht schnell der Eindruck, das Ausländersein mache eine Straftat wahrscheinlicher. Da übertreibe ich jetzt? Nun, hier ist noch eine Anekdote von meinem Besuch. Der nächste Zeuge nimmt am Schreibtisch links von mir Platz. Der Beamte: 'Deutscher oder Ausländer?' Der Zeuge: 'Türke.' Der Beamte: 'Immer diese Araber.'"

Seit einigen Jahren mehren sich im Pariser Osten und in angrenzenden Vorstädten Raubüberfälle auf chinesischstämmige Franzosen, berichtet Marc Zitzmann in der NZZ: "Viele Menschen asiatischer Herkunft trauen sich in Problemvierteln nicht mehr allein auf die Straße. In manchen Siedlungen drehen Gruppen von Nachbarn allabendlich Runden. ... Allenthalben werden Stimmen laut, die nicht nur Überfälle beklagen, sondern einen weitverbreiteten Rassismus gegen Asiaten. Dieser reicht von Hänseleien in der Schule über Beschimpfungen in öffentlichen Verkehrsmitteln bis zu Diskriminierungen auf Amtsstellen."
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Internet

Die AfD will sich über eine unausgesprochene Übereinkunft der Parteien hinwegsetzen, auf den Einsatz von Social Bots zu verzichten, zitiert Zeit Online einen Bericht aus dem Spiegel. Social Bots sind Software-Roboter, die automatisiert massenhaft Einträge in sozialen Netzwerken absetzen, um Stimmung und Meinungen zu manipulieren. "'Selbstverständlich werden wir Social Bots in unsere Strategie im Bundestagswahlkampf einbeziehen', sagte Bundesvorstandsmitglied Alice Weidel... 'Gerade für junge Parteien wie unsere sind Social-Media-Tools wichtige Instrumente, um unsere Positionen unter den Wählern zu verbreiten.'"
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Medien

Nach der Einstellung der regierungskritischen Zeitung Népszabadság beleuchtet Stephan Löwenstein in der FAZ den prekären Zustand der Pressefreiheit in Ungarn: "Es zeigt eine Medienlandschaft, die zunehmend von der Regierung oder ihren Satelliten kontrolliert wird. Es wird zwar ohne Zensur gestritten und enthüllt, aber die Fidesz-nahen Medien erkennt man schon daran, ob handfeste Skandale kleingemacht oder ganz verschwiegen werden. Und es ist nicht zum ersten Mal vorgekommen, dass Enthüllung und Suspendierung unmittelbar aufeinanderfolgen, auch wenn offiziell ein Zusammenhang dementiert wird."

Eigentlich schreibt Wilhelm Droste in der NZZ über die ungarischen Gewässer als Symbole nationaler Sehnsucht, aber am Ende kommt auch er auf die Lage der ungarischen Medien zu sprechen: "Wenn auf einem Dorffest im Schwarzwald ein Mädchen von einem Syrer belästigt wird, dann ist das hier in den Nachrichten die erste weltpolitische Meldung, weil das so geschmeidig in die Hetze gegen die illegal eingereisten Flüchtlinge passt... Die gleichgeschalteten Medien sind besonders fatal, weil nur sie die letzten Winkel des Landes erreichen, auf dem flachen Land gibt es dann überhaupt keine Gegenstimmen mehr. Alle Ungarn schlucken diese bräunliche Sauce, und allzu viele folgen ihrem rhetorisch bedenklich begabten Dirigenten."
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Politik

Blindheit gegenüber Geschlechterfragen in der Analyse und Konzeption attestiert Anne-Marie Slaughter, Direktorin des Think Tanks New America, in der Welt der westlichen Politik. Das sei nicht zuletzt hinsichtlich der Einschätzung des IS fatal: "Anders als unsere Politiker wartet der IS nicht auf weitere Daten. Er nutzt die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, um Rekrutierung und Operationen zu erleichtern. In Gesellschaften, in denen Frauen als Bürger zweiter Klasse behandelt werden, fällt es dem IS mit seiner quasi frauenfördernden Propaganda leichter, Frauen zu rekrutieren, wie auf einem Bild zu sehen ist, das eine in eine Burka gehüllte Frau mit dem Kommentar zeigt: 'Covered Girl...weil ich es wert bin.'"
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Überwachung

Ganz und gar nicht einverstanden zeigt sich Christian Rath in der taz mit der gestern im Bundestag beschlossenen Novelle des BND-Gesetzes, das mit den illegalen Überwachungsmethoden "Schluss macht - indem es die bisherigen Machenschaften weitgehend legalisiert... Tatsächlich heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs, die Arbeit des BND solle nicht 'eingeengt' werden. Im Kern muss der BND vor allem die Politik besser über seine Auslandsüberwachung informieren, und die Dienstaufsicht im Kanzleramt muss mehr Verantwortung übernehmen. Die Hoffnung, so den Wildwuchs einzudämmen, wirkt reichlich blauäugig."

Im Tagesspiegel nimmt Frank Jansen die Novelle gegen Kritik in Schutz: "Der BND wird teilweise stärker reglementiert und die Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes ausgeweitet. Das ist weit mehr, als in anderen Demokratien üblich, geht aber den Kritikern der Gesetze nicht weit genug... Das Land erwartet, dass die Nachrichtendienste effektiv, aber bitte strikt moralkonform Gegner beobachten, die kein Parlament kontrolliert: russische Geheimdienste, Beschaffer von Massenvernichtungswaffen, islamistische Terroristen. Die dürften lächeln."
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