9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn man den Sprachwandel nur anglotzt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2016. Der Guardian wirft nach dem Brexit die Frage auf: Werden Nordiren zugleich EU-Bürger und EU-Ausländer sein können? Bei Huffpo.fr schreibt der Historiker Jean-Louis Margolin  über die Eifersucht der "linken Linken" auf die Dschihadisten. In der NZZ sucht Hernando de Soto eine Erklärung für die Ungerechtigkeit der Globalisierung. Was machen ARD und ZDF, die heute kaum mehr von den 49-Jährigen geguckt werden, wenn sie in zwanzig Jahren nicht mal mehr von den 69-Jährigen geguckt werden?, fragt Medienwissenschaftler Hermann Rotermund bei Carta. Und: ein neuer Stand bei der VG Wort.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.10.2016 finden Sie hier

Europa

Am Wochenende findet der Parteitag der schottischen National Party statt - und noch nie hat dieses Ereignis ein derartiges Interesse hervorgerufen, schreibt Louise Roug bei politico.eu. Hauptthema wird natürlich die Reaktion auf den Brexit sein: Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon "und ihr Brexit-Minister Michael Russell haben klar gemacht, dass sie auf eine Mitgliedschaft Schottlands in der EU abzielen. Aber andere sehen in der Brexit-Entscheidung auch Chancen. Alex Neil, ein Veteran der Unabhängigkeitsbewegung, sieht den Brexit als 'goldene Gelegenheit' der schottischen Regierung, die Kontrolle über Landwirtschaft, Fischerei, Arbeitsgesetze und andere Gebiete zu übernehmen, die zur Zeit von Brüssel aus entschieden werden. 'Neo-Independence' wäre die 'ideale Plattform für volle Unabhängigkeit in den zwanziger Jahren, so Neil."

In Britannien und der Republik Irland wird immer noch die Idee diskutiert, dass die Iren künftig die Grenzkontrollen für Britannien übernehmen, damit die Grenze zwischen der Repubilk und Nordirland offen bleiben kann. Daran geknüpft ist die im Karfreitagsabkommen festgelegte Option der Nordiren, zwischen der irischen und britischen Nationalität zu wählen, beziehungsweise beides zugleich zu sein. Diarmaid Ferriter kommentiert im Guardian: "Die Brexit-Entscheidung wirft also auch diese bizarre Frage auf...: Können Nordiren nun also zugleich EU-Bürger und EU-Ausländer sein?"

Der Historiker Jean-Louis Margolin hat in huffpo.fr eine originelle Erklärung für das Phänomen, dass ausgerechnet linke Autoren häufig die Forderung vertreten, man möge Terrorverdächtige nicht beim Namen nennen, um nicht auch noch Werbung für sie zu machen. "Man spürt seit einiger Zeit auf der 'linken Linken' (etwa bei  Jean-Luc Mélenchon) eine Art Irritation über die Medienaufmerksamkeit für den bewaffneten Islamismus, die von den 'wahren Fragen' wie den Arbeitsgesetzen oder den Handelsabkommen ablenke. Bei den noch Radikaleren kommt eine Frustration hinzu: Die Massaker einiger Dutzend Einzelpersonen, die bereit sind zu sterben - wenn auch nicht für das Proletariat und den Sozialismus - lassen den Staat wesentlich mehr erzittern... als Jahrzehnte des Militantismus im Namen einer geisterhaften Revolution."

Über das Freihandelsabkommen Ceta mit Kanada wird ab Mittwoch vom Bundesgericht verhandelt, nachdem Massenklagen eingereicht wurden. In der SZ findet Wolfgang Janisch  die Kritik an dem Abkommen und den Schiedsgerichten überzogen. Kritisch sieht er aber auch den "Gemischten Ausschuss", den der Vertrag vorsieht - "eine Art Ceta-Zentralkomitee. Dieser Ausschuss hat, so sehen es Kritiker, die Macht, das Abkommen schleichend zu verändern, zum Beispiel durch Annexe und Protokolle oder durch verbindliche Vorgaben, wie bestimmte Regeln des Investitionsschutzes zu interpretieren sind. Mit einer derart großzügigen Delegation eigener Befugnisse könnte die EU aber außerhalb ihrer Zuständigkeiten gehandelt haben."

Bei der Klage gegen Ceta haben sich vor allem NGOs wie Campact, Foodwatch und Mehr Demokratie hervorgetan. Ihnen hat der Kampf gegen TTIP und CETA einen enormen Wachstumsschub und Spendenrekorde beschert, berichtete schon vor drei Wochen Hans von der Burchard auf Politico. "Einige konservative und liberale Politiker kritisieren, NGOs und Grüne hätten die angeblichen Risiken um TTIP künstlich aufgeblasen, um den Ausfall ihrer Anti-Atom-Kampagne zu kompensieren, die 2011 nach der Fukushima-Katastrophe mit der abrupten Entscheidung zum Atomausstieg endete." Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold hat das entschieden zurückgewiesen. "Auffallend ist jedoch", so Burchard, "dass sich die handelskritischen Kampagnen fast vollständig auf Nordamerika konzentrieren, obwohl die EU aktuell Handelsabkommen rund um den Globus verhandelt."
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Ideen

Globalisierung ist ein Segen, davon ist Hernando de Soto, Präsident des Instituts für Freiheit und Demokratie (ILD) in Lima, in der NZZ fest überzeugt. Warum haben dann aber so viele Menschen keinen Teil an dem Segen? Dafür hat de Soto eine interessante Erklärung: Die Profiteure der Globalisierung nutzen Wissen, das in Registern und Grundbüchern verlässlich dokumentiert sei. Nur so seien "komplexe Kombinationsmöglichkeiten" von Hunderten Bauteilen in verschiedenen Ländern zur Erzeugung hochwertiger Produkte möglich. Sein Institut habe nun nachgewiesen, "dass rund 5 der etwa 7,3 Milliarden Menschen auf dieser Welt nicht an diesem Wissen teilhaben können, weil ihre Rechte oder Besitztümer entweder auf nationaler Ebene gar nicht registriert oder aber nicht so dokumentiert sind, dass sie in einem internationalen Umfeld messbar und somit vergleichbar wären. Oft sind sie hoffnungslos über das ganze Land verstreut und in ganz unterschiedlichen und uneinheitlichen Registern dokumentiert. Es ist dieser Mangel an konsolidiertem und dokumentiertem Wissen und nicht der Handel, der in erster Linie für die globale Ungleichheit verantwortlich ist."
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Medien

Die Öffentlich-Rechtlichen haben sich ein Professoren-Gutachten zur Flankierung ihrer Expansion in die "Cloud" anfertigen lassen (unser Resümee). Bei Carta fragt der Medienwissenschaftler Hermann Rotermund: "Wenn also in zwanzig Jahren das öffentlich-rechtliche Fernsehen für die 15- bis 69-Jährigen nicht mehr interessant ist (wie heute schon für die 15- bis 49-Jährigen) und die öffentlich-rechtlichen Medien gleichzeitig mit ihren Internet-Angeboten so wenig erfolgreich sind wie heute (Beispiel: tagesschau.de hat nur ein Drittel der Nutzer von n-tv.de), welchen Sinn haben dann noch der Auftrag und die Beitragsfinanzierung?"
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Wissenschaft

In der Welt regt sich Matthias Heine über Linguisten auf, die schlampige Grammatik mit der Begründung tolerieren, das sei dem Sprachwandel geschuldet, der eh nicht aufzuhalten sei: "Man darf jenes Dogma anzweifeln, man muss es anzweifeln. Erst recht weil die historische Linguistik selbst beweisen kann, dass Sprachwandel eben doch von Institutionen zu beeinflussen ist. Man kann ihn stoppen, man kann ihn - wie das Beispiel Luther zeigt - erst in Gang setzen oder doch wenigstens radikal beschleunigen, und man kann ihn lenken. Nur kann man das ganz gewiss nicht, wenn man den Sprachwandel nur anglotzt und jeden, der nicht in fatalistischer Demut verharrt, zum hysterisch kulturkritischen Herbergsvater erklärt."
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Stichwörter: Sprachwandel

Urheberrecht

(Via turi2) Die VG Wort fordert die Verlage nun plötzlich ziemlich dringlich auf, Beträge, die sie zu Unrecht erhalten haben, zurückzuzahlen, wie die Verwertungsgesellschaft auf ihrer Website in einem pdf-Dokument mitteilt: "Verlage,  die  in  den  Jahren  2012  bis  2015  Auszahlungen  von  Einnahmen  aufgrund  der Wahrnehmung von gesetzlichen Vergütungsansprüchen erhalten haben, sind  im  Grundsatz  verpflichtet,  diese  Beträge  nach  Aufforderung  in  Textform  durch  die  VG Wort vollständig bis zum 30. November 2016 zurückzuzahlen." Auch die Verlegerverbände der Medienindustrie sind aufgefordert, zu viel erhaltene Beträge zurückzuüberweisen. Bei bedürftigeren Verlagen verspricht die VG Wort, Aufschub zu gewähren.
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