9punkt - Die Debattenrundschau

Vollkommen allein

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2016. In seiner Schirrmacher-Preisrede bekennt Michel Houellebecq, dass er sich in seiner Rolle als écrivain maudit ganz wohl fühlt. Necla Kelek attackiert in ihrer Laudatio auf Houellebecq die deutschen Staatstheater, die sich nicht wirklich für das Leben der Migranten interessierten. Bei der AFP erzählt der Fotograf Karam Al-Masri seine Geschichte, die alle Leiden der Stadt Aleppo resümiert. In der FAZ staunt Bülent Mumay über die türkische Geduld mit dem Islamischen Staat. Und fast alle Medien sind sich einig: Hillary Clinton hat Donald  Trump in ihrem ersten TV-Duell geschlagen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.09.2016 finden Sie hier

Politik

Die Agentur AFP bringt einen  längeren Text über die persönliche Geschichte des Fotografen Karam Al-Masri, der für die Agentur in Aleppo arbeitet - ein Text, der wirklich alle Gräuel enthält, die man sich für diese Region vorstellt: Er wurde vom Regime gefoltert und vom Islamischen Staat festgehalten, dessen Schergen ihm ein Köpfungsvideos eines gefangenen Kameraden zeigten. "Meine Familie verlor ich im Jahr 2014, als ich noch Gefangener von Daech war. Eine Fassbombe war auf unser Wohnhaus abgeworfen worden, das komplett zusammengebrochen ist. Alle Bewohner sind gestorben, auch meine Eltern. Ich habe es erst erfahren, also ich aus der Geiselhaft kam."

Hillary Clinton und Donald Trump haben gestern ihre erste große Fernsehdebatte geführt. "Clinton führt Trump vor", jubelt Spiegel online: "Für Donald Trump verläuft die erste TV-Debatte gegen Hillary Clinton überraschend verheerend. Der Milliardär ist fahrig und unsicher, gegen Ende nimmt ihn seine Rivalin regelrecht auseinander." CNN hat die besten Sequenzen übersichtlich in Videos abgepackt. In der New York Times fassen Patrick Healy und Jonathan Martin die Debatte chronologisch zusammen - ebenfalls mit Videosequenzen. Einige Videomomente und Reaktionen im Netz sammelt Nils Jacobsen bei Meedia.
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Ideen

Die NZZ druckt Michel Houellebecqs Dankesrede für den Frank-Schirrmacher-Preis. Und der Autor teilt kräftig aus, wie man das erwartet: Gegen die Zeitungen und gegen die Linke, die inzwischen derart heruntergekommen sei, dass sie wie ein in die Enge getriebenes Tier um sich schlage und alles verdamme, was nicht ihren immer enger werdenden Kriterien entspricht. Bestes Beispiel: Die Neuauflage von Daniel Lindenbergs erstmals 2002 erschienenem Band "Aufruf zur Ordnung" mit neuem Nachwort, das Maurice Dantec, Philippe Muray (beide inzwischen gestorben) und Michel Houellebecq als die "neuen Reaktionäre" beschreibt. Houellebecq würde noch Tocqueville dazuholen, aber ansonsten fühlt er sich in diesem Kreis sehr wohl: "Muray und Dantec besaßen große literarische Begabung, ein seltenes Talent, aber was noch seltener ist, sie schrieben, ohne jemals an Anstandsregeln oder Konsequenzen zu denken. Sie scherten sich nicht darum, ob sich diese oder jene Zeitung von ihnen abwandte, sie akzeptierten es gegebenenfalls, sich vollkommen allein dastehen zu sehen. Sie schrieben einfach - und einzig und allein für ihre Leser, ohne jemals an die Limitationen und Befürchtungen zu denken, die die Zugehörigkeit zu einem Milieu einschließt. Und ihre Freiheit war befreiend. Dank ihnen sind die französischen Intellektuellen heute in einer neuen Lage, so neu, dass sie sie noch gar nicht ganz ermessen haben: Sie sind frei. Sie sind frei, denn sie sind befreit aus der Zwangsjacke der Linken."

Necla Kelek attackiert in ihrer in der Welt abgedruckten Laudatio auf Houellebecq  die "Kulturbeamten" der Staatstheater, die sich nie wirklich mit den Migranten auseinandersetzten und sie immer nur in eine "Opferhöllle" steckten."Die Kulturbeamten verhalten sich damit nicht anders als die muslimisch-orientalische Community selbst, die die Debatte nicht kennt. Debatten um Burka, Kopftuch, Kinderehen, Zwangsheirat, Ehrenmord, Parallelgesellschaften werden von Muslimen höchst selten geführt. Weder in einer Moschee von organisierten Muslimen noch in der Theaterwelt. Es gibt Dissidenten wie mich - und ein paar andere, die diese Themen immer wieder sezieren, aber eine Debatte innerhalb der muslimischen Community findet nicht statt."

In der Berliner Zeitung unterhält sich Arno Widmann mit dem Juristen Christoph Möllers über Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit. Warum wird letztere noch einmal extra geschützt, obwohl für jeden Künstler doch eh schon Art. 5 GG gilt? Dazu Möllers: "Die Mutter und Väter des Grundgesetzes hatten die Vorstellung, der Staat solle sich nicht in Kunst und Wissenschaft einmischen. Das hing wohl auch mit einem noch recht privatistischen Verständnis von Kunst zusammen. Kunst war etwas Erbauliches. Die Kunst sieht das, die Künstler sehen das anders. Ich habe in all den Urteilsbegründungen nie recht verstanden, was die 'kunstspezifische Betrachtung' genau bedeutet, die das Bundesverfassungsgericht hier anwendet."

Außerdem: Isolde Charim schildert in der taz strittige "linke" Positionen Slavoj Zizeks einerseits, der Kämpfe für LGBT als "liberales Feigenblatt des Kapitalismus" angreift (und sich gegen Hillary Clinton ausspricht, mehr in Newsweek), während Didier Eribon (etwa im Interview mit der Zeit) den Schulterschluss zwischen Arbeiterbewegung und LGBT-Bewegung suche. In der NZZ berichtet Andrea Roedig vom 20. Philosophicum Lech.
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Medien

Springer-Chef Mathias Döpfner hat gestern seine erste Rede als Vorsitzender des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) gehalten. Auf der Website des Verbands wird die Rede als pdf-Dokument verlinkt. Hier die entscheidende Passage: "Lieber Herr Oettinger - vielen Dank, dass Sie heute hier sind. Die Branche schaut auf Sie. Ohne Ihr Engagement gäbe es in Brüssel kein Kartell-Verfahren gegen Google, sondern ein Suchmaschinen-Monopol-Schutz-Gesetz. Und ohne Ihr Engagement gäbe es keine Pläne für das für uns Verlage so lebenswichtige Gesetz zum Schutz geistigen Eigentums auf europäischer Ebene."

Michael Hanfeld unterhält sich in der FAZ mit dem Intendanten der Deutschen Welle, Peter Limbourg, der mehr Geld möchte: "Wir sind mittlerweile bei ungefähr dreihundert Millionen Euro im Jahr, auch dadurch, dass wir Mittel für Personalverstärkung und mehr Projektgelder bekommen haben. Die Franzosen beispielsweise liegen etwa fünfzig bis siebzig Millionen Euro drüber. Es sollte schon der Anspruch unseres Landes sein, dass man sich mit anderen Nationen vergleichen kann. Von der BBC spreche ich gar nicht. Die liegt mit ihrem Auslandsrundfunk bei ungefähr 500 Millionen Euro.
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Religion

Der Religion entkommt man nicht, hat Bodo Mrozek bei  dem Historikertag gelernt, über den er im Tagesspiegel berichtet, und nennt den Bochumer Emeritus Lucian Hölscher, "der darauf hinwies, dass auch Menschen, die sich selbst als 'säkular' bezeichnen, sich mit dieser Einschätzung direkt auf die Religion beziehen und damit durchaus am Glauben partizipieren - wenn auch ex negativo. Ähnlich äußerte sich der aus Indien stammende Stargast der Tagung, der Historiker Sanjay Subrahmanyam (Los Angeles), der in seiner verschmitzt-hintersinnigen Festrede in der Laeiszhalle so ziemlich alle gängigen Grenzen des Religiösen in Frage stellte und stattdessen konstatierte, jede Definition einer Religion verändere deren Wesen schon im Moment ihrer Formulierung." Hannah Bethke berichtet in der FAZ vom Historikertag.
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Internet

Johannes Boie macht in der SZ angesichts all der Initiativen, die sich Subventionsgeld vom Bundesjustizminister holen, um "Hassreden" im Internet zu bekämpfen, auf ein paar Grundsätze aufmerksam: "Nun ist es so, dass es bislang in Deutschland zwei Kategorien von Äußerungen gab: strafrechtlich verbotene, wie zum Beispiel Holocaust-Leugnung oder Aufhetzung zur Gewalt. Dafür gibt es einige Paragrafen, der wichtigste ist der Paragraf 130, Volksverhetzung. Ansonsten gilt: Alles, was nicht strafbar ist, ist erlaubt; auch Widerliches. Es handelt sich um freie Meinungsäußerung, sehr grundsätzlich geschützt durch Artikel 5 des Grundgesetzes."
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Europa

Ein bisschen weniger nationalen Egoismus und mehr Ausgleich fordert Götz Aly in der Berliner Zeitung - auch wenn es um die Freihandelsabkommen Ceta und TTIP geht: "Wer hat denn die strengere Arzneimittel- und Lebensmittelkontrolle? Deutschland oder die USA? Wer hetzt denn gegen angeblich giftige 'Chlorhühnchen' und isst wie selbstverständlich abgepackten Salat, der - mitten in Deutschland - ebenfalls kurz durchs Chlorbad ging? Die Aktionen gegen die transatlantischen Freihandelsabkommen verbinden die Linke und Teile der Mitte mit der AfD. Unterlegt mit habituellem Antiamerikanismus und Antiliberalismus will diese Links-Rechts-Volksfront dasselbe: äußere Schranken, in diesem Fall Zollschranken, gegen andere."

In seiner FAZ-Kolumne staunt Bülent Mumay, wie geduldig Erdogan lange den Terroranschlägen des IS im eigenen Land zusah: "Seit 2014 hat der IS in unserem Land ein Blutbad nach dem anderen angerichtet, und die Türkei hat 'geduldig' zugesehen. Ich meine das im buchstäblichen Sinn des Wortes, oder sahen wir etwa nicht zu, wie unsere Grenzen durchlässig wurden und wie man dschihadistische Terroristen auf türkischem Boden in staatlichen Krankenhäusern behandelte? Wie junge Leute aus Europa die Türkei als Durchgangskorridor nutzten, um sich dem IS anzuschließen? Wie IS-Erdöl in unser Land gebracht wurde und Materialien für Sprengstoffattentate nach Syrien? Hatten wir nicht zugesehen, als regierungsnahe Journalisten im Fernsehen sagten, der IS sei keine Terrororganisation, und als der Ministerpräsident IS-Kämpfer als 'aufgebrachte junge Leute' bezeichnete?"
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