9punkt - Die Debattenrundschau

In Zivil, selbstverständlich

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2016. Die Geschichte des Piratenpolitikers Gerwald Claus-Brunner stellt auch seine Partei, die über Jahre nicht agierte, in ein trübes Licht, meint der Tagesspiegel.  Während der Iran sich angeblich ein bisschen öffnet, gehen die Hinrichtungen weiter, und eine Sittenpolizei kontrolliert die Kopftücher der Frauen, konstatiert die huffpo.fr. Facebook hat falsche Angaben über die Effizienz von Werbung gemacht, hat das Wall Street Journal herausgefunden - und Facebook ist auch politisch in der Diskussion.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.09.2016 finden Sie hier

Politik

Eine Reportage im Tagesspiegel untersucht den bizarren Mord des Piraten Gerwald Claus-Brunner, der einen 29-jährigen Kollegen, der seine Liebe nicht erwiderte, erwürgte, die Leiche dann unbehelligt durch ganz Berlin bis in seine Wohnung karrte und sich später selbst tötete. Obwohl Claus-Brunner vorher schon auffällig geworden war, möchte man das Thema bei den Piraten lieber nicht diskutieren: "In den fünf Jahren, die Claus-Brunner in der Öffentlichkeit stand, ist offenbar nur wenig geschehen, um ihn unter Kontrolle zu bringen. Jetzt, nach dem Mord, berichtet einer der Piraten anonym: 'Als ich davon las, dass es eine zweite Leiche gibt, war die erste Befürchtung schon sofort, dass er das getan haben könnte.' Hätte man etwas ahnen können? Stephan Urbach sagt: Ja. Urbach war selbst bis 2013 Pirat, kannte Claus-Brunner - oberflächlich, wie so viele. Doch anders als andere Weggefährten spricht Urbach öffentlich und erhebt schwere Vorwürfe: 'Schuld sind übrigens die, die ihn seit Jahren gedeckt haben und noch immer decken', schrieb er am Mittwoch auf Twitter. Und: 'Diese Leute haben ihm jahrelang gesagt, dass sein Verhalten O.K. ist.'"

Der französische Ökonom und Politiker Jean-Pierre Bequet rät den Lesern der huffpo.fr sich angesichts der touristischen Öffnung des Irans keine Illusionen zu machen. Das Land hat ein Drogenproblem, soziale Bewegungen werden unterdrückt, allein im August wurden achtzig Menschen hingerichtet - die iranische Schnellhinrichtungsmaschinerie wird auch dann nicht gestoppt, wenn europäische Politikerinnen mit Kopftuch zum Staatsbesuch auftauchen. "Und mitten in dieser Lage des Elends und der Diskriminierung hat das angeblich 'moderate' Regime 7.000 'Beamte der Sittenpolizei' - in zivil, selbstverständlich - eingesetzt, um Frauen zu verwarnen, die ihren Schleier nicht richtig tragen."
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Europa

Es gründet sich eine "Initiative Offene Gesellschaft" auf Betreiben des Autors Harald Welzer, berichten Jan Feddersen und Timo Lehmann in der taz. Was genau die Initiative will, wird aus dem Artikel, dem man einige kritische Töne ablauschen kann, nicht ganz klar. Aber die Kirchen sind auch dabei, die taz ist Medienpartner, und es gibt prominente Unterstützer, die sich in einer Pressekonferenz äußerten: "Der Direktor des Albert and Victoria Museum in London, Martin Roth, zog von Großbritannien zurück nach Deutschland, als er sah, wie auf Pegida-Protesten Galgen mit Kanzler- und Vizekanzlerköpfen hochgehalten wurden. Anstatt weiter Öl ins Feuer zu kippen und sich als vermeintlicher Löscher zu präsentieren, will die Initiative jener Mehrheit eine Stimme geben, die dem 'Marketing der Angst' nicht verfallen sei, sagt Roth."

In der Selbstauskunft auf der Website der Initiative heißt es: "Wir möchten die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen und unsere Gesellschaft weiterentwickeln, indem wir die vielen demokratischen Kräfte, die jeweils für sich wirken, zu einer machtvollen zivilgesellschaftlichen Bewegung bündeln."

Im mazedonischen Skopje gibt es seit einigen Monaten andauernde Proteste gegen die Regierung. die sich in Farbbeutelattacken entladen. Anlass der Wut ist die Begnadigung des ehemaligen Premierministers Nikola Gruevski und seines Cousins Sasha Mijalkov, ehemaliger Chef der Geheimpolizei, die beide in einen Korruptions- und Abhörskandal verwickelt waren, berichtet Domus: "The protest is being called the Colorful Revolution. Over the past five years, gigantic monuments were built throughout the Macedonian capital. These monuments reflect the new administration that created them. As such they became the protestors' favorite target."

Das Video dazu sieht man besser ohne den dräuenden Ton:



Die Forderung europäischer Muslime, ihre Sitten - etwa die Burka - zu respektieren, hat eine Kehrseite, merkt der österreichische Beamte Homayoun Alizadeh in der NZZ an: "Wenn muslimische Gemeinden verlangen, dass die in europäischen Gesellschaften lebenden Musliminnen öffentlich Burka tragen dürfen, sollte man auch meinen, dass aufgrund des Reziprozitätsprinzips auch europäische Frauen das Recht hätten, sich ohne Kopfbedeckung auf den Straßen von Jidda oder Teheran zu bewegen."

In seiner FAZ-Kolumne aus der Türkei erzählt Bülent Mumay, wie säkulare Gegner Erdogans diffamiert werden, während religiöse Anhänger ungestraft eine junge Frau zusammentreten können, weil sie Shorts trägt.

In der SZ berichtet Yavuz Baydar, wie sich türkische Journalisten in den Gerichten derzeit die Klinke in die Hand geben: "Ein 72-jähriger altgedienter Journalist, Hasan Cemal, Gewinner des prestigeträchtigen Louis Lyons Award aus Harvard, war in den frühen Morgenstunden angekommen. Er stand vor dem Richter wegen Präsidentenbeleidigung in einem Artikel vom Anfang dieses Jahres, der den Titel trug: 'Mit Erdoğan, der die Verfassung jeden verdammten Tag bricht'. Dafür erwartet ihn eine ein- bis vierjährige Gefängnishaft. Es wurde zu einem Tag des bizarren 'Meet and Greet' für verdiente Journalisten, die kleine Gruppe der Tapferen in der Türkei."

Außerdem: In der NZZ diagnostiziert Joseph Croitoru eine immer stärkere Islamisierung der Türkei.
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Kulturpolitik

In der Berliner Zeitung plädiert Kerstin Krupp wieder für ein eigenes Kulturressort in Berlin, damit offener über Zukunftsthemen gestritten werden könne. Außer Kulturstaatssekretär Tim Renner fällt ihr aber niemand ein, der Interesse an dem Amt hätte. Der Unwille hängt möglicherweise damit zusammen, dass ein Kultursenator sich ständig Sparforderungen ausgesetzt sähe. Krupp erinnert daran, "dass der Regierende Bürgermeister Wowereit seinem Kultursenator Wowereit stetige Haushaltszuwächse zugestand, während er seinem Vorgänger noch aufnötigte, 25 Millionen Euro einzusparen. Dieses Wowereit'sche Erfolgsrezept hat sein Nachfolger in beiden Ämtern, Michael Müller, beibehalten."
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Stichwörter: Berlin, Müller, Michael

Geschichte

Wie kompliziert der Blick auf die Geschichte in Gegenden wie dem ehemaligen Ostgalizien - der heutigen Westukraine - ist, beschrieb Natan Sznaider in einem Essay für den Tagesspiegel am Sonntag. Die Frage ist für ihn, an was man sich eigentlich erinnert, wenn man die Synagoge von Lemberg nun zum Gedenkort macht: "In den ethnischen gemischten Ortschaften gab es die zum Tode verdammten und diejenigen, die ihre Leben unter Besatzung weiterlebten. Aber da die meisten Juden nach dem Krieg entweder ermordet waren oder diese Orte verließen, ist die Erinnerung an diese Zeit mit ihnen gegangen. Und die nachfolgende sowjetische Besatzung hat dann alle Erinnerung dem historischen Materialismus und dem antifaschistischen Kampf untergeordnet. Und als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, blieb nur noch das Ressentiment gegen den Westen, seine Privilegierung des Holocaust und seine Ignoranz stalinistischer Verbrechen."
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Medien

(Via turi2) Britische Zeitungen, auch der Guardian, wenden sich an ihre Regierung, um Schutz vor Google und Facebook zu suchen. Das Netz werde immer mehr von großen Plattformen wie Google und Facebook dominiert, sagen sie auf ihrer Verbandsseite, und "es gibt potenzielle Vorteile für Verlage, die mit ihnen zusammenarbeiten, vor allem die Möglichkeit, ein neues Publikum zu erreichen. Dennoch liegt eine Win-Win-Situation in weiter Ferne, ein Großteil der Geldschöpfung wird von Firmen eingenommen, die nicht in den Journalismus investieren - auf Kosten derer, die es tun."

Google antwortet laut Jake Kanter im Business Insider mit dem Argument, dass man den Zeitungen kostenfreie Klicks bringe, dass es auf Google News keine Werbung gebe und dass man nun schon mit der Google News Initiative über hundert Millionen Euro in die Zeitungen gesteckt habe.
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Internet

Überall Facebook: Das Wall Street Journal bringt einen viel retweeteten Artikel darüber, dass Facebook seinen Werbekunden zwei Jahre lang übertriebene Angaben über die Durchschlagskraft ihrer Werbung machte.

Der Facebook-Investor Palmer Luckey tat sich laut The Daily Beast damit hervor, dass er Geld in eine Wahlkampforganisation Donald Trumps steckte, die Internet-Memes gegen Hillary Clinton verbreitet.

Außerdem: Adrian Lobe erklärt in der FAZ, wie Facebook per Algorithmus die Stimmung im Wahlkampf beeinflussen könnte. Wolfgang Kleinwächter, ehemals Mitglied des Icann-Direktoriums, erklärt in der FAZ, wie die "Internetbehörde" Icann in den amerikanischen Wahlkampf geriet.
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