9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kleidermenge der Frauen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2016. Der Guardian startet eine Reihe zur Krise der westlichen Linken: Im ersten Artikel rekapituliert der Journalist John Harris, wie Labour aufhörte, die Partei der Arbeiter zu sein. Frankreich sucht nach nach einem "Islam de France" und scheitert an den Organisationen und den Gläubigen, sagt Rachid Benzine in Slate.fr. Der Börsenverein schließt seine Online-Plattform buchhandel.de - und kapituliert damit vorm Online-Markt, meldet buchreport.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.09.2016 finden Sie hier

Ideen

Der Guardian startet eine neue Serie zur Krise der westlichen Linken, die bisher keine Antworten gefunden habe auf drei große Probleme: die umwälzenden Kräfte der Globalisierung, den Niedergang der Industriearbeit und den Aufstieg des nationalistischen Populismus. Im ersten Artikel rekapituliert der Journalist John Harris, wie Labour aufhörte, die Partei der Arbeiter zu sein. Besonders in Ohren klingt ihm eine Rede von Tony Blair aus dem Jahr 2005, als dieser bei den Wahlen mit New Labour triumphierte: "Seine Rede wurde geradezu missionarisch: 'Die sich wandelnde Welt schert sich nicht um Tradition. Sie verzeiht keine Schwäche. Sie gibt nichts auf das Ansehen der Vergangenheit. Sie kennt keine Sitten und Gebräuchen. Sie ist voller Möglichkeiten, aber nur für diejenigen, die sich schnell anpassen und selten beklagen, die offen, willig und bereit zu Veränderung sind.' Ich sah diese Rede und weiß noch, dass ich dachte: So sind die Menschen nicht. Sie passen sich nicht schnell an und beklagen sich wenig. Und ich fragte mich, wenn dies die Eigenschaften waren, die nun verlangt wurden, was würde dann aus Millionen von Briten werden, die den Test nicht bestehen?"
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Europa

"Wir werden niemals einen Angehörigen anschuldigen", hatte ein AKP-Sprecher nach dem Putschversuch in der Türkei verkündet. Schöne Worte, leider nicht wahr, schreibt Bülent Mumay in der FAZ, Sippenhaft ist inzwischen üblich: "Sie kennen den Journalisten Can Dündar, der ins Gefängnis soll, weil er berichtet hat, dass die Türkei Waffen nach Syrien lieferte. Um sich seine Freiheit zu bewahren, lebt er im Augenblick bei Ihnen im Land. Vor ein paar Tagen wurde seine Frau, Dilek Dündar, am Flugplatz in Istanbul festgehalten, als sie zu ihm nach Berlin fliegen wollte. Ihr Pass wurde konfisziert."

In einem Artikel für die huffpo.fr hatte der französische Premierminister Manuel Valls die New York Times scharf angegriffen (unser Resümee). Er warf der Zeitung vor, Statements muslimischer Frauen, die sich über ihr schweres Leben in Frankreich beklagen, bei einem antikolonialen Sommer-Camp eingeholt zu haben.  Die New York Times wehrt sich gegen diesen Vorwurf. Valls sei falsch informiert, schreibt Alissa J. Rubin: "Unsere Geschichte war nach den Regeln des Metiers recherchiert und basierte auf Antworten von mehr als 1.200 Leserinnen auf eine Online-Umfrage in Englisch, Französisch und Arabisch, die die Ansichten muslimischer Frauen in Europa über das Burkini-Verbot in Erfahrung bringen wollte', sagt Danielle Rhoades Ha, eine Sprecherin der Times. 'Wir stehen zu dem Artikel.'" Auch Adrien Sénécat stützt in Le Monde die Version der New York Times. Ebenso Elsa Maudet in Libération, die konstatiert, dass die New York Times-Umfrage bereits vor dem Sommer-Camp gestartet wurde.

Valls' Artikel wurde inzwischen von der huffpo.de ins Deutsche übersetzt. Die New York Times hatte ihre Umfrage, die sich übrigens auch auf die deutsche Diskussion zum Burka-Verbot bezog, auf Twitter lanciert.



In der SZ erinnert sich Bahareh Ebrahimi daran, wie sie im Iran schon als Kind gezwungen wurde, Kopftuch zu tragen. Sobald sie im Westen ankam, legte sie es ab. Am Ende ihres Artikels setzt sie den Zwang, Kopftuch zu tragen, mit dem Burka-Verbot in westlichen Ländern gleich, weil "man durch Verbote die Anwesenheit der Frau im öffentlichen Raum reglementiert und wieder mal alle Aufmerksamkeit darauf richtet, die Kleidermenge der Frauen zu beurteilen".

Nicht nur deutsche Politiker versuchen sich einen kompatiblen Islam zu backen und stoßen auf Organisationen, die eher von islamischen Staaten oder Organisationen wie den Muslimbrüdern gesteuert werden. Auch in Frankreich sucht man seit Jahrzehnten nach einem "Islam de France", der etwa für die Ausbildung von Imamen sorgen und Ansprechpartner für die Institutionen sein könnte - vergebens, sagt der Islamwissenschaftler Rachid Benzine bei Slate.fr in einem Gespräch mit Henri Tincq: "Die traurige Wahrheit ist, dass die große Mehrheit der Muslime in Frankreich sich nicht im geringsten für die Organisierung des islamischen Kults interessiert! Und das seit dreißig Jahren. Aus zwei Gründen. Der erste ist, dass sie immer noch sehr dem traditionellen Islam ihrer Herkunftsländer verbunden sind, die ihnen die Lehre und Praktiken vermitteln. Der zweite Grund ist, dass sich die meisten den 'Diktaten' der Imame, Muftis und Organisationen in Frankreich nicht unterwerfen wollen. Das ist schwer zu verstehen für ein Land mit alter katholischer Tradition, das von dem 'cäsaro-papistischen' Modell dominiert wird, in dem das Wort von oben kommt, alle mit einschließt und alles kontrolliert."
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Kulturmarkt

(Via turi2) Der Börsenverein stellt Ende des Jahres seine Buchhandelsplattform buchhandel.de ein, berichtet buchreport.de. Buchhandel.de war zugleich die öffentliche zugängliche Version des "Verzeichnisses lieferbarer Bücher" (VLB): "Wirkliche Marktgängigkeit hat die Verbandslösung über die Jahre nie erreicht: Es wurden zuletzt laut MVB-Geschäftsführer Ronald Schild nur minimale Umsätze in der Größenordnung von 600.000 Euro im Jahr erzielt, also deutlich weniger als 1000 Euro pro angeschlossener Buchhandlung."
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Politik

Der UN-Menschenrechtsrat, dem Champions wie Saudi Arabien und die Volksrepublik China angehören, hat sich in den letzten Jahren vor allem als antiisraelische  Lobbyorganisation von sich reden gemacht. Nun hat der aktuelle Vorsitzende Seid al-Hussein den Rechtspopulismus in Europa angeprangert. Dominic Johnson fragt in der taz: "Wenn Europäer heutzutage auf die arabische und islamische Welt schauen, sehen sie religiöse Fanatiker und gruseln sich. Nun blickt ein arabischer UN-Verantwortlicher auf Europa und gruselt sich ebenfalls. Kann man es ihm verdenken?" Al-Husseins Intervention, die sich an Geert Wilders wendet, wird in der taz dokumentiert.

Auch der Telegraph resümiert Husseins Rede ausführlich: "Hussein räumte ein, dass die 'nationalistischen Demagogen' nicht die 'monströsen' Methoden des Islamischen Staats teilten. Aber sie benutzten ähnliche Taktiken - und Isis werde durch ihre Aktivitäten gestärkt. 'Beide Seiten profitieren voneinander und würden ohne ihre gegenseitige Einwirkung nicht expandieren', sagt Hussein, ein in Cambridge ausgebildeter Prinz aus der haschemitischen königlichen Familie in Jordanien."

Kurz vor der Rede Husseins fiel der UN-Menschenrechtsrat durch ein inzwischen gelöschtes Tweet auf, das danach fragte, ob man den Kapitalismus zu den dringlichsten Bedrohungen der Menschenrechte zählen muss. Menschenrechtsrat-Kritiker Hillel Neuer von unwatch.org hatte daraufhin bemerkt: "Derselbe UN-Menschenrechtsrat hat nicht ein Tweet über die dringende Menschenrechtskrise in Venezuela abgesetzt, wo dank der Attacken auf den freien Markt Millionen Menschen eine Hungersnot droht."
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