9punkt - Die Debattenrundschau

Die elementare Geste der Gabe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2016. "Das sind die Panama Papers des australischen Flüchtlings-Gulags" - der Guardian veröffentlicht die "Naura Files", die Gewalt und sexuellen Missbrauch in Flüchtlingslagern enthüllen, und spart nicht mit klaren Worten über die australische Flüchtlingspolitik. In der SZ schreibt Najem Wali über Flüchtlinge in Lesbos. Überall ist heute von Facebook die Rede: Facebook stoppt Adblocker, Facebook stoppt Clickbaiting, Facebook stoppt Zeit online aber nicht, promovierte Mathematiker einzustellen, um bei Facebook vorzukommen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2016 finden Sie hier

Politik

Der Guardian hat mal wieder einen Coup, von dem weltweit die Rede ist, die "Nauru Files". Zeit online erläutert: "Ein Leak von mehr als 2.000 Dokumenten zeigt die verzweifelte Lage der Menschen auf der Insel Nauru, auf der Australien ankommende Flüchtlinge unterbringt. Wie aus den vom britischen Guardian veröffentlichten 'Nauru-Files'hervorgeht, kommt es auf der Insel zu zahlreichen sexuellen Übergriffen, Missbrauchsfällen und Selbstverletzungen."

David Marr von Guardian Australia spart im Kommentar nicht mit klaren Worten: "These are the Panama papers of Australia's refugee gulag." Wo die Verantwortung liegt, ist für ihn auch klar: "Nauru ist Australiens Werk. Wir sind die Urheber dieser Verzweiflung. Diese Tausende von Berichten über das Flüchtlingsgefängnis stinken nach Elend. Es gibt hier keine Geschichte. Es ist jeden Tag dasselbe."

Auch in Lesbos sitzen Tausende Flüchtlinge fest, berichtet Najem Wali in der SZ. Da die Insel dem griechischen Militär unterstellt ist, darf man sich dem Lager ohne offizielle Erlaubnis nicht nähern: "Auf meine Frage, warum es nicht erlaubt ist, mit den Flüchtlingen zu reden, antwortet der Lagerleiter, er verfahre so, um die Menschen zu schützen, da diese fasteten, es sei schließlich Ramadan. Die Syrer und Iraker hingegen, die ich vor dem Lagereingang treffe, berichten ganz etwas anderes, nämlich dass nur wenige Flüchtlinge im Lager fasten. Die Lagerleitung enthält uns Essen vor, sagen sie, unter dem Vorwand, wir würden ja fasten. Offenbar wollen sie nicht, dass ihr die Wahrheit erfahrt, fügen sie hinzu. Ist das die Wahrheit? Die Liste ihrer Beschwerden jedenfalls ist lang: nicht nur, dass sie auf unbestimmte Zeit hier fest hängen, weder eine griechische Aufenthaltserlaubnis erhalten noch in die Länder abgeschoben werden, aus denen sie gekommen sind. Vor allem aber sind die Bedingungen, unter denen sie leben müssen, kaum als menschenwürdig zu bezeichnen."

In der FAZ beschreibt der Sozialwissenschaftler Didier Fassin den Rassismus in den USA, den er für notorisch hält. Das zeige sich nicht nur daran, dass junge Schwarze ein fünf Mal höheres Risiko tragen, von Polizisten erschossen zu werden, als junge Weiße, sondern auch an der allgemeinen schikanösen Behandlung Schwarzer durch Polizei, Behörden und Justiz: "Philando Castile, der bei einer wegen seines defekten Rücklichts vorgenommenen Verkehrskontrolle getötet wurde, war vor seinem Tod in knapp zwölf Jahren 46 Mal kontrolliert worden, manchmal mehrmals im Monat und fast immer wegen geringfügiger Verstöße. Sie führten ihn in einen Teufelskreis aus Geldbußen. ... Untersuchungen in mehreren Städten haben gezeigt, dass es sich um eine institutionalisierte Praxis handelt."
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Ideen

Um Donald Trump zu verstehen, meint David Auerbach in der Los Angeles Review of Books, muss man nicht zu Mussolini oder Hitler gucken, sondern zu Musil, genauer: zum Frauenmörder Christian Moosbrugger aus dem "Mann ohne Eigenschaften", der wie Trump unfähig ist, sich als Teil einer Gesellschaft zu empfinden und für den nur die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zählt. "Moosbrugger und Trump sind letztlich nur das, was wir in ihnen sehen. Solche Figuren sehnen sich nur danach, als wichtig empfunden zu werden. Weil sie so leer sind, sind sie konstitutionell unfähig, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Sie haben auch kein Gespür dafür, dass Worte und Gedanken mit einer äußeren Realität übereinstimmen sollten. Trumps grundlegende und pauschale Ignoranz gegenüber allen Dingen außerhalb von ihm selbst dient seinem Narzissmus. Wissen würde seine Fähigkeit behindern zu sein, was die Leute in ihm sehen wollen und wofür sie ihn lieben: 'So there he sat, the wild, captive threat of a dreaded act, like an uninhabited coral island in a boundless sea of scientific papers that surrounded him invisibly on all sides.'"

Silicon Valley trägt den neuen, datenverarbeitenden Kapitalismus jetzt auch in die Medizin, ruft besorgt Evgeny Morozov in der SZ. Und wird dabei womöglich von den altkapitalistischen Firmen ausgetrickst: "Technikfirmen sind die Einfallstore, durch die der alte Kapitalismus zu jenen Bereichen unseres Lebens vordringen kann, die bisher aus ethischen und politischen Gründen tabu waren. Wir mögen uns davor scheuen, Sensoren von Pfizer oder GSK zu schlucken, aber wenn wir sie von Google kostenlos bekommen - warum nicht? Indem der Kapitalismus zur Informationstechnologie wird, vermag er sich zu entpolitisieren, da er jede Opposition gegen sich als Widerstand gegen Wissenschaft und Technologie darstellt."
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Internet

Facebook wird Adblocker unterdrücken, schreibt Ingo Dachwitz auf Netzpolitik: "Weil man Nutzern bessere Möglichkeiten gebe, am Targeting der Werbung mitzuwirken, werde es in Zukunft weniger störende Werbung geben, argumentiert das Plattformunternehmen. Deshalb werde man jetzt auch denjenigen Nutzern Werbeanzeigen zeigen, die einen Ad-Blocker nutzen (andere Formen von Werbung, etwa gesponserte Inhalte, kann man bereits heute nicht vermeiden)."

In einem zweiten Artikel zeigt Dachwitz, wie Unternehmen wie Facebook zusehends die Öffentlichkeit strukturieren. Der soziale Dienst will per Algorithmus Clickbait-Überschriften ausfiltern: "Hierfür wurden laut Facebook zunächst offenbar händisch Zehntausende Überschriften als Clickbait kategorisiert. Ausschlaggebende Kriterien sollen dabei gewesen sein, ob Titel wichtige Informationen auslassen, die zum Verständnis des Kontextes wichtig sind, und ob sie Teile der Artikel so übertrieben darstellen, dass bei Nutzern falsche Erwartungen geweckt werden. Das algorithmische System hat diese Überschriften dann mit 'normalen' Überschriften verglichen, um gewisse Formulierungen zu identifizieren, die speziell als Klick-Köder verwendet werden."
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Medien

Grauenhafte Zukunftsperspektiven tun sich allen Medien auf, die nicht total auf Facebook setzen, wenn man Jochen Wegner von Zeit online im Gespräch mit Matthias Daniel bei journalist.de glaubt: "Als ich 2013 bei Zeit Online anfing, kamen zwei oder drei Prozent unserer User von Facebook. Wir hatten damals eine einzige Social-Media-Kollegin, die postete fünfmal am Tag einen Beitrag, alles andere wäre Spam gewesen. Heute postet die gesamte Redaktion 50-mal am Tag, vieles davon ist originär, wir haben ein Engagement-Team mit sechs und ein Audience Development mit weiteren drei Leuten. Gerade haben wir einen promovierten Mathematiker eingestellt, der bei uns Grundlagenforschung macht, weil wir bestimmte Bewegungen von Nutzern noch viel besser verstehen müssen. "
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Europa

Die beiden sehr jungen französischen Superlinks-Intellektuellen Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie haben neulich in Libération sehr scharf die französische Antiterrorpolitik angegriffen (unser Resümee). Felix Stephan resümiert die Diskussion, die inzwischen entstanden ist, auf Zeit online für deutsche Leser und zitiert vor allem aus der Antwort des franzöischen Premierminister Manuel Valls mit diesem Satz an die Adresse seiner Kontrahenten: "Wenn man ein Profil der Terroristen zeichnet, in dem die gemeinsamen Punkte die Exklusion, die soziale Verzweiflung sind - was im Übrigen bei Weitem nicht in jedem Fall feststeht - entwerfen Sie indirekt eine Form des Determinismus, die alle Jugendlichen in den Arbeitervierteln zu potenziellen Terroristen macht."

Jeremy Corbyn mag eine altmodische Politik vertreten, die Art, wie er Kampagne macht, ist es nicht, schreibt Paul Dallison in politico.eu. So entwickelte die Labour-Partei "eine Smartphone-App, indem sie um Hilfe von Experten bat. Corbyns Team musste nur in die Runde rufen: 'Ist ein Techniker hier?' In einer zweiten Übernahme aus der amerikanischen Sanders-Kampagne wird die Labour-Gruppe Momentum eine große Crowdfunding-Aktion starten, deren Geld direkt in den Kampf um den Labour-Vorsitz, und nicht an die Partei geht."
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Gesellschaft

Astrid Geisler und Lenz Jacobsen besuchen für Zeit online eine Veranstaltung der AfD in Mecklenburg-Vorpommern. Hier liegt die Partei bei 19 Prozent. Und sie gewinnt Anhänger nicht nur mit ausländerfeindlichen Parolen, sondern auch mit ihrer Inszenierung als Wende-Helden: "Spitzenkandidat Holm sagt jetzt: Jeder solle frei reden dürfen. 'Das war das, was wir '89 erreicht haben auf der Straße in der friedlichen Revolution und das dürfen wir uns jetzt nicht wegnehmen lassen!' Da klatschen die Männer und Frauen im Saal, zum ersten Mal überhaupt an diesem Abend. Es wirkt, als sei man in ein Wiedersehen von DDR-Oppositionellen geraten. ... Niemand im Saal fragt nach, was genau man eigentlich nicht mehr sagen darf in der Gegend um Gützkow. Das ist deshalb so verblüffend, weil Neonazis mit ihren Hassparolen in wenigen Regionen so selbstverständlicher Teil des Provinzlebens sind wie im ländlichen Vorpommern..."

Der Soziologe Tilman Allert schlendert für die NZZ über die "vide-greniers" in Frankreich. Das sind vor allem von den Einheimischen besuchte Flohmärkte, auf denen Ramsch getauscht wird: "Der Warentausch (oder der Tausch von Geld gegen eine Ware) ist, so darf man mit dem Anthropologen Marcel Mauss mutmaßen, entgegen den Prämissen der Nationalökonomie nicht eigentlich die Grundlage, sondern eine Abstraktion: Er geht auf die elementare Geste der Gabe zurück. Auf den 'vide-greniers' ließe sich - so gesehen - die Erfahrung des Gabentauschs machen, die Erfahrung einer die Gesellschaft untergründig verbindenden Gegenseitigkeit, einer Reziprozität, die im Unterschied zu den Abstraktionen der Börse und den komplexen Deals auf dem globalen Markt verstehbar ist."
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