9punkt - Die Debattenrundschau

Im Zweifel gegen den Nutzer

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2016. Die SZ huldigt dem Mut des chinesischen Anwalts Zhou Shifeng, der gerade in einem Schauprozess zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Im Freitag attackiert Correctiv-Autor Marcus Bensmann über Putins nützliche Idioten in der EU. In der NZZ wünscht Robert Harrison den heutigen Gesellschaften weniger Genialität und mehr Weisheit. In Glamour erklärt Barack Obama, warum er Feminist ist. Im Esquire bekundet Clint Eastwood seine Sympathie für Donald Trump.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.08.2016 finden Sie hier

Politik

Ausgerechnet in der Glamour erklärt Barack Obama in einem wahren Manifest, warum er Feminist ist: "Ich arbeite natürlich weiter an eine guten Politik - von gleichem Lohn für gleiche Arbeit bis zum Schutz der reproduktiven Rechte -, doch es gibt Veränderungen, die haben nichts mit der Verabschiedung neuer Gesetze zu tun. Die eigentlich wichtigsten Veränderungen sind auch die schwersten und die betreffen uns selbst... Michelle und ich haben unsere Töchter dazu erzogen, ihre Stimme zu erheben, wenn sie doppelte Maßstäbe erleben oder sich aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts ungerecht behandelt fühlen oder wenn sie bemerken, dass es jemand anderen widerfährt. Vorbilder, die sich hohe Ziele setzen, sind für sie wichtig. Und es wichtig für sie, dass ihr Vater Feminist ist, denn jetzt erwarten sie das von allen Männern."

Clint Eastwoods Sympathieerklärung für Donald Trump, die er im Magazin Esquire abgegeben hat, sollte man erst lesen, wenn man einen starken Kaffee getrunken hat: "Er liegt nicht so falsch, denn eigentlich sind wir alle abgegessen von der politischen Korrektheit, dem Einschleimen. Wir erleben gerade eine richtige Einschleim-Generation, eine echte Weicheier-Generation. Alle laufen auf rohen Eiern. Heute werden Leute beschuldigt, Rassisten zu sein und so'n Zeug. Früher hat man das nicht getan."

Kai Strittmatter lässt in der SZ keinen Zweifel daran, dass der in einem Schauprozess verurteilte Anwalt Zhou Shifeng Opfer eines Rachefeldzugs geworden ist. Nur Stunden nachdem er die Zeit-Mitarbeiterin Zhang Miao aus dem Gefängnis freibekommen hatte, wurde er zusammen mit 300 weiteren Anwälten im Juli 2015 verhaftet: "Vier Wochen vor seiner Verhaftung sagte er der SZ: 'Es ist ein Witz. Die KP spricht von der 'Herrschaft der Gesetze', und sie meint damit: Ich nehme meine Gesetze und beherrsche dich damit. Das ist keine gute Zeit, um Anwalt zu sein, oder? 'Im Gegenteil', sagte Zhou. 'Dies ist eine Zeit, die großartige Anwälte gebiert. Anwälte, die Mut, Weisheit und Gewissen brauchen. Kein spannenderer Ort für Anwälte im Moment als China.'"

Moralisch und juristisch skandalös findet Patrick Bahners
in der FAZ das Urteil des Oberlandesgericht Naumburg, mit dem der NPD-Funktionär Hans Püschel freigesprochen wurde, der den Holocaust als Märchen abtut. Das Gericht habe sich schon dummstellen müssen, um darin weder Leugnung noch Verharmlosung zu sehen.
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Europa

Nach dem Überfall auf die Correctiv-Redaktion erklärt der Journalist Marcus Bensmann im Interview mit Louisa Theresa Braun im Freitag, dass prorussische Agitatoren nicht an Debatten interessiert sind, sondern nur daran, sie kaputtzumachen. Und: "Es ist offensichtlich, dass die rechtsradikalen Parteien von Le Pen in Frankreich über die österreichische FPÖ bis hin zur AfD den Kontakt zum Kreml suchen und umgekehrt. Putin will die EU von innen sprengen und die rechtsradikalen Parteien dienen ihm als Hebel. Das ist schon ein Treppenwitz, dass ausgerechnet sogenannte 'patriotische' Parteien sich derart plump für die Interessen des Kremls gegen die demokratischen Institutionen des eigenen Landes aufstellen lassen."

In der Welt fordert die deutsch-türkische Autorin Cigdem Toprak europäischen Einsatz für eine friedliche und demokratische Türkei: "Der jüngste Flüchtlingsdeal kam wie ein Schlag ins Gesicht für jene Menschen in der Türkei, die sich stärker nach Europa sehnen als die Brüsseler Bürokraten selbst. Deshalb gilt es für uns Europäer stärker denn je, uns zu solidarisieren - mit jenen Menschen in der Türkei, die den Kampf für Demokratie atemlos fortführen. Jenen Kampf, den wir glücklicherweise beendet haben - aber wohl bald wieder aufnehmen müssen. Nicht nur der offenkundige Rassist oder Faschist bereitet Sorgen, sondern all jene, die unter dem Deckmantel von Demokratie und Freiheit diese von innen aushöhlen und zerstören."
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Stichwörter: AfD, Correctiv, Demokratie, FPÖ, Türkei

Internet

In der taz erklärt Senja Bergt, warum Daten auch ohne Namen individualisierbar sind. Gerade in der Autoindustrie gehe das große Sammeln los, schreibt Bergt, von der Motordrehzahl über die GPS-Position bis zur eingelegten CD: "Internetnutzer, Verwender von Fitnesstrackern und -apps, Autofahrer - ihnen allen ist gemein, dass die gesammelten Daten sensibel bis kompromittierend sein können; spezifische Werbung ist dabei noch das Harmloseste. Wenn die Daten erst mal beim Hersteller sind, bei der Versicherung oder bei Unbefugten, die sich in den Server gehackt haben und sämtliche Bewegungsprofile veröffentlichen, dann fragt niemand mehr, ob es stimmt, was das Auto da aufgezeichnet oder die Fitnessapp gemessen hat. Im Zweifel gegen den Nutzer."
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Gesellschaft

Im NZZ-Interview mit Andrea Köhler spricht der amerikanische Kulturwissenschaftler Robert Pogue Harrison über den schlechten Ruf des Älterwerdens, biologisches, evolutionäres, psychisches, geologisches und kulturelles Alter, die "Infantilisierung" der Gesellschaft und das Internet als "großen Friedhof", auf dem kulturelle Erinnerungen begraben werden: "Was in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren stattgefunden hat, ist ein massiver Verjüngungsprozess, ein Zuwachs an Genialität - im Sinne technologischer und wissenschaftlicher Innovation - und ein Verlust an Weisheit und Kontinuität. Weisheit gibt der Zukunft ein Fundament in der Vergangenheit. Genialität widersetzt sich den Zwängen der Tradition und erzeugt Neues. Die Herausforderung liegt darin, der Jugendlichkeit unseres Zeitalters neue kulturelle Formen der Reife zu geben."
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Ideen

So entzaubert, wie Weber, Feuerbach, Marx oder Freud uns glauben machen wollten, ist die Welt noch lange nicht, versichert der Schriftsteller Karl-Heinz Ott in der NZZ. Die Religionen leben weiter, allen voran der radikale Islam, allein die Weltbilder verlieren in immer schnellerem Rhythmus ihren Zauber, so Ott: "Seither folgt die eine Entzauberung der anderen, und zwar in immer kürzeren Abständen. Und trotzdem fallen wir nicht ins vollkommen Zauberlose. Bei aller Verwissenschaftlichung verwandeln wir uns nicht in rein rational tickende Wesen. Zwei Bereiche bleiben bereits für Max Weber unangetastet von jeder Entzauberung: die Erotik und die Kunst. Auch wenn die Erotik sich durch Kommerzialisierung profaniert und die Kunst in manchen Bereichen ihre eigene Entzauberung betreibt, sind wir hier wie dort mit Erfahrungen konfrontiert, die ihr Faszinosum behalten."
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