9punkt - Die Debattenrundschau

Neue Assoziationen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2016. "Ausweitung des Kampfgebiets". Slate.fr beschreibt, wie die IS-Schergen das französische Territorium systematisch mit Terror überziehen. Es gibt keine "Turboradikalisierung", schreibt Ahmad Mansour in der Welt. Politico.eu und taz beschreiben das gespannte Verhältnis Polens zum Papst, der das Land heute besuchen wird. Bei Zeit online fragt der Volkswirt Oliver Nachtwey, warum Deutschland bis heute kaum sozialen Aufstieg ermöglicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.07.2016 finden Sie hier

Europa

"Nicht nachgeben" - Titel der heutigen Libération.

Henri Tincq kommentiert den islamistischen Mord an einem Priester in der Normandie in Slate.fr: "Auch wenn das Frankreich der Revolution und des Terrors (damals schon!) von 1793 seine Kirchen nicht geschont hat und seine Märtyrer nicht zählte, hat es sich doch seit einem Jahrhundert - eine paradoxe Folge der Trennung von Kirche und Staat und der Laizität - mit der Kirche versöhnt, und seine Kirchen sind Orte der Kontemplation und des Friedens geworden. Die Priester werden weniger und immer ärmer und stehen im Dienst einer gläubigen oder ungläubigen Bevölkerung. Sie gehören zu den vertrautesten, heute am wenigsten gefürchteten Persönlichkeiten unseres sozialen Lebens. Oft sind es die Priester, die in schwierigen Banlieue-Vierteln ein Bindeglied zwischen den Communities bilden, das von Politikern und Institutionen geschätzt wird."

Ebenfalls in Slate.fr beschreibt Jean-Laurent Cassely die "Ausweitung des Kampfgebiets" durch die bewusst agierenden Schergen von Daesch. "Nachdem sie die Karte Frankreichs auf grausame Art neu zeichneten, indem sie eine große touristische Stadt an der Côte d'Azur angriffen, die das Eingangstor zu Frankreich im Südosten ist, dehnt der Islamische Staat sein Netz über das französische Territorium aus und greift eine kleine Stadt in der Normandie an. Jedes Mal laden sich Orte, die man als harmlos und friedlich ansah, mit neuen Assoziationen an Gewalt und Verzweiflung auf."

Trotzige Gelassenheit ist die derzeit angemessene Haltung gegenüber der Terrorgefahr in Deutschland, höre und lese man in MDR, WDR und der Zeit. Henryk M. Broder fragt sich in der Welt, wie "vernunftbegabte Menschen, die nicht mit Empathie geizen, wenn es um bedrohte Juchtenkäfer geht, dazu kommen, solche Überlegungen anzustellen, die rechentechnisch richtig sein mögen, aber von einer Missachtung der Opfer zeugen" und ärgert sich, dass überall irrelevante Details diskutiert würden - "war die Tatwaffe in Reutlingen eine Machete oder ein Dönermesser, standen die Täter auf der Lohnliste des IS, oder wurden sie nur vom IS inspiriert", was nur dazu diene "möglichst nicht darüber reden zu müssen, wie es so weit kommen konnte, dass 'Flüchtling' zum Synonym für 'Gefahr' werden konnte."

Es gibt keine "Turboradikalisierung", schreibt Ahmad Mansour in der Welt, und leider knüpft der Dschihadismus an den "ganz normalen" Islam an: "Oft bleibt Radikalisierung lange unsichtbar. Nach außen sieht man häufig höfliche, wenn auch ein wenig fromm wirkende Jugendliche. Auf ihrem Weg der Radikalisierung begegnen diese jungen Menschen vielem, was sie von klein auf kennen: einem Mufti oder Imam, der auf Israel und 'die Juden', auf den Westen und Amerika schimpft, einem Geistlichen, der Frauen nicht die Hand gibt, Väter, die Töchter für 'Unkeuschheit' und Söhne für 'Ungehorsam' bestrafen, weil sie gewagt haben, selber zu denken oder zu handeln."

Die Gleichschaltung in der Türkei wird auch in Details deutlich, schreibt Yavuz Baydar in der SZ: "Die irritierendste Nachricht ist vielleicht die von der Ernennung von İrfan Fidan zu Istanbuls Oberstaatsanwalt. Bislang war Fidan Anwalt der Antiterroreinheit von Istanbul. Das Bemerkenswerteste daran ist, dass Fidan Can Dündar und Erdem Gül von Cumhuriyet festnehmen und zu fünf Jahren Haft verurteilen ließ."
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Gesellschaft

Was die soziale Durchlässigkeit angeht, rangiert Deutschland seit Jahren auf den hinteren Plätzen. Auf Zeit online unterhalten sich Christoph Herwartz und Alexandra Endres mit dem Volkswirt Oliver Nachtwey über die Gründe: "Das ist nicht nur die Privatsache der Arbeiterfamilien. Es prägt das ganze Land. Es lässt Deutschland im 21. Jahrhundert immer noch wie eine Ständegesellschaft erscheinen. Akademiker werden seltener arbeitslos als Arbeiter und Angestellte ohne Studium, und sie haben bessere Chancen auf ein höheres Einkommen. Das bedeutet: Dass Arbeiterkinder es so selten an die Uni schaffen, zementiert die sozialen Ungleichheiten. Und die sind heute viel größer als früher. In der alten Bundesrepublik konnten auch Ungelernte ein gutes Auskommen finden. Heute gibt es für sie kaum noch Jobs, und die existierenden sind schlecht bezahlt, anstrengend und unsicher. 'Es gibt eine neue Unterschicht', sagt Nachtwey. 'In den sechziger, siebziger, achtziger Jahren haben sie einen sozialen Aufstieg erlebt. Heute geht das nicht mehr.'"
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Medien

Prominente Journalisten verlassen den Guardian, weil sie Abfindungsangebote angenommen haben, berichten Alex Spence und Joe Pompeo in politico.eu. Heute ist Betriebsversammlung: "Die Guardian Media Group, Muttergesellschaft der Zeitung, wird am heutigen Mittwoch wohl berichten, dass die Verluste wegen Abschreibungen im Magazinbereich und für Sozialpläne auf 173 Millionen Pfund explodiert sind. Im alltäglichen Betrieb wuchsen die Verluste auf 69 Millionen Pfund, 10 Millionen mehr als bisher erwartet."
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Stichwörter: Guardian

Politik

Bei allen Hinweisen auf Verbindungen zwischen Trump und Putin - Trump ist nicht Putins Kreatur, insistiert Masha Gessen im Blog der New York Review of Books: "Stellen Sie sich vor, ihr Kind baut eine Bombe und lässt sie in ihrem Haus explodieren. Das Haus stürzt um sie ein - und sie beschuldigen das Nachbarkind, das einen Kiesel an ihr Fenster geworfenhat. So sieht die aktuelle Putin-Fixierung aus - sie will das Faktum verdrängen, dass Trump eine durch und durch amerikanische Schöpfung ist, die eine Bedrohung für die amerikanische Demokratie darstellt."
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Religion

Papst Franziskus wird in Polen zum Jugendtag der Kirche erwartet. In politico.eu schildert der Papst-Biograf Austen Ivereigh das schwierige Verhältnis des erzkatholischen Landes zum Reformer: "Nicht nur, dass die Polen Johannes Paul II. als Modell aller Päpste sehen, es ist auch offensichtlich, dass die meisten polnischen Katholiken ihre Kirche - und ihre Kultur, denn die beiden sind nicht zu unterscheiden - als belagert ansehen. Ihre Mentalität wurde in Jahren des Widerstands gegen den Kommunismus geprägt, ein Erbe, das sich nun in Widerwillen gegen Säkularismus, Pluralismus und Moderne insgesamt ausdrückt. Es ist eine Mentalität, die Kampf und Verteidigung will und Werte wie Einheit, Gleichklang und Gewissheit hochhält - und Angst hat vor Vergiftung."

Auch Gabriele Lesser berichtet für die taz über den Besuch Franziskus' in Polen - sie weiß auch, dass sich statt der erhofften 1,5 Millionen nur 500.000 Pilger zum Jugendtag angemeldet haben. Ivereigh und Lesser thematisieren zwar die Nähe der polnischen Kirche zur populistischen Regierung, aber nicht das geplante mörderische Abtreibungsgesetz, das der Preis der Kirche für die Unterstützung der Pis-Partei war.

Außerdem: In der FAZ wird über Sinn und Unsinn eines Luther-Denkmals in Berlin diskutiert. Andreas Kilb warnt davor, das Projekt mit Ansprüchen zu überfrachten. Der Historiker Heinz Schilling erklärt, warum er ein Luther-Denkmal in Berlin aber auf jeden Fall richtig findet. Mehr auch im Tagesspiegel.
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