9punkt - Die Debattenrundschau

Endlose Bedrohung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2016. Heute ist CSD: Im Tagesspiegel macht sich Bundesjustizminister Heiko Maas für eine Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175 stark. In der Welt porträtiert Wolf Lepenies den syrischen Philosophen Sadiq al-Azm, der sich nach einen arabischen Mandela sehnt. Für Washington Post und New York Times hat "schlimmste Gefahr für Amerika seit dem Bürgerkrieg" einen Namen: Donald Trump. taz und Tagesspiegel analysieren die Lage in der Türkei. Die NZZ sehnt sich nicht ohne Grund nach Stille.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.07.2016 finden Sie hier

Europa

Die taz bringt ein Dossier zur Lage in der Türkei nach dem Putschversuch. Das Porträt des Autokraten durch die Erdogan-Biografin Cigdem Akyol lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: "Seine politische Agenda ist er selbst. Wenn man den frühen und den aktuellen Erdoğan vergleicht, wirkt der heutige wie ein gnadenloser Egoshooter. Mit jedem Wahlsieg wird er selbstherrlicher und autokratischer. Die AKP ist zur Machtbastion eines hyperzentralistischen Systems geworden, der Staat bis tief in seine Kapillaren mit Parteigängern durchsetzt. Erdoğan hat den Rechtsstaat ausgehöhlt, regierungskritische Institutionen für seine eigenen Interessen zurechtgeformt, Medien manipuliert, die Gesetzgebung korrumpiert."

Außerdem versucht die Journalistin Pinar Ögünc eine vorläufige Bilanz der letzten Tage. Und die Autorin Gaye Boralioglu ist sich sicher, dass Erdogan den Ausnahmezustand nutzen wird, um jeder Opposition den Garaus zu machen.

Der Islamwissenschaftler Walter Posch analysiert für die Causa-Seiten des Tagesspiegels die neue Struktur der Macht in der Türkei. Am beunruhigendsten sein Schluss: "Führerpersonen, zumal solche, die nicht oder nicht mehr über die finanziellen Mittel verfügen, ihrer Klientel zufrieden zu stellen, flüchten sich üblicher Weise in eine theatralische Außenpolitik. Da die Türkei im Gegensatz zu Saddam Hussein in den 1980er Jahren auf absehbare Zeit militärisch kaum in der Lage sein wird, klassische Machtprojektion zu betreiben, wird sich Erdogan auf ideologisierte Identitätspolitik stürzen. Damit kommt die europäische Diaspora in den Blickpunkt seines Interesses, was das lammfromme Schweigen der Europäer erklärt."

Der Schriftsteller und Polnisch-Übersetzer Martin Pollack wird von der neuen polnischen Regierung drangsaliert - unter anderem darf er nicht mehr eine Gesprächsreihe im Wiener Polen-Institut moderieren, weil er sich kritisch zu den Piefkes der Pis-Partei äußerte, schreibt Stephan Stach in der FAZ: "Ob das Vorgehen gegen den Publizisten ein Einzelfall ist und vor allem bleibt, wird sich zeigen. Momentan scheint es fraglich, ob das Außenministerium tatsächlich 'schwarze Listen' unerwünschter Personen an die ihm unterstellten Polnischen Institute versendet. "

Ziemlich skeptisch schreibt die Mafia-Expertin und Krimiautorin Petra Reski in der taz über den weithin gefeierten Matteo Renzi - und vor allem über dessen geplante Reform des Wahlrechts: "In Zukunft sitzen im Senat nicht mehr von den Bürgern gewählte, sondern von den Parteien bestimmte Bürgermeister und Regionalpräsidenten - die so auch noch in den Genuss der parlamentarischen Immunität kommen. Von dieser Machtfülle hat Berlusconi vergeblich geträumt."
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Politik

Wolf Lepenies porträtiert in der Welt den syrischen Philosophen Sadiq al-Azm, der nicht nur als einer der wenigen arabischen Intellektuellen Salman Rushdie verteidigte, sondern stets bis zur Tollkühnheit versuchte, sein Heimatland, etwa durch Aufrufe zu areligiöser Erziehung oder die Hoffnung eines durch muslimische Emigranten geprägten "Europäischen Islam" zu modernisieren. Nach dem Scheitern des arabischen Frühlings kritisiert al-Azm nicht nur den Westen, der nichts gegen die schiitischen Hisbollah-Milizen unternahm, sondern auch seine Landsleute. Es gab "keine politischen Führer. Ich selbst hatte gehofft, dass im Laufe der Entwicklung aus den Massen solche Persönlichkeiten hervorgehen würden, aber dazu kam es nicht. Wenn ich gefragt werde, was ich mir für Syrien für die nahe Zukunft wünsche, sage ich: Idealerweise sollten wir einen Mandela haben. Aber ein Mandela erscheint nur einmal in einem Jahrhundert."

Wenn so etwas als die offizielle Meinung einer der führenden Zeitungen eines Landes über einen nominierten Präsidentschaftskandidaten geäußert wird, muss wohl etwas schieflaufen im Land. Das "Editorial Board" der Washington Post schreibt über Donald Trump: "Der Immobilientycoon ist sowohl von Erfahrung her als auch von charakterlich völlig unqualifiziert für das Amt des Präsidenten. Er macht einen Wahlkampf aus Hohn und Verleumdung, ohne Substanz. So weit er Ansichten zu bestimmten Themen hat, beinhalten sie eine falsche Diagnose der amerikanischen Probleme und gefährliche Lösungsvorschläge. Trumps Politik der üblen Nachrede und Spaltung könnte die Bindungen, die eine vielfältige Gesellschaft braucht, zerreißen." Und für Timothy Egan in der New York Times ist Trump schlicht die größte Gefahr für Amerika seit dem Bürgerkrieg.
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Überwachung

Die immer raffiniertere Digitalisierung von überwachung verändert das Verhältnis von Staat und Bürger, sagt die Philosophin Beate Rössler im Gespräch mit Fridtjof Küchemann von der FAZ. Der Staat kündige sein Vertrauen auf: "Die wirklich konstitutive Dimension dieses Vertrauens wird beschädigt, weil wir vom Subjekt zum Objekt - der Beobachtung - gemacht werden. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, die Unschuldsvermutung würde außer Kraft gesetzt. Aber sie wird abgeschwächt in ihrer Bedeutung für den Rechtsstaat. Und das halte ich wirklich für fatal."
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Gesellschaft

Heute ist in Berlin Christopher Street Day. Bundesjustizminister Heiko Maas macht sich die Forderung nach Rehabilitierung von Opfern des Paragrafen 175 im Tagesspiegel zu eigen und berichtet von einem Treffen mit einem älteren Homosexuellen, der noch nach nach Paragraf 175 ins Gefängnis gesteckt wurde, "in Einzelhaft, damit er angeblich keine anderen Gefangenen mit seinem 'Schwulsein' ansteckte. Heute klingt das lachhaft, aber als ich Klaus Born gegenübersaß, habe ich gespürt, wie sehr ihm die Verfolgung und Haft zugesetzt haben... Aber diese Geschichte ist noch nicht beendet, denn die Verurteilungen aufgrund des Paragrafen 175 gelten in Deutschland bis heute. Auch wenn Homosexualität seit Langem legal ist, Klaus Born ist noch immer vorbestraft. Das ist eine Schande für unseren Rechtsstaat, und es ist überfällig, die Opfer des Paragrafen 175 zu rehabilitieren."

Liberation versucht in einigen Artikeln zu reflektieren, welche psychologischen Folgen Terroranschläge wie der von Nizza für eine Gesellschaft haben. "Die Eigenschaft jeder Hasspropaganda wie jeder Anstachelung zu einem Verbrechen", schreibt Marc Crépon, "ist es, dass sie die Täter und ihre Organisationen überdauern. Die Angst vor einer endlosen Bedrohung, einer nicht abzusenkenden Alarmstufe, ist legitim. Wer sollte uns diese Angst vorwerfen? Und doch bedeutet ihre ständige Präsenz, die das erste Ziel eines Terrorismus ist, den ersten Sieg der Terroristen."

Mehr zur Psychologie des Terrors auf der Täterseite in der FAZ: Joseph Croitoru berichtet, dass immer mehr militante IS-Anhänger auch Familienmitglieder ermorden, die sie an der Radikalisierung hindern wollen.

Die NZZ widmet sich heute ganz der Sehnsucht nach Stille. Der Historiker Peter Payer spürt dem Lärm der Großstadt und der Überreizung des Hörsinns in der Moderne nach. Während heute die "Medialisierung des öffentlichen Raumes" beklagt wird, führten einst Peitschenknallen, Kutscherschreie, Fahrradklingeln und Autohupen zu Unmut: "Waren sie nicht Ausdruck von Rücksichtslosigkeit und Unzivilisiertheit oder Zeichen eines eitlen Imponiergehabes? Am stärksten beleidigt fühlten sich die bürgerlichen Ohren aber durch fast allerorts vernehmbare musikalische Darbietungen: das aus unzähligen Wohnungen tönende Klavierspiel und die Musik der in immer mehr Höfen auftretenden Drehorgelspieler beziehungsweise Werkelmänner. Die Rede von einer 'Klavierseuche' und 'Werkelmannplage' geisterte durch die Printmedien jener Zeit. Stefan Betschon erklärt die "Erfindung des Rauschens" durch die Mathematiker Claude Shannon und Norbert Wiener. Außerdem schreiben im Dossier Literatur und Kunst Sibylle Lewitscharoff (hier), Sieglinde Geisel (hier) und Ueli Bernays (hier).

Außerdem: Im Aufmacher der SZ erklärt Johan Schloemann, "warum die Philosophin Elselijn Kingma die Schwangerschaft ganz neu erklären will".
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Medien

Die Medienseite der SZ gibt dem ZDF-Anchor Man Claus Kleber eine ganze Seite, um auf Kritik an der oft hilflos wirkenden akuten Krisen-Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen zu antworten. Sein Ergebnis lautet wie stets: "Wir arbeiten auf schwankendem Grund, wir machen das selten perfekt. Aber wir sind auf dem richtigen Weg."
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