9punkt - Die Debattenrundschau

Was stimmte und was Erfindung war

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2016. Der Mittelschicht ist unwohl, konstatiert der Soziologe François Dubet in der SZ. In Le Monde fragt Alain Touraine, warum die französische Linke nie fähig war, sich zu modernisieren. Im Guardian verteidigt David Graeber den Labour-Chef Jeremy Corbyn. Die FAZ beschreibt, wie der Kreml die tschechische Öffentlichkeit untergräbt. Und bei Carta beschreibt Christoph Kappes, wie das Internet den Journalismus in Frage stellt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.07.2016 finden Sie hier

Europa

Marine Le Pen wird gerade nicht vom Brexit profitieren, meint Nicholas Vinocur in politico.eu. Die Unsicherheiten für die Briten nach dem Votum sind einfach zu abtörnend, um der offiziell vom Brexit inspirierten Front-National-Politikerin Rückenwind zu geben: "Vor dem Votum hatten Frankreich und Britannien gleich viel Euroskeptizismus. Eine Pew-Umfrage zeigte sogar, dass das Misstrauen in die EU in Frankreich höher war als jenseits des Kanals - Frankreich lag an zweiter Stelle nach Griechenland. Aber die EU nicht zu mögen, ist nicht dasselbe wie sie loswerden zu wollen. Seit dem Brexit-Votum vom 23. Juni zeigen Umfragen, dass die Franzosen mehrheitlich im Block bleiben wollen, und es gibt auch keine klare Mehrheit für ein Referendum."

Man sollte Rechtspopulisten immer bei inneren Widersprüchen packen - dann zerlegen sie sich selbst, so wie jetzt die AfD-Franktion in Baden-Württemberg, die sich über antisemitische Sprüche ihres Mitglieds Wolfgang Gedeon zerstritten hat. Marcus Bensmann liest in Correctiv.org ein Papier Gedeons, das parteiintern auf große Zustimmung stieß und antisemitische und und antiamerikanische Stoßrichtung hat: "Der thüringische AfD-Sprecher Björn Höcke hat Gedeons Schrift im Dezember 2015 auf Facebook ausdrücklich gelobt und zur Lektüre empfohlen. Höcke würdigte Gedeons Arbeit in einem ausführlichen Beitrag."

Im Guardian verteidigt David Graeber Labours Jeremy Corbyn gegen Vorwürfe, er hätte sich nicht oder nur halbherzig für den Verbleib der Briten in der EU eingesetzt. So können nur Eliten sprechen, meint er: "Dass er kein Demagoge ist, nicht besonders scharf darauf zu sein scheint, Premierminister zu werden, aber dennoch bereit ist, dieses Ziel für den Erfolg der Bewegung anzustreben - das genau macht für die Corbynistas seine größte Qualität aus. Während die eine Seite ihn anklagt, während der Brexit-Debatte nicht den Demagogen gespielt zu haben, ist für die andere Seite sein Beharren, die Öffentlichkeit als verantwortungsbewusste Erwachsene zu behandeln, die Quintessenz einer 'neuen Art von Politik', die sie sich wünscht." Ebenfalls im Guardian beschreibt Rafael Behr in einem sehr langen Artikel die Remain-Kampagne und ihr Versagen.

In seinem Nachruf auf Michel Rocard sagt der Soziologe Alain Touraine (der lange als Gegenspieler Pierre Bourdieus galt) in Le Monde ein paar Wahrheiten über die französische Linke: Rocard "wurde an den Rand gestellt, weil Frankreich sich permanent von den Erfordernissen der Gegenwart und der Zukunft abwandte... Während Europa die Sozialdemokratie wählte, allen voran Deutschland, blieb Frankreich lange eingeschlossen im Traum einer 'revolutionären' Politik, der nach der Teilung Europas durch Jalta doch unmöglich geworden war."
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Gesellschaft

Der Mittelschicht ist unwohl, sagt der französische Soziologe François Dubet im Gespräch mit Alex Rühle von der SZ: "Viele Mitglieder der Mittelschicht haben das Gefühl, dass sie alleingelassen wurden zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen, mit denen sie nichts gemein haben. Die alte Arbeiterklasse wurde abgelöst von einer Unterschicht, die assoziiert wird mit den Banlieues, mit Einwanderung, Armut, Kleinverbrechen. Wir sprechen darüber ähnlich angstbesetzt, wie im 19. Jahrhundert über die 'gefährlichen Klassen' geredet wurde, die angeblich die soziale Ordnung bedrohen. Auf der anderen Seite werden die Wirtschaftsführer nicht mehr als nationale Bourgeoisie wahrgenommen, sondern als kosmopolitische Superreiche, die mit ihrem eigenen Land nichts mehr zu tun haben wollen."

In seinem Zeit-Blog listet Yassin Musharbash die jüngsten Attentate islamistischer Terroristen auf, die hunderte Menschen das Leben gekostet haben: In Jordanien, Amerika (Orlando), Libanon, Istanbul, Bangladesch, Bagdad, Saudi-Arabien. Nicht dabei die Mordserien in Israel und in Nigeria, wo Boko Haram im Juni bei einer Trauerfeier 18 Frauen erschoss. Einer der Gründe für die blutige Anschlagserie mag der Ramadan sein, meint Musharbash und zitiert aus einem Chat, den Amarnath Amarasingam von der kanadischen Dalhousie University mit einem Anhänger des "Islamischen Staats" geführt hat. "'Könnte es sein', fragte Amarasingam weiter, 'dass der Zweck war, von den Verlusten in Syrien abzulenken?' 'Nein', antwortete der IS-Sympathisant. 'Wir sind uns der Verluste im Irak und in Syrien vollständig bewusst. Es ist, weil der Ramadan der heilige Monat des Dschihad ist. Die Leute wollen die Ehre haben, im Ramadan zu Märtyrern zu werden.'"

In der FAZ schildert Till Fähnders die schockierten Reaktionen in Bangladesch, wo sich jetzt herausstellte, dass mindestens drei der fünf islamistischen Attentäter, die in einem Cafe 20 Geiseln ermordeten, aus absolut privilegierten Familien kamen.
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Religion

Arno Widmann unterhält sich in der FR mit dem Neutestamentler Gerd Lüdemann, der siebzig Jahre alt wird und seine fromme Biografie erzählt: "Ich wollte unbedingt Theologie studieren, um zu begreifen, was an den Evangelien stimmte und was Erfindung war. Ich wollte mir von niemandem etwas vormachen lassen. Ich wollte auch von Anfang an Professor für Neutestamentliche Theologie werden. Das war mein Ehrgeiz. Mit der Kirche und ihrer Hierarchie hatte ich nichts am Hut. Das hatte damals niemand."
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Internet

Wann hört man hierzulande schon mal, dass ein Millionär Geld spendet, um das Internet voranzubringen? "Das Berkman Center for Internet & Society an der Harvard Law School hat 15 Millionen Dollar von dem Juristen Michael R. Klein erhalten", meldet Markus Beckedahl in Netzpolitik. "Klein hatte dank eines Stipendiums an der Harvard Law School studieren können und konnte danach ein Vermögen aufbauen. Er ist derzeit unter anderem Vorsitzender der Sunlight Foundation, einer der führenden Organisationen rund um Open Data und Transparenz."
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Medien

Silke Burmester hört mit ihrer Medienkolumne in der taz auf. Manchmal, so schreibt sie zum Abschied, fühlte sie sich mit ihrer Medienkritik zu allein auf weiter Flur. Geärgert habe sie, "dass es nicht zum Selbstverständnis von Journalisten gehört, sich mit Kollegen anzulegen. Und schon gar nicht mit den Bossen. Wir sind eine Branche der Schisser und Anpasser, die zwar groß darin ist, Fehler bei anderen zu suchen, aber sich heulend in der Ecke verkriecht, wenn sie ihre Arbeitsbedingungen benennen soll. Ich habe keine Lust mehr, den Kopf hinzuhalten."

Auch in Tschechien machen Kremlanhänger massiv Propaganda für Putin, berichtet Joseph Croitoru in der FAZ, und sie nehmen dabei Einfluss auf höchste Kreise. Gelernt hat er das aus einem Bericht von Jakub Janda, dem stellvertretenden Vorsitzenden der tschechischen NGO "Evropské hodnoty" (Europäische Werte), einem "proeuropäisch ausgerichteten Thinktank junger Forscher", wie Croitoru schreibt: Die kremltreue Website NWOO zum Beispiel ist "ganz und gar auf Verschwörungstheorien spezialisiert. Das tschechische Staatsfernsehen werde hier, so Jakob Janda in seinem Bericht, beschuldigt, sich dem Diktat der EU-Kommission und auch dem von 'Freimaurern und Illuminaten-Kreisen' zu unterwerfen. Umso verwerflicher sei es, dass sich der Chef des staatlichen Rundfunks von der 'Vereinigung unabhängiger Medien' nicht nur hofieren lasse, sondern auch dem von ihr ausgelobten Journalismus-Preis durch seine Mitwirkung zu öffentlicher Anerkennung verhelfe."

In Russland selbst gibt es kaum noch unabhängige Medien, erklärt der Autor Dmitry Glukhovsky im online nachgereichten Interview mit der Zeit: "Sämtliche Medien, wirklich alle, auch die privaten, sind im Putin-Umkreis konzentriert. Nicht nur bei Gazprom, sondern auch bei seinen alten Schulfreunden. Diese Allianz übt finanzielle Kontrolle aus. In diesen Medien war bisher sogar eine relativ freie Meinungsäußerung möglich. Seit der Krimkrise sind sie nun aktive Propagandawerkzeuge geworden. Themen werden gezielt verschwiegen, eine zutreffende Berichterstattung wird umstellt mit abweichenden Versionen oder zugespitzt auf Aspekte, die Hass gegenüber der Ukraine und dem Westen erzeugen." Bei den Jüngeren ist aber offenbar antidemokratische Propaganda nicht mal mehr nötig: "In den sozialen Netzwerken ist Stalin Kult, schon unter den 13-, 14-Jährigen. Obwohl keine Pro-Stalin-Propaganda stattfindet, ist Stalin Pop, er ist der Che Guevara der russischen Teenager. Dieser Kult kam spontan, er ist nicht fabriziert worden." Im Zeit-Blog Freitext beschreibt der weißrussische Autor Viktor Martinowitsch wie der Stalinismus auch die russische Kunst erobert.

Software- und Medienunternehmer Christoph Kappes denkt in einem ausführlichen Essay bei Carta über den Medienwandel und Journalismus in Internetzeiten nach: "Die Kritikmaschine Internet stellt jede Aussage in Zweifel - und dies auch noch direkt an den Produkten des Journalismus. Es werden also nicht etwa nur Texte kritisiert, es wird mit den Texten immer auch Journalismus als Institution (soziale Praxis) kritisiert. Die Vertrauenskrise des Journalismus lässt sich also recht gut ohne selbstgemachte Ursachen des Journalismus erklären: sie hat mit Gesellschaft und Kommunikationsmitteln zu tun."
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Ideen

Altruismus muss nach Ansicht einiger Philosophen und Soziologen nicht unbedingt mit Emotionen zusammenhängen, lernen wir von Uwe Justus Wenzel, der sich in der NZZ mit der philosophischen Bewegung des effektiven Altruismus beschäftigt. Vor kurzem veröffentlichte Peter Singer, Verteidiger des ethischen Utilitarismus, sein Buch über den effektiven Altruismus und löste damit eine hitzige Debatte aus. "Einige der optimierenden Altruisten akzentuieren..., dass Gefühle sich bei ihrem Geschäft planvoller Weltverbesserung nur zu oft als hinderlich erweisen. Sie stützen ihre Ansicht auf verhaltenspsychologische Studien, die belegen, dass zu viel emotionale Empathie zu unvernünftigen Entscheidungen führe. So sind etwa Spender, denen die Fotografie eines Kindes vorgelegt wird, das überlebensnotwendiger medizinischer Hilfe bedarf, bereit, mehr Geld für dieses eine Kind zu geben als für acht Kinder, ...deren Rettung insgesamt dieselbe Summe Geldes erforderte."
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