9punkt - Die Debattenrundschau

Wer ein Produkt sehr teuer ersteht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2016. In der Welt ist der Russland-Historiker Karl Schlögel geradezu verzweifelt über die deutschen Putin-Fans. Schon einmal hat man geglaubt, dass der Friede ewig währen würde, das war kurz vor 1914, meint Politico.eu. Martin Schulz fordert in der FAZ eine europäische Regierung mit einem richtigen Parlament. In der NZZ erklärt der Stanforder Literaturwissenschaftler Adrian Daub das Problem des Silicon Valley mit der Männlichkeit. Was ist das eigentlich, was die ARD und das ZDF mit der EM machen?, fragt die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.07.2016 finden Sie hier

Europa

Was ist von einem EU-Parlamentspräsidenten zu halten, der sich ausgerechnet in der FAZ an die Bürger wendet - einem Medium, das seinen Text nicht online stellt? (Jedenfalls nicht im Moment des Erscheinens.)

Martin Schulz bekennt in seinem Text auf der Gegenwartsseite der FAZ seine persönliche Erschütterung über den Brexit und fragt zerknirscht. "Was haben wir falsch gemacht, dass viele Menschen das Gefühl haben, sie müssten die EU erleiden?" Am Ende stellt er die zu erwartende Forderung: "Wir werden nicht umhinkommen, die Europäische Kommission künftig zu einer echten europäischen Regierung umzubauen, einer Regierung, die der parlamentarischen Kontrolle des Europaparlaments und einer zweiten Kammer, bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten, unterworfen wird. Diese Struktur, die die Menschen aus ihren Heimatländern kennen, wird politische Verantwortlichkeit auf der EU-Ebene transparenter machen."

Ein "Exzess des Glaubens an die Märkte" hat zum Brexit geführt, meint Michael Hirsh in politico.eu und zieht eine dunkle Parallele: "Die meisten Leute vergessen, dass die Ära der Globalisierung vor 1914 ebenfalls ein Moment des Friedens war, den die Welt für abgesichert hielt - eine glückliche Zeit, wie John Maynard Keynes schrieb: 'Ein Einwohner Londons konnte per Telefon, während er morgens im Bett an seinem Frühstückstee nippte, alle Produkte der Erde bestellen.' Auch damals gab es Selbstzufriedenheit, wie die des Autors Norman Angell, der in seinem Buch 'The Great Illusion' 1910, vier Jahre vor dem großen Krieg, beteuerte, dass ökonomische Interdependenzen einen größeren neuen Krieg verhindern würden - stattdessen kamen zwei."

Einen seltsamen Widerspruch im britischen Denken - geteilt von Leave und Remain - macht Jan Kedves in der SZ aus: "Ja, dass das Europäische Parlament ihnen bis ins Allerletzte vorschreibe, was sie zu tun und zu lassen hätten - diesen Mythos haben Boris Johnson und Nigel Farage den Briten wirklich tief in die Köpfe gehämmert. Seltsam nur, dass sie ausgerechnet mit Blick auf Brüssel jetzt ihre Liebe zu mehr, zu direkterer Demokratie entdecken, und nicht auch mit Blick auf London. Denn wer auch immer im September die Nachfolge von David Cameron antreten kann, wird vielleicht gar nicht vom Volk gewählt. Das House of Lords wird sowieso nie vom Volk gewählt. Ganz zu schweigen von der allerbeliebtesten Frau im ganzen Land..."

Der russische Thinktank "Dialog der Zivilisationen", geleitet von Wladimir Jakunin, einem einstigen KGB-Chef (mehr dazu in Karen Dawishas Buch "Putin's Kleptocracy"), zieht von Wien nach Berlin. Klarer Fall, denn in Berlin wird die eigentliche Politik gemacht und hier sitzen die Putin-Freunde - von der Linken über die Sozialdemokraten bis zur CSU und der AfD. In der Welt ist der Russland-Historiker Karl Schlögel geradezu verzweifelt über die deutschen "Putin-Fans, die es eben mehr mit Putin halten als mit dem Land, dem sie von oben herab immer wieder bescheinigen, dass es 'nicht so weit sei' und dass man keine 'westlichen Maßstäbe' anlegen dürfe, kurzum: dass es zu rückständig sei, um für die Demokratie reif zu sein. Die alte Überheblichkeit des Westens im Gewand der Russophilie."

Michel Rocard ist gestorben, die leider nie erfüllte Hoffnung einer französischen Sozialdemokratie. Renaud Dély von Marianne hatte den 85-Jährigen noch im Mai getroffen: "Michel Rocard sammelt seine letzten Kräfte. Er hat hohle Wangen, seine Augen sind starr. Er atmet, verkrampft sich. Und ächzt in einem Atemzug: 'Wenn man den intellektuellen Mörder des Sozialismus benennen sollte...' Pause. Seine Augen blitzen. 'Dann handelt es sich um François Mitterrand!' Es ist der 28. Mai 2015, und der ehemalige Premierminister kommt einmal mehr auf das Thema zurück, das sein Leben vergiftete, François Mitterrand."
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Politik

In der Berliner Zeitung fragt Götz Aly, ob man die Al-Quds-Demonstration in Berlin nicht verbieten sollte, denn dort werde regelmäßig das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. "Am vergangenen Sonnabend lauteten die Parolen 'Zionisten sind Faschisten!' oder 'Wir werden siegen!'. Man kann das als Berliner Protestfolklore abtun, aber trotz einiger einschränkender Auflagen des Innensenators wurden eben auch Plakate mitgetragen, auf denen Forderungen standen wie diese: 'Israel raus aus Palästina!' Damit ist das gesamte einst britische Mandatsgebiet Palästina gemeint. Genau gelesen bedeutet der Text: Jüdische Israelis raus aus Israel."
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Medien

Eine gewisse Krux der ARD- und ZDF-Berichterstattung über die Fußball-EM benennt Markus Völker in der taz. Es ist eigentlich nicht Berichterstattung: "Wer als Zuschauer den irrigen Anspruch hat, von den Fußballrechteeinkäufern, noch dazu im Taumel eines deutschen Sieges, Journalistisches geliefert zu bekommen, der fühlt sich nicht gut. Er sollte sich aber auch nichts vormachen: Wer wie die ARD und das ZDF ein Produkt sehr teuer ersteht, an Zuschauer und Werbekunden weiterverscherbelt, der wird dieses Produkt nicht schlechtreden. "
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Geschichte

Elie Wiesel ist gestorben. William Totok erzählt in der taz, dass sich der Friedensnobelpreisträger nach der Wende für die Aufarbeitung der Geschichte - und das heißt der auch der Kollaboration - in osteuropäischen Ländern wie Rumänien und Ungarn einsetzte und dafür Orden dieser Länder erhielt: "Aus Protest gegen die aggressiven rechtsextremen Tendenzen in diesen Ländern, die von offiziellen Stellen toleriert werden, gab Wiesel die Orden zurück. 2004 an die Führung Rumäniens, 2012 an die Regierung Viktor Orbáns. Anlass dieser Entscheidung war die Umbettung des ungarischen Blut-und-Boden-Dichters József Nyírő (1889 bis 1953) in Siebenbürgen. An den in Siebenbürgen organisierten Feierlichkeiten war auch der damalige ungarische Kulturminister Szöcs Geza beteiligt."

Weitere Nachrufe in der NZZ, Libération, New York Times, The Daily Beast, FAZ, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Zeit, Welt.

Weiteres: In der Zeit erinnert Hilmar Sack an die Schlacht von Königgrätz vor 150 Jahren. In der FR schreibt dazu Horst Dieter Schlosser.
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Gesellschaft

"Das Silicon Valley hat ein Problem mit der Männlichkeit", erklärt Adrian Daub, Literaturwissenschaftler in Stanford, in der NZZ. Fälle wie der von Peter Thiel finanzierte Prozess Hulk Hogan gegen Gawker wären der Beweis für ein erschreckend rückschrittliches Rollenverständnis und altmodischen Männerkult in der "radikalliberalen" Francisco Bay Area. "Es gibt unter den Programmierern und Venture-Capitalists einen besonderen Stil der Männlichkeit... Die Unterscheidungen, nach denen diese Kultur funktioniert, sind so plump binär codiert, dass Judith Butler es verschmähen würde, sie überhaupt zu dekonstruieren. In Stanford unterscheiden die Studenten zwischen 'Techies' und 'Fuzzies' - jenen, die technisch-wissenschaftlich, und denen, die sozial- oder kulturwissenschaftlich arbeiten: Fuzzy heißt unscharf, weichgezeichnet, flauschig, schwach. Tech dagegen ist hart, präzise, stark, Männerarbeit eben. Was genau am Tippen an Computern besonders mannhaft sein soll, erklärt keiner so genau."

Im Tagesspiegel kritisiert Jost Müller-Neuhof die geplante Reform des Sexualstrafrechts. Sie werde ganz sicher nicht zu mehr Verurteilungen führen. Und dann? "Dies wiederum wird stark politisierten Gemütern Anlass dafür sein, die nächste Stufe zu zünden, nach der endlich die 'Ja heißt ja'-Regel ins Gesetz geschrieben werden müsse: Sexualität nur noch bei ausdrücklichem Einverständnis. Der Trend geht dahin, auch dank zunehmender Nutzung elektronischer Anbahnungssysteme. Aber vorauseilen muss das Strafrecht dem nicht. Unter den Bedingungen, unter denen sie jetzt verabschiedet wird, verspricht die Reform etwas, das sie nie einlösen wird. Als Zutat erhält sie ein in seiner grotesken Überflüssigkeit fast lächerliches Tanzdelikt, ganz so, als könne verklemmten Nordafrikanern damit ihr Machismo ausgetrieben werden. Die große politische Einigkeit kaschiert den bescheidenen politischen Kern."
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Ideen

In einem epischen Interview mit dem Deutschlandfunk spricht Ulrich Raulff über die Bedeutung von Debatten-Zeitschriften im Allgemeinen und der Zeitschrift für Ideengeschichte, die er mitherausgibt, im Besonderen. Auch der deutsche Essay ist "nicht mehr unter der Gürtellinie tot", lernen wir: "Es gab auch auf unserer Seite, was weiß ich, sehr elegante und vielleicht auch erotische Figuren. Also denken Sie an Peter Szondi - ich persönlich habe ihn nicht gekannt, aber das, was ich höre, lässt mir doch das Bild eines äußerst attraktiven und begehrenswerten Mannes vor Augen treten. Gut, wir haben es ja auch nicht immer nur mit Männern zu tun, gottlob, in der intellektuellen Szene."
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Stichwörter: Raulff, Ulrich