9punkt - Die Debattenrundschau

Den Algorithmus massieren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2016. Litauen diskutiert erregt über ein Buch, das die Kollaboration von Bürgern des Landes beim Holocaust thematisiert, berichtet die NZZ. In der FAZ wirbt der muslimische Theologe Abdel-Hakim Ourghi für Islam-Unterricht an den Schulen. Nicht die Tendenz der "Trending Topics" ist für Facebook peinlich, sondern, dass das Unternehmen seine Redakteure versteckt, meint die New York Times. Politico.eu kritisiert das geschönte Geschichtsbild vieler Engländer.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.05.2016 finden Sie hier

Geschichte

Auch Litauen stellt sich seiner jüngsten Vergangenheit, berichtet Judith Leister in der NZZ. Auslöser ist ein Sachbuch der litauischen Journalistin Ruta Vanagaite, "Musiskiai" ("Die Unsrigen"), das erstmals einem breiten Publikum darlegt, wieviele Litauer an der Ermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg beteiligt waren: "Der in der Forschung vielfach belegte Fakt, dass Litauer sich an ihren jüdischen Nachbarn vergingen und dass es litauische Polizeibataillone waren, die die Massenexekutionen durchführten, sorgt in dem baltischen Land für Aufregung. Die erste Auflage von 'Musiskiai' im Februar war nach anderthalb Tagen vergriffen. Inzwischen sind 19 000 Exemplare auf dem Markt. Zum Vergleich: Üblicherweise erscheinen Bücher in dem 2,8-Millionen-Einwohner-Land mit einer Auflage von 1500."
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Religion

Der muslimische Theologe Abdel-Hakim Ourghi kritisiert im FAZ.Net den Koranunterricht an Moscheen als schematisch und autoritär und macht Werbung für Islamunterricht an den Schulen: "Der Koranunterricht in den Moscheen wird bestimmt weiterhin bestehen, denn die Eltern legen viel Wert darauf. Sein schädlicher Einfluss kann allerdings durch den aufgeklärten islamischen Religionsunterricht an den Schulen eingedämmt werden. Gewiss wird der schulische Religionsunterricht das Gesicht des Islams im Westen und die hiesige religiöse Landschaft verändern."
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Medien

Der Vorwurf, dass Facebook in seinen "Trending Topics" (ein Feature, das es im deuschen Facebook noch gar nicht gibt) konservative Positionen benachteilige, ist in einem Jahr mit Präsidentschaftswahlen natürlich ein Aufreger, aber inzwischen mehr oder weniger entkräftet, schreibt Mike Isaac in der New York Times, der inzwischen recht genau erzählen kann, was passiert ist. Das Problem für Facebook sei eher, dass es anders als Twitter nicht wirklich per Algorithmus Trending Topics herausfiltern könne und darum zumindest vorerst Kuratoren brauche. Ein ehemaliger Facebook-Mitarbeiter "sagte, dass es sein Job als Kurator gewesen sei, 'den Algorithmus zu massieren'. Die Manager zögerten, den Mitgliedern der Redaktion zu erlauben, sich selbst als Kuratoren oder Redakteure darzustellen, sagt er, denn es habe Sorgen gegeben, dass Außenstehende das menschliche Urteil bemerken und anfangen, Fragen zu stellen." Was dann auch so geschah!

Heribert Seifert hat neulich in der NZZ den Wutjournalismus kritisiert, dessen Schaum vorm Mund manchen Pegida-Autoren zur Ehre gereiche (unser Resümee). Andreas Fanizadeh nimmt es in der taz in einem Artikel über die Präsidentschaftswahlen in Österreichen als Indiz für einen Rechsruck der NZZ: "Die Öffnung gegenüber den völkisch-nationalistischen Flügeln innerhalb von AFD und SVP ist bei einigen Medien in vollem Gange. Doch, wer hetzerische, neurechte Propagandaphrasen wie die von Seifert veröffentlicht, dem geht es weniger um die 'Meinungsvielfalt'. Eher hat man Angst, die kommende Party zu versäumen."

Die BBC hat ihren Integrationsplan 2016 bis 2020 vorgelegt. In der Welt zeigt sich Stefanie Bolzen erst mal beeindruckt: "Denn die Quoten, welche die Anstalt sich selbst gegeben hat, sind mehr als ehrgeizig. 50 Prozent Frauen - vor und hinter den Kameras, an und hinter den Radiomikrofonen und in Hauptrollen quer durch alle Genres. Acht Prozent behinderte Menschen in Fernsehen und Radio und in 'einigen' Hauptrollen. Acht Prozent Homosexuelle im Fernsehen, einschließlich 'einiger' Hauptrollen. 15 Prozent ethnische Minderheiten in Fernsehen, Radio und in Hauptrollen aller Kategorien." Die Realität sieht freilich ganz anders aus: "Frauen stellen zwar die Hälfte der BBC-Belegschaft, aber die Statistik zeigt auch, was sie machen. Einem neuen Report des House of Lords zufolge sind von vier Primetime-Moderatoren drei Männer. Über Politik und Regierungsthemen berichten nur 15 Prozent der BBC-Frauen, während sie in den 'weichen' Programmen überrepräsentiert sind."
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Gesellschaft

Der Archäologe Salvatore Settis schildert in der taz an seiner Stadt Venedig ein Problem, das in kaum milderer Form auch den Bewohnern von Paris oder London vertraut ist: "Während die Stadt sich leert, fallen die Reichen und Berühmten über sie her, die bereitwillig Höchstpreise für ein Haus zahlen, ein Statussymbol, das sie dann fünf Tage im Jahr bewohnen. Dieser allmähliche Austausch der Bevölkerung hat zu einer Verzerrung des Marktes geführt und zwingt ihm ein Preissystem auf, das die Venezianer aus ihrer Stadt hinausdrängt und sie zur Hauptstadt der Zweitwohnungsbesitzer macht, die mit viel Pomp und Mondänität in Erscheinung treten, um dann wieder für Monate im Nichts zu verschwinden."

In der SZ resümiert Peter Richter die bizarren amerikanischen Debatten über einen Erlass der amerikanischen Regierung, der bestimmt, "dass Schülern überall das Recht eingeräumt werden müsse, diejenige Toilette aufzusuchen, die ihrem empfundenen Geschlecht entspricht".
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Europa

Boris Johnson hat gerade gesagt, dass der Versuch der EU, Europa zu einen, ebenso scheitern werde wie die Versuche Napoleons oder Hitlers und damit sogar bei den EU-Offiziellen, die dem Brexit bisher mit verklemmtem Schweigen entgegensehen, für Empörung gesorgt. Tim King schreibt in politico.eu zu Johnsons Äußerung: "Was Johnsons Skrupellosigkeit so gefährlich macht, ist die Ignoranz seines Publikums. Die älteren Generationen haben eine Version der Geschichte gelernt, die rein chronologisch strukturiert und vor allem eine Geschichte Englands als Sieger war." Die jüngeren hätten zwar ein etwas differenzierteres Bild, aber "die Lehrpläne und die Mode führten dazu, dass sich die Lehre auf die Tudor-Zeit und die beiden Weltkriege beschränkt".

Der islamistische Terrorismus ist auch in europäischen Gesellschaft kein isoliertes Phänomen - wie jeder Terrorismus muss er sich bewegen wie ein Fisch im Wasser, schreibt der Berliner Soziologe Ruud Koopmans in der NZZ: "Keine terroristische Bewegung in der Geschichte, ob nun linksgerichtet wie die RAF, rechtsgerichtet wie die deutschen Neonazis, nationalistisch wie die Irische Republikanische Armee, hat jemals erfolgreich operieren können ohne einen breiteren Kreis von Sympathisanten und Unterstützern."

Carlon Emcke kommt in ihrer SZ-Kolumne auf die inzwischen fast schon wieder vergessenen RAF-Gepenster zurück, die vor einigen Monaten kurz auftauchten, um einen Geldtransporter zu überfallen (ohne Erfolg), und wieder abgetaucht sind. Eigentlich hatten wir die RAF schon alle vergessen, meint sie: "Bis auf die Angehörigen der letzten Opfer der RAF, die noch immer nicht wissen, wer für die schrecklichen Taten verantwortlich ist, und für die diese Vergangenheit nicht vergehen kann ohne Aufklärung. Noch immer sind die Morde an Ernst Zimmermann (1985), Karl-Heinz Beckurts und Eckart Groppler (1986), Gerold von Braunmühl (1986), Alfred Herrhausen (1989) und Detlev Karsten Rohwedder (1991) nicht aufgeklärt... Vielleicht ist das die einzige positive Wirkung dieser neuen Fahndungsfotos: dass der Prozess der voreiligen Historisierung der RAF unterbrochen wird."
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