9punkt - Die Debattenrundschau

Schockierende, beängstigende Leere

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2016. Fast die Hälfte der Syrer ist auf der Flucht, warum wurde so gut wie keiner von ihnen in den Ölstaaten aufgenommen?, fragt starke-meinungen.de. Politico.eu beschreibt Syrien zugleich als verlassenes Land. Die NZZ erklärt, warum das Silicon Valley René Girard liebt. Während in Moskau die Jungputinisten gegen Memorial wüten, macht die Welt erstaunliche Parallelen zwischen den Putin liebenden Parteien AfD und Die Linke aus. Mother Jones macht klar: Die Medienkrise ist längst bei den Internetmedien angekommen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.04.2016 finden Sie hier

Politik

Fast die Hälfte der Syrer ist auf der Flucht, die meisten als Binnenflüchtlinge, viele sind in Nachbarstaaten, einige in Europa, schreibt Rainer Werner in dem Blog starke-meinungen.de: "Umso verwunderlicher ist, dass sich vor allem die reichen Ölstaaten in Nahost der Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien komplett verweigern. Saudi-Arabien, Kuweit, Bahrein, Qatar, Oman, Dubai und die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihre Grenzen geschlossen und verweigern ihren muslimischen Glaubensgenossen die Aufnahme in der Not. Finanziell wäre deren Aufnahme für diese Staaten leicht zu stemmen. Die genannten Staaten haben ein sehr hohes Pro-Kopf-Einkommen. In Katar zum Beispiel beträgt es sagenhafte 90.000 US-Dollar."

Der Reporter Julian Reichelt kehrt nach über zwei Jahren trotz des Risikos in sein "arabisches Lieblingsland" Syrien zurück und schildert in politico.eu seine "Eindrücke: "Schlimmer noch als die physische Zerstörung ist die Bürde, die die Menschen durch den Krieg tragen müssen. Syrien ist ein Ort schockierender, beängstigender Leere. Wenn gerade keine Explosionen in der Ferne zu hören sind, ist es so still, wie es nur an Orten sein kann, wo es kein menschliches Leben mehr gibt. Keine Geräusche spielender Kinder, kein Verkehr, kein Geschnatter auf dem Markt. Die Städte sind verlassen. Wer es sich leisten konnte zu fliehen, ist geflohen. Wer es sich nicht leisten konnte, ist auch geflohen."
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Ideen

Überraschend liest sich Adrian Daubs NZZ-Artikel über den Anthropologen René Girard (1923 bis 2015), dessen Denken - vermittelt über den Risikokapitalisten Peter Thiel - zu einem gewissen Kult im Silicon Valley geführt hat. Unter anderem weil Thiel in seinem Studium in Amerika zu einem Gegner von Multikulti und Polical Correctness wurde: "Thiel verstand Multikulturalismus, 'Diversity' und politische Korrektheit als neuen Konformismus - die Revolutionen der sechziger Jahre hatten eine neue Orthodoxie geschaffen, die die europäische Tradition zur Altlast erklärte. Girard, der sich von Gilgamesch bis Proust durch die Geistesgeschichte hangelte, war gerade wegen seiner Rückbesinnung auf die Tradition ein Dissident, ein Gegengift."

Außerdem: In der Welt greift Timan Krause ins Regal und findet in Alain Finkielkrauts vor dreißig Jahren erschienenem großem Essay "Die Niederlage des Denkens" eine überraschende Aktualität. In der SZ unterhält sich Alexandra Borchardt mit dem Philosophen Luciano Floridi über Gefahren und Grenzen von künstlicher Intelligenz.
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Europa

Keine Feier der Heldentaten der Roten Armee? In Moskau haben junge Putin-Anhänger deshalb die Preisverleihung des von Memorial organisierten Schülerwettbewerbs "Mensch in der Geschichte. Russland - 20. Jahrhundert" gesprengt, berichtet in der Welt Julia Smirnova. "Jedenfalls bewarfen NOD-Anhänger die Besucher der Preisverleihung vor dem Eingang mit Eiern und besprühten sie mit Ammoniakwasser. Der berühmten Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja spritzte einer von ihnen mit grüner Wundsprayflüssigkeit ins Gesicht. Die Aktivisten hielten patriotische Sankt-Georg-Bändchen, rote sowjetische Fahnen und ein Plakat hoch: 'Wir brauchen keine alternative Geschichte.' Den Gästen schrien sie 'Faschisten' zu. Vor den Lehrern skandierten sie 'Keine Lehrerinnen, sondern Huren'. Die Polizei mischte sich nach Augenzeugenberichten nicht ein."

Überraschende (oder nicht so überraschende) Parallelen zwischen AfD und der Linkspartei macht Richard Herzinger in der Welt aus, der ein Interview mit dem AfD-Großdenker Alexander Gauland in der Jungen Freiheit liest. Langfristig, sagt Gauland da, "würde er es freilich vorziehen, die Nato durch eine europäische Friedensordnung mit Russland zu ersetzen. Diese Möglichkeit stelle sich derzeit aber nicht. Spätestens hier fällt die frappierende Deckungsgleichheit zwischen den außenpolitischen Vorstellungen der Gauland-AfD und der SED-Nachfolgepartei Die Linke auf, die schon lange mit der Formel einer Ersetzung der Nato durch eine gemeinsame Sicherheitsstruktur mit Russland operiert. Tatsächlich geben sich führende Köpfe der AfD mittlerweile keine Mühe mehr zu verbergen, dass sie als politische Einflussagentur des Kremls zu agieren bereit sind." Weiteres zum Thema: In der SZ beschreibt Alex Rühle "Die 'Identitären' in Wien, Paris oder Bad Schlema" als "popkulturellen Arm der Rechtsextremen".

Die Historikerin Yasemin Shooman, laut Wikipedia Expertin für Islamfeindlichkeit, erklärt im Gespräch mit Marisa Janson von der taz, warum sie gegen ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst ist: "Es ist nicht möglich, als kopftuchtragende Frau als Staatsanwältin tätig zu sein, weil dies angeblich die Neutralität gefährdet. Aber als AfD-Vorstandsmitglied darf man leitender Staatsanwalt in Berlin werden, wie es aktuell der Fall ist. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Menschen mit islamistischen Überzeugungen sind genauso gefährlich wie Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, die mit rechtem Gedankengut in diese Berufe kommen, ausgrenzendes Denken mitbringen und in Positionen geraten, wo sie Macht ausüben können. Musliminnen hierbei mit mehr Misstrauen zu begegnen als Christen oder Atheisten, ist nicht nur naiv, sondern im höchsten Maße diskriminierend."

Die Labour-Partei hat gravierende Probleme mit Antisemiten in ihrer Partei - jüngst wurde gar Ken Livingston, der ehemalige Bürgermeister von London, wegen antisemitischer Äußerungen hinauskomplimentiert. Der Guardian, der Jeremy Corbyn seinen superlinken Chefdenker Seumas Milne (hier mehr) lieferte, legt heute seine "Guardian view on antisemitism" vor: "stay vigilant on the left flank."
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Urheberrecht

Henry Steinhau von irights.info fragt die Positionen der Bundestagsfraktionen zur Urheberrechtsreform ab und hat wenig Antworten von den Regierungsparteien bekommen: "Die diplomatische Zurückhaltung lässt den Schluss zu, dass sich die Fraktionen der Regierungsparteien noch nicht einig sind, wie sie mit dem Regierungsentwurf umgehen wollen. Andernfalls hätte man die Positionen gefahrlos nach außen tragen können."
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Medien

Die Türkei macht weiterhin durch ihre Medienpolitik auf sich aufmerksam, wie einer dpa-Meldung in der taz zu entnehmen ist: "Wegen des Abdrucks einer umstrittenen Mohammed-Karikatur des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo sind zwei Journalisten in der Türkei zu Haftstrafen verurteilt worden. Ein Gericht in Istanbul habe am Donnerstag je zwei Jahre Gefängnis gegen die Kolumnisten Ceyda Karan und Hikmet Cetinkaya verhängt, berichtete die Zeitung Cumhuriyet."

Die Medienkrise ist längst in den Internetmedien angekommen, schreiben Monika Bauerlein and Clara Jeffery in einer sehr lesenswerten Analyse für Mother Jones - keiner hat in den zwanzig Jahren des Netzes ein Geschäftsmodell für Informationsmedien gefunden (außer ein paar hippen Experten, die die jeweils neueste Parole verbreiten). Viele berühmte Blogs und Internetmagazine haben zugemacht oder sind in Nöten - von Gigaom bis Salon. Die Gründe sind schlicht: "Was sie hindert, Geld zu machen, sind die Anzeigenpreise, die sich inzwischen in Pennys berechnen. (Ein Penny pro Leser ist heute sogar noch ein guter Schnitt, nach heutigen 'Tausendkontaktpreisen' liegt der Schnitt meist eher bei der Hälfte.) Und da sind eine Masse von Leuten, die um diese Pennys konkurrieren - inklusive Google und Facebook, die zusammen glatte 85 Prozent aller Werbeausgaben im ersten Quartal dieses Jahres abgegriffen haben." Die Autoren werben mit ihrem Artikel zugleich für einen gemeinnützigen Journalismus, der seit vierzig Jahren das Modell von Mother Jones ist.
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