9punkt - Die Debattenrundschau

Der Zustand, nicht auf Sendung zu sein.

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2016. In der Zeit attackiert Pascal Bruckner Angela Merkels Flüchtlingspolitik und wirft ihr einen Narzissmus des Mitgefühls vor. Dass die Politik das Einheitsdenkmal sang- und klanglos begräbt, geht für die meisten Kritiker in Ordnung. Die Berliner Zeitung könnte nicht noch eine Berliner Lachnummer vertragen. Die taz versteht nicht, warum die Rundfunkgebühren erst ein bisschen gesenkt und dann kräftig angehoben werden. Der Guardian berichtet, wie die polnische Staatsanwaltschaft dem Historiker Jan Tomasz Gross zusetzt. Und Politico fragt: Wozu die ganze Nacht auf sein?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.04.2016 finden Sie hier

Europa

Im Interview mit Georg Blume von der Zeit spricht der französische Schriftsteller Pascal Bruckner über die Flüchtlingskrise, Mitgefühl und Absprachen in Europa. Frankreich sieht er überhaupt nicht in einer moralischen Verantwortung, eher schon Saudi-Arabien. Angela Merkel wirft er einen "Narzissmus des Mitgefühls" vor: "Wie jeder Narzissmus war auch dieser grenzenlos und ein Alleingang. Zudem konnte man die Interessen hinter ihrer vermeintlichen Selbstlosigkeit erkennen. Die Leute kamen umsonst, ob zu Fuß oder mit dem Zug: Techniker und Ingenieure, wie sie die deutschen Arbeitgeber gefordert hatten!"

Der Guardian meldet, dass die polnische Staatsanwaltschaft tatsächlich den Historiker Jan Tomasz Gross verhört hat. Ihm droht ein Verfahren wegen Beleidigung der Nation, weil er behauptet hatte, die Polen hätten im Zweiten Weltkrieg mehr Juden als Deutsche getötet: "'Gross sagte, er hätte Belege für seine historische Behauptung vorlegen sollen und wurde gefragt, ob er beabsichtigt habe, Polen zu beleidigen. 'Ich sagte dem Staatsanwalt, dass dies nicht der Fall sei. Ich wollte auf die Lage der Flüchtlinge in Europa aufmerksam machen. Ich sage nur die Wahrheit, doch die hat manchmal einen schockierenden Effekt."

Die Pariser demonstrieren seit etlichen Nächten unter der Parole "Nuit debout". Der ewig optimistische Pierre Haski träumt schon von einem neuen '68. Politico versteht allerdings überhaupt nicht, wofür die Leute die ganze Nacht auf bleiben: "Mit zehn Prozent Arbeitslosigkeit und einem langsamen Wachstum ist die Lage in Frankreich nicht so explosiv wie in Spanien. Und die Bevölkerungsgruppen, die sich an Nuit debout beteiligen, bestehen vor allem aus jungen Weißen, weswegen Kritiker die Bewegung schon als Fantasie reicher Kinder abtun, die schon nach dem ersten anstrengenden Schultag verpuffen wird. Die Banlieues haben bisher wenig Interesse an der Bewegung gezeigt. Das ist ein Segen für Frankreichs Politik, die nicht unbedingt erleben möchte, wie der Utopismus der Republik sich mit dem rohen Zorn verbindet, der in den Trabantenstädten des Landes köchelt."
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Kulturpolitik

Das Einheitsdenkmal wird nun doch nicht gebaut. Das geht für Lothar Müller in Ordnung. Auch wenn es klingt, "als knauserten die Deutschen wieder einmal an der falschen Stelle", schreibt er in der SZ. "Aber manche Denkmäler werden durch die Leere, die der Verzicht auf sie erzeugt, mehr als aufgewogen. Das ist hier der Fall, und es ist keine Katastrophe. Eine politische Idee war da, eine ästhetische Idee, die ihr angemessen hätte Rechnung tragen können, mochte sich nicht prompt einstellen. Da ist es besser, das Ganze sein zu lassen." Ähnlich sieht es Andreas Kilb in der FAZ. Matthias Dell vermutet im Dradio Kultur auch Kostenkalkül hinter der Entscheidung, im Tagesspiegel erkennt Bernhard Schulz gar auf deutschen Selbsthass.

In der Berliner Zeitung fasst sich Nikolaus Bernau an den Kopf über das total vermurkste Eingangsgebäude zur Museumsinsel, das sich zur teuersten und blamabelsten Baustelle Berlins ausweitet: "Jahrelang waren hier nur Wasserbecken zu sehen, eine Lachnummer der deutschen Baugeschichte. Inzwischen sind die Baukosten von 2006 schon sehr hoch angesetzten 73 Millionen Euro auf derzeit offiziell 134 Millionen Euro gestiegen. Keiner wagt, diese Summe zu garantieren oder gar, ob der letztlich mit kaum 4600 Quadratmetern Nutzfläche gar nicht so große Bau jemals wirklich dazu dienen kann, wie geplant 3,5 Millionen Besucher im Jahr auf das Neue Museum und das Pergamonmuseum zu verteilen."
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Überwachung

Eine neue Facebook-App überträgt von der Handykamera des Users live auf die eigene Facebook-Seite, was um ihn herum zu sehen ist. Auch für alle, die nicht bei Facebook sind, bedeutet das in Zukunft, dass sie immer öfter gefilmt und einer unbekannten Anzahl von Menschen vorgeführt werden, warnt Johannes Boie in der SZ. "Das berühmte Symbol des roten Signals in einem Fernsehstudio oder an einer alten Kamera, das signalisiert, dass die Technik aufzeichnet - 'on air' - wird nicht nur überflüssig, es setzen sich sogar im öffentlichen Raum Zeichen durch, die das Gegenteil, das Ausschalten von Kameras, vorschreiben. Etwa im Kino, aber auch in Clubs, in denen hemmungslos gefeiert wird. Der Zustand, nicht auf Sendung zu sein, wird der Ausnahmefall, der per offizieller Regelung eingefordert werden muss."
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Medien

In der taz fragt Gareth Joswig, warum die KEF den Öffentlich-Rechtlichen empfiehlt, die Rundfunkgebühren erst bis 2017 um 30 Cents zu senken, wenn sie 2021 wieder um 2,20 steigen auf 19,40 Euro sollen. Wilfried Urbe ärgert sich in einem weiteren Text der taz über die mangelnde Transparenz der Sender, die anstatt offenzulegen, warum nur ein Drittel der Gelder direkt in die Programme fließt, stets nur PR-trächtige Zahlen nennen: "Hinweise der öffentlich-rechtlichen Anstalten etwa darauf, dass ein Tatort jeden Gebührenzahler 15 Cent pro Monat kostet, sind zu wenig."

Das Zeit-Feuilleton bringt ein Pressefreiheits-Special inklusive Solidaritäts-Aufruf für Jan Böhmermann, Forderung nach Einstellung der Ermittlungen und Streichung des Paragrafen 103, auch Yanis Varoufakis hat unterschrieben. Die Strafverfolgung gegen Böhmermann zuzulassen, wäre Angela Merkels schwerster Fehler, glaubt Peter Kümmel. Der türkische Journalist Bülent Mumay, der aufgrund seiner Berichte über die Gezipark-Proteste von Hürriyet gekündigt wurde, spricht im Zeit-Gespräch mit Sonja Hartwig von einem "Massaker" der türkischen Regierung gegen die Medien. Weitere Artikel erklären die Lage in Russland, Polen und den USA.

Auch andere Medien streiten weiter um oder für Böhmermann. In der SZ wägt die Medienanwältin Anja Brauneck ausführlich die Positionen im Rechtsstreit Erdogan gegen Böhmermann ab. Wolfgang Janisch (SZ) sieht das ähnlich. In der FAZ meint die Titanic-Anwältin Gabriele Rittig: "Böhmermann hat mit sämtlichen Vorurteilen und dem Vokabular des Rassismus gespielt. Aber er ist kein Rassist. Seine Satire war, legt man die Maßstäbe der Satiretheorie an, perfekt. Er hat das Geschwätz auf den Punkt gebracht." Dennoch ist sich sich nicht sicher, ob Böhmermann ungerupft davonkommt.
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Internet

Im Freitag findet Ulrike Baureithel Facebook nicht besonders erfolgreich in seinem Kampf gegen Hasskommentaren: "So richtig funktioniert die freiwillige Selbstkontrolle nicht. Auf eine gelöschte Hate-Speech wachsen drei neue nach, auch weil die Löschung allein keine abschreckende Wirkung hat."
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Ideen

Rudolf Walther meldet in der taz nicht ohne Schadenfreude, dass Alain Badious Hausmagazin, die Badiou Studies, auf einen Text hereingfefallen sind, der nach Aussage der Autoren "absolut keinen Sinn" ergebe: "Damit wird die Werbeagentur, die unter dem Namen Badiou Studies firmiert, ebenso der Lächerlichkeit überantwortet wie Badious Spätmaoismus, der 2009 Terror als 'Bedingung von Freiheit' rechtfertigte."
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Stichwörter: Badiou, Alain