9punkt - Die Debattenrundschau

Kämpferische Reproduktion

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2016. Nach Lahore, Brüssel und Paris wird überall über die Ursachen des Dschihadismus nachgedacht. Sind die Attentäter von Paris einfach Opfer des Kolonialismus (so die taz)? Bis in die dritte Generation? (NZZ) Nein, der Dschihadismus ist eine globale Bewegung und kann nur deshalb erfolgreich sein, meint The Daily Beast nach Lahore. Im Wirtschaftsteil der FAS wendet sich der Theologe Friedrich Wilhelm Graf gegen den Begriff der "Werte", der die Muslime nur ausgrenze. Auch in Frankreich geht die Debatte weiter: Radikalisierung des Islam oder Islamisierung von Radikalität?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.03.2016 finden Sie hier

Gesellschaft

Schwerpunkt: Antworten auf den Dschihad

Der Salafismus ist eine riesige internationale Bewegung, schreibt Majid Nawaz nach dem bestialischen Attentat von Lahore in The Daily Beast: "Die Dschihadisten trinken alle aus der selben Quelle, dem weit verbreiteten rigiden Wahabismus. Und sie teilen die ideologischen Ziele vieler nicht-terroristischer Islamisten. Sie vereinen sich alle hinter dem theokratischen Wunsch, die Scharia über die Gesellschaft regieren zu lassen. Es gibt Millionen nicht gewalttätiger Wahhabis und istlamistischer Muslime weltweit, was den Rekrutierungspool für Dschihadisten drastisch erhöht. Die Aufstände könnten nicht gelingen, wenn es anders wäre. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen."

In der taz denkt Dominic Johnson über die islamistischen Attentäter von Paris und Brüssel nach und sieht sie vor allem als Opfer des französischen Kolonialismus: "Sie werden für islamistische Propaganda überhaupt erst empfänglich, weil sie sich in Europa vaterlandslos fühlen. Das liegt am Unvermögen der einstigen Kolonialmächte, die eigenen Verbrechen und deren Opfer anzuerkennen. ... Solange Frankreich sein eigenes gestörtes Verhältnis zu Nordafrika nicht bereinigt, hat es Nordafrikanern keine Lektionen in Sachen Zivilisation zu erteilen."

Ausgehend vom Fall Kamel Daoud beschreibt Perlentaucher Thierry Chervel in der NZZ die Islamdebatte, die in Frankreich sehr viel offensiver geführt wird als in Deutschland. Auch er skizziert die neoreligiösen Muslime in Frankreich: "Die Jugendlichen spüren, dass sie mit ihren Zauselbärten und Djellabas Angst einflößen, und genießen dieses Gefühl. Moralische Überlegenheit ziehen sie auch aus dem Bewusstsein, Opfer der ehemaligen Kolonialmacht zu sein. Am liebsten vergleichen sie ihre Lage mit der der Palästinenser im Gazastreifen. Sie sind ja die dritte Generation, mindestens. Die Eltern dieser Jugendlichen sind selbst bei weitem zu jung, um noch gegen die französische Armee gekämpft zu haben."

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf fragt sich auf der Wirtschaftsseite der FAZ am Sonntag, wie Gesellschaften in Europa auf den Terror reagieren sollen. Die Rede von den "Werten" lehnt er jedenfalls ab: "Der Wertbegriff trägt immer schon die Unterscheidung von 'wert' und 'unwert' in sich, und er wirkt unausweichlich exkludierend: Manche teilen bestimmte 'Wertüberzeugungen', andere lehnen sie ab. Moralische Dissense sind in einer freiheitlichen Gesellschaft der Regelfall und legitim. Deshalb werden nur Minderheiten ausgegrenzt, wenn die 'Werte' der Mehrheit als die gemeinschaftlichen Überzeugungen aller gelten sollen. Für wirklich alle gilt allein das Recht, und deshalb sind Rechtsbrecher zu verfolgen und zu bestrafen. Aber dies hat nichts damit zu tun, ob irgendwelche jungen Muslime die 'Werte' von älteren Katholiken, Protestanten oder Agnostikern teilen."

Xavier Théry greift in Causeur.fr in die französische Expertendebatte um die Motive der Dschihadisten ein: Handelt es sich wirklich nur um eine "Islamisierung der Radikalität", wie Olivier Roy zur Erbitterung Gillles Kepels behauptet (unsere Resümees)? Théry stellt sich auf die Seite Kepels und illustriert es mit historischen Beipielen: "Wie soll man die marxistisch-leninistische Ideologie in der Reflexion über die Diktatur des Proletariats und alle Verbrechen, zu denen sie führte, beiseite lassen? Wer kann behaupten, dass es sich hier nur um die Ausschreitung einiger Radikaler handelte? Wie soll man die Nazi-Ideologie im Holocaust beiseite lassen? Wer würde darin nur die mentale Abweichung einiger Frustrierter sehen?"

Außerdem: Jürgen Kaube zitiert in der FAZ eine Studie von Diego Gambetta, Soziologe in Oxford und Florenz, und Steffen Hertog, Politikwissenschaftler an der London School of Economics, die unter den Dschihadisten auffällig viele Ingenieure und Techniker ausmachen.
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Europa

Isaac Chotiner befragt Ian Buruma in Slate nach den Anschlägen von Paris und Brüssel zur Zukunft Europas - aber Buruma will den Fokus aufziehen: "Ich bin sehr pessimistisch. Eine Menge dieser Probleme sind global, denn ich denke nicht, dass der Aufstieg von Trump nichts mit dem europäischen Populismus zu tun hat. Es gibt eine Welle des Populismus, einen Hass auf Eliten, der mit Angst auf Globalisierung zu tun hat und mit Ablehnung einer Menge Dinge, die nach dem Zweiten Weltkrieg als wünschenswert oder sogar als Errungenschaft galten. Dazu gehört das europäische Projekt."

Der Literaturwissenschaftler Matthias Schöning äußert sich im Blog des Merkur unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Debatte zur Flüchtlingskrise und macht selbst einige Vorschläge zur Lösung der Frage: "Es führt daher kein Weg daran vorbei, einerseits ein effektives Grenzregime zu errichten und andererseits legale Migrationsrouten mit flexiblen Kontingenten auf der Basis unverbrüchlicher Verfahren einzuführen."
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Kulturpolitik

Der Tagesspiegel druckt einen Text Horst Bredekamps aus dem Katalog zur Palmyra-Ausstellung im Kölner Wallraf-Richartz-Museum. Er fordert eine Reproduktion der zerstörten Teile der Tempel-Anlage: "Reproduktion kann die Verschmelzung von Entwurf und Materie zur gestalteten Form niemals ersetzen, alle Überlegungen zur Ablösung der Aura durch die Reproduktion sind irreal. Jede Reproduktion lässt vielmehr ein eigenes Original entstehen. Das würde mit Blick auf Palmyra einen neuen Typus erzeugen, den der kämpferischen Reproduktion."
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Politik

Für ihre große monatliche taz-Reportage hat Gabriele Goettle diesmal Ali Moradi besucht, Projektleiter und Geschäftsführer des Sächsischen Flüchtlingsrats. Sachsens Politiker haben viel zu lange die Fremdenfeindlichkeit und den Rassismus in Sachsen ignoriert, selbst den Aufstieg der NPD hat man beschönigt, erklärt Moradi. Und: "Wir haben hier in Sachsen die restriktivste Asylpolitik von ganz Deutschland. Das drückt sich zum Beispiel auch so aus, dass zentrale Unterbringung das herrschende Konzept war und dezentrale Unterbringung auch heute immer noch nicht in ausreichendem Maß umgesetzt ist. Viele Menschen müssen auch nach einem halben Jahr immer noch in zentralen Übergangseinrichtungen leben. Die meisten Wohnheime liegen in der Pampa, am Arsch der Welt, wo es keine Infrastruktur, keine Arbeit, keine Sprachschulen und nichts gibt. Ich habe Familien besucht, die 15 Jahre in solchen Einrichtungen gelebt haben. Die Kinder waren drei Jahre alt bei der Ankunft, und mit 18 saßen sie immer noch im Wohnheim."
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Geschichte

Drei Artikel erinnern an das vor 500 Jahren abgezirkelte Ghetto für die Juden in Venedig. Für die Juden bedeutete das damals: nächtliches Ausgehverbot, Verbot freundschaftlicher Kontakte zu Christen, hohe Sondersteuern und ein gelber Hut. Trotzdem war das Ghetto eine Erleichterung, schreibt Dirk Schümer in der Welt: Denn "die Lage der Juden [war] im christlichen Europa - Polen ausgenommen - so demütigend, dass jüdische Gelehrte bereits ab 1540 in Traktaten das Loblied der venezianischen Republik mit ihrer Sicherheit, Konstanz und Gerechtigkeit sangen". Erst Napoleon sollte den Juden gleiche Bürgerrechte geben.

In der FR erinnert Arno Widmann daran, dass christliche Orden sich bei der Hetze gegen Juden besonders hervortaten: "Zur antijüdischen Hetze der christlichen Hassprediger gehörte auch ihr soziales Engagement. Bruder Bernardino da Feltre zum Beispiel zog von Ort zu Ort, erklärte den Christen, die die Juden verteidigten, sie sollten endlich begreifen, dass die Juden ihr Unglück seien, versuchte die Städte 'judenrein' zu machen. Das gelang ihm erschreckend oft, aber nie langfristig. Waren die Juden vertrieben, richtete er einen sogenannten 'Monte di Pietá' ein, eine christliche Pfandleihanstalt, die die Armen mit Minikrediten versorgten. In den Jahren 1484 bis 1492 hatte er zweiundzwanzig solcher Institute allein auf dem Territorien Venedigs etabliert. Die Verbindung von Sozialversorgung und religiös fundierter Menschenverachtung ist keine Erfindung islamistischer Gruppierungen des 20. Jahrhunderts."

Heute leben kaum mehr Juden in Venedig. Ihre Gemeinde zählt noch etwa 450 Mitglieder, erzählt Henning Klüver in der NZZ. "Seit einigen Jahren ziehen vermehrt Lubawitscher Juden nach Venedig, die zwar nicht im Ghetto wohnen, dort aber ihre Gemeinschaftseinrichtungen und auch Restaurants gründen. Die aus den USA stammende, extrem konservative Glaubensrichtung steht in Opposition zur traditionellen jüdischen Gemeinde der Lagunenstadt. Die wiederum ignoriert die 'chassidischen Brüder', soweit sie es kann."
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Urheberrecht

In Deutschland ist es - wie in vielen anderen Ländern - für Lehrer aus Urheberrechtsgründen fast unmöglich, ihre individuell aufbereiteten Lernmaterialien ins Netz zu stellen und mit anderen zu teilen. In Britannien und Amerika setzt man deshalb immer mehr auf offen lizenzierte Lernunterlagen, die der Allgemeinheit umfassende Nutzungsmöglichkeiten einräumen, schreibt Leonhard Dobusch auf Zeit online. Auch in Deutschland wäre das wünschenswert, aber: "Die bestehenden Finanzierungsstrukturen für öffentlich finanzierte Lernmittel im Schul- und wie im Universitätsbereich sind ganz auf die Anschaffung gedruckter und urheberrechtlich umfassend geschützter Bücher ausgerichtet. An Schulen wählen beispielsweise Fachkollegien aus Schulbuchkatalogen ihre bevorzugten Bücher aus. Selbst wenn Lehrer das Geld lieber für offen lizenzierte Lernunterlagen ausgeben würden, fehlt es derzeit an den gesetzlichen Voraussetzungen dafür."
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Medien

Mitarbeiter von Zeit online drohen mit Streik, meldet die taz. Hintergrund ist der Klassengegensatz zwischen Print und Online: "Die Redakteure fordern höhere Gehälter. Sie wollen, so wie ihre Kollegen bei der gedruckten Ausgabe, nach dem Tarifvertrag für Zeitschriften bezahlt werden. Während die Redaktion der Print-Zeit tarifvertraglich gebunden ist, ist es die Onlineredaktion als ausgegliederte Digital GmbH nicht." Anne Fromm kommentiert die Meldung bei taz online auch schon.
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Stichwörter: Die Zeit