9punkt - Die Debattenrundschau

Granularer Medienstrom

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2016. Die FR fürchtet: In den USA ist die Demokratie nicht auf dem Vormarsch. Aber Apple wehrt sich tapfer gegen das FBI, beobachtet die SZ, die auch fragt, warum Yahya Hassan einem Islamisten in den Fuß schoss. Muslimische Länder mögen den Westen nicht, weil sie seine Errungenschaften lieben, meint huffpo.fr. Die NZZ testet Khmeli Suneli. Und den täglichen Artikel von Herfried Münkler gibt's heut' selbstverständlich auch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2016 finden Sie hier

Politik

Können Demokratien sich selbst abschaffen, indem sie freiwillig den Autoritarismus wählen? Sie können, hat Arno Widmann (FR) aus der amerikanischen Studie "Authoritarianism goes global - The Challenge to Democracy" gelernt. Er zieht daraus sofort Schlüsse auf den Zustand der Demokratie in Amerika: Barack Obama wurde Präsident "als 57 Prozent der wahlberechtigten US-Bürger 2008 an die Urnen gingen. Als 2010 bei den sogenannten 'Midterms' nur 37 Prozent von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten, übernahmen die Republikaner die Macht im Repräsentantenhaus und in 18 Landesparlamenten. Diese Lektion hatten die Partei sofort verstanden. Im nächsten Jahr wurden 180 Gesetzesvorlagen in 41 Staaten eingebracht, die alle nur auf Eines zielten: den Zugang zur Wahlurne zu erschweren. In 19 Staaten wurden 25 solcher Gesetze erlassen. Auch in den USA ist die Demokratie nicht auf dem Vormarsch."
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Europa

In der SZ bringt Thomas Steinfeld Hintergründe zur Verhaftung des dänischen Lyrikers Yahya Hassan (hier eine Auswahl seiner Gedichte beim Perlentaucher), der nach einer Konfrontation mit Islamisten einem in den Fuß geschossen haben soll. Hassan, der eine Zeitlang bedroht wurde, habe sich schon vor der Auseinandersetzung in eine Gewaltsituation förmlich hineingesteigert, schreibt Steinfeld: "Yahya Hassan hatte in den vergangenen Wochen immer wieder blutige Auseinandersetzungen angekündigt, auf seiner Facebook-Seite, auf der er gelegentlich mit verbundener Hand und mit Messern bewaffnet auftritt, aber auch in Zeitungs-Interviews und öffentlichen Stellungnahmen: 'Es wird blutig, es wird wie beim Walfang sein', erklärte er in der vergangenen Woche einer Lokalzeitung."

In der Welt stellt Herfried Münkler seinen "Masterplan Integration" vor, dessen Grundvoraussetzung darin liegt, den Zuzug weiterer Flüchtlinge möglichst zu drosseln und unter allen Umständen den Rechtsstatus des abgelehnten, aber geduldeten Asylbewerbers zu vermeiden: "Daraus folgt dann sogleich der dritte Imperativ eines Masterplans für Integration: dass die juristische Sortiermaschine der Statuszuweisung gegenüber den Migranten auf den Imperativ der Integration umgestellt wird. Das wird der juristisch geschulten Beamtenschaft des Staatsapparats gegen den Strich gehen, weil dann unvermeidlich ist, mit Ausnahme- und Sonderregelungen zu arbeiten, wie sie in einem sauberen Entscheidungsprozess nicht vorgesehen sind."

In der taz darf Christoph Bartmann sich wieder fürchten: vor dem "kleinbürgerlichen Pöbel von Pegida" und vor dem "gutbürgerlichen", angeführt von Peter Sloterdijk, sowieso: "Die verwendeten Sprachbilder zeugen von einer wachsenden Radikalisierung und Menschenverachtung der sich selbst für gebildet haltenden Schichten. Sie sind auch ein weiteres Anzeichen dafür, dass die soziale Barriere bald brechen könnte, die bislang das deutschsprachige Bildungsbürgertum von den 'besorgten Bürgern' von Pegida und AfD getrennt hat."


Bild: Bank von Georgien, ursprünglich erbaut von George Chakhava 1974 als Verwaltungsgebäude des Bauinnenministeriums

Die georgische Gewürzmischung Khmeli Suneli schmeckt nicht wie Curry, aber auch nicht wie eine italienische Mischung, sondern wie etwas dazwischen. Tagetesblüten halten in der Schweiz die Schnecken vom Gemüsebeet, in Georgien verwendet man sie als "eine Art Safran also, aber nur eine Art". Eva Dietrich ist in der georgischen Hauptstadt Tiflis immer wieder irritiert von Dingen, die bekannt, aber leicht verfremdet sind, erzählt sie in der NZZ. "Das selbstverständliche Nebeneinander und die Betonung von Ähnlichkeiten stehen im Vordergrund. Wenn Georgien ein Grenzland ist, dann eines, dessen Selbstverständnis nicht in Grenzziehungen liegt, sondern in den fließenden Übergängen. Statt Grenzen nehmen wir eher unsichtbare Schwellen wahr." Daneben stellt Roman Hollenstein kurz eine Wiener Ausstellung über georgische Architektur vor.

Wenn irgendwer in Russland noch Widerstand gegen Putins bräsiges Chauvi-Regime leistet, dann ein paar junge mutige Frauen, scheibt Kerstin Holm in der FAZ, zum Beispiel die Wissenschaftsjournalistin Asja Kasanzewa: "Sie erklärt in lustig illustrierten Büchern anschaulich und unterhaltsam, warum Homöopathie schwere Krankheiten nicht heilen könne, warum Kinder gegen Diphterie, Polio, Keuchhusten geimpft werden sollen, während der Verzehr von Genmais unbedenklich sei. So bekämpft sie den Scharlatanerieglauben, der wegen des Niedergangs des Schul- und Medizinwesens, aber auch infolge des Einflusses der Kirche um sich greift."
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Überwachung

Tja, wer hätte das gedacht. Apple wird im Streit gegen das FBI, das an die Iphone-Daten ranwill, zum Menschenrechts-Champion. Präsident Obama ruft unterdessen auf, die Daten auf dem Iphone nicht zum "Fetisch" zu machen, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ: "Kurz vor den Wahlen vereist das sonst herzliche Verhältnis des Silicon Valley zu den Demokraten. Und die Republikaner, sonst strikt gegen staatliche Einmischung in Firmen-Angelegenheiten, stehen geschlossen hinter dem FBI. Donald Trump rief - vom Iphone aus - sogar zum Apple-Boykott auf."
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Religion

Ein Großteil des Hasses auf den Westen in islamischen Ländern speist sich laut dem Politologen André Grjebine in huffpo.fr aus dem Widerspruch zwischen Festhalten an Religiosität und und dem Gebrauch technischer Errungenschaften des Westens. "In den muslimischen Gesellschaften, die von der Relgion strukturiert sind, wird die Verbreitung des westlichen Modells, das die Religion auf die Privatsphäre beschränkt, immer mehr als kulturelle Aggression, ja Provokation empfunden. Dieses Gefühl wird um so schmerzlicher, da es schwierig ist, auf die Verführung der materiellen Errungenschaften aber auch der Freiheiten zu verzichten, die das westliche Modell ermöglicht."
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Kulturpolitik

Christian Eger fragt sich in der Berliner Zeitung, warum auf der Leipziger Buchmesse außer Flüchtlingen so wenige aktuelle Thema zur Sprache kamen: "Vom E-Book ist kaum die Rede. Vom Preisverfall im Antiquariatsgeschäft auch nicht, obwohl das ein Thema wäre. Bücher des 18. Jahrhunderts gibt es in Folge der Digitalisierung zu Tiefstpreisen. Die Verleger schauen mit Bangen auf den 21. April, auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofes, ob die Verlage weiterhin an den Ausschüttungen der VG Wort beteiligt werden oder nicht. Der Verleger Christoph Links spricht von einem 'brennenden' Problem. Sollte das Urteil gegen die Verlage fallen, müssten diese auch die Ausschüttungen der vergangenen drei Jahre zurückzahlen. Bei Links wären das 51.000 Euro auf einen Schlag. Für manche Kleinverlage das Ende."
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Medien

Die schwierige Lage der BBC vor dem Brexit-Referendum schildert Alex Spence in politico.eu. Die Anstalt achtet strengstens auf Neutralität, erzählt er, aber sie ist selbst in einer schwierigen Position, weil ihr Status gerade neu ausgehandelt wird und die Entscheidung darüber nun auf die Zeit nach der Abstimmung verschoben wurde: "Das bringt weitere Monate der Ungewissheit für die Zukunft der BBC, fürchten Medien-Experten. Es ist unklar, ob dann noch die gleichen Minister an der Regierung sind und was es für die BBC heißt, falls neue Politiker auf der anderen Seite des Tisches sitzen. Das nächste Statut wird vielleicht eilig durchgepaukt. Die BBC wird in einer Atmosphäre der Verbitterung für ihre Sache eintreten müssen, in der viele Politiker und Wähler sie für das Ergebnis verantwortlich machen werden."

Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar spricht im Interview mit Mike Szymanski von Sueddeutsche.de über die Lage der türkischen Medien kurz vor seinem Prozess wegen Landesverrats, der am 25. März beginnt. Er beklagt, dass Tayyip Erdogan immer mehr Medien in die Hände befreundeter Oligarchen gibt: "Wir haben neue Medienmogule. Aus Mainstream-Presse sind Präsidenten-Sprachrohre geworden. Presse, die ihm applaudiert. Die Cumhuriyet ist eines der letzten Beispiele für unabhängige Medien in der Türkei. Deshalb sind wir ins Visier geraten. Wir haben schon viele Angriffe erlebt. Diese Zeitung hat einen sehr hohen Preis für die Demokratie bezahlt."

"Die Informationsgrundlagen des demokratischen Gemeinwesens verschieben sich, ohne dass der Gesellschaft Zeit bleibt, sie zu reflektieren", fürchtet FAZ-Online-Chef Mathias Müller von Blumencron, der sich gerade auf der "SXSW" in Austin befindet und sich die neuesten Apps anguckt, die den jungen Konsumenten am Smartphone nur mehr einen "granularen Medienstrom" bescheren.
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