9punkt - Die Debattenrundschau

In diese Betonstruktur hinein

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2016. Andrzej Stasiuk (Zeit online) und Etienne Balibar (Libération) sind deprimiert. Mit Europa ist Schluss. In Frankreich einerseits. Und in Osteuropa sowieso. In der Schweiz wird in der Urheberrechtsdebatte erstmals gefragt: Was nützt den Nutzern und Vermittlern wie Bibliotheken?, freut sich Claudia Jolles, Chefredakteurin des Kunstbulletins in der NZZ. Anders Anish Kapoor, der sich laut Dezeen das schwärzeste Schwarz unter den Nagel riss. Ein französisches Video zeigt, wie Männer mit Männern flirten sollten (oder auch nicht). Die FAZ fragt: Wie bauen für Flüchtlinge?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2016 finden Sie hier

Europa

Vielleicht wollten die Leute in Osteuropa die EU gar nicht so richtig (und neue Mitbürger erst recht nicht). Denn sie lassen sich, so Andrzej Stasiuk in einem deprimierenden Essay für Zeit online, "von der uralten Weisheit dieser Gegend leiten, die da sagt, dass alle Veränderungen von außen kommen. Dass sie wie ein fremdes Element sind: Hochwasser, Sturm, Krieg. Deshalb ist es besser, in der Sicherheit und Wärme des eigenen Hauses abzuwarten, bis sie vorüber sind. Argwohn ist das Wahrzeichen dieser Landstriche. Nicht ausgeschlossen, dass wir nie Europäer sein wollten."

Ist die Europäische Union am Ende? Ein Leitartikel in Le Monde beschwor dieses Ende jedenfalls vor einer Woche, und Etienne Balibar stimmt heute in Libération zu. Er wirft den Autoren von Le Monde allerdings vor, den französischen Beitrag dazu nicht benannt zu haben. In der Flüchtlingspolitik habe es zwei Optionen gegeben, die deutsche Position unterstützen oder sabotieren: "Nach einigem Hin und Her hat die französische Regierung so getan, als würde sie die erste Option wählen, um in Wahrheit die zweite zu praktizieren. Nachdem man offiziell den Juncker-Plan zur Verteilung der Flüchtlinge angenommen hatte, der ungenügend war, aber immerhin ein Anfang, tat Frankreich alles, damit die Vereinbarung nicht umgesetzt wurde. Bis zu diesem Tag hätte es 24.000 Flüchtlinge aufnehmen müssen. Tatsächlich waren es ein paar Dutzend."
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Gesellschaft

Sehr instruktiv schildert Niklas Maak in der FAZ den durch die Flüchtlinge notgedrungen entstehenden Wohnungsbau - sogenannte MUFs, "modulare Unterkünfte für Flüchtlinge". Allerdings kommen sie meist ohne Architekten zustande, leider, denn eine Menge Architekten haben dazu Ideen, etwa der Berliner Architekt Max Schwitalla, der nur parkhausähnliche Grundstrukturen bauen will: "Die künftigen Bewohner bauen sich ihre Häuser in diese Betonstruktur hinein und, so der Plan, lernen, von Fachleuten angeleitet, Fertigkeiten und bautechnische Kenntnisse, die ihnen sowohl bei einer eventuellen Rückkehr in ihre zerstörte Heimat helfen werden als auch für den Fall, dass sie in Deutschland bleiben und hier Arbeit suchen: Der Bau des eigenen Zuhauses als Ausbildungsmaßnahme." Auch die NZZ stellte bereits Entwürfe vor.

Richard Herzinger fragt sich in der Welt, woher die Verrohung der Sitten im amerikanische Wahlkampf aber auch der europäischen Politik kommt: "Es ist zur Gewohnheit geworden, das Internet für diese Enthemmungserscheinungen verantwortlich zu machen. Doch das ist so, als gäbe man der Erfindung des Automobils die Schuld daran, dass Raser und betrunkene Fahrer die Straßen unsicher machen."

(Via huffpo.fr) Ein kleines Video einer humoristischen französischen Fernsehsendung zeigt, wie man sich als Mann einem Mann annähert (oder besser nicht), und macht zur Zeit die Runde auf Youtube:



Und hier ein wichtiger Hintergrundartikel für Volker Beck: "Wie gefährlich ist Crystal Meth", fragt Philipp Woldin auf Zeit online. Und in der SZ erzählt Catrin Lorch eine Art Pop- und Kulturgeschichte dieser Droge.
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Urheberrecht

Urheberrechtsdiskussionen werden zumeist völlig einseitig geführt. Die Frage ist stets: Was nützt den Urhebern und den Verwertern. Was nützt den Nutzern und den Vermittlern wie Museen oder Bibliotheken wird hingegen fast nie gefragt. In der Schweiz dürfen die Vermittler bei der Revidierung des Urheberrechts erstmals mitreden, freut sich Claudia Jolles, Chefredakteurin des Kunstbulletins. Und das sei bitter nötig: "Wir haben heute ein hochkomplexes juristisches Räderwerk vorliegen, durch das nur noch eine Handvoll Fachleute schweizweit den Durchblick haben. Doch dem ursprünglichen Sinn und Zweck - der Wahrung der Interessen der Urheberinnen und Urheber an der Verwertung ihrer geistigen Schöpfungen - läuft es oft zuwider. Umso besser funktioniert die Maschinerie als Geschäftsmodell für die im Namen der Urheber auftretenden Verwertungsgesellschaften, welche die Bedingungen formulieren, über ein professionelles Lobbying-System politisch durchsetzen und den Einzug von Vergütungen als private Gesellschaft administrieren."

Apropos Urheber- und Verwertungsrechte: Der Künstler Anish Kapoor hat das exklusive Recht, das revolutionäre Vantablack zu benutzen, das schwärzeste Schwarz, das je entwickelt wurde, meldet Dezeen. "However this has sparked outrage amongst other artists, including English painter Christian Furr - who told the Mail on Sunday that he felt Kapoor was 'monopolising the material'. 'I've never heard of an artist monopolising a material. Using pure black in an artwork grounds it,' he said. 'All the best artists have had a thing for pure black - Turner, Manet, Goya. This black is like dynamite in the art world. We should be able to use it - it isn't right that it belongs to one man,' he added."
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Politik

Andrew Pulver führt für den Guardian ein politisches Gespräch mit George Clooney, der mit klaren Worten über Donald Trump nicht spart: "Er ist halt ein Opportunist. Gerade ist er Faschist, fremdenfeindlicher Faschist." Aber Clooney hält auch Trost parat - einen Spruch, der Churchill zugeschrieben wird: "Du kannst darauf zählen, dass die Amerikaner das Richtige tun, nachdem sie alle anderen Optionen ausprobiert haben."

Lena Bopp liest für die FAZ drei Bücher, in denen Jesidinnen vom Wüten des islamischen Staats berichten. Es ist ein systematisches, organisiert verübtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Männer wurden zumeist erschossen. "Die verbliebenen Frauen in den Dörfern wurden zusammengetrieben und, man muss es so nennen, nach bestimmten Kriterien sortiert: Die Jungen, Unverheirateten pferchte man in Busse, die nach Mossul oder Rakka fuhren, wo sich in großen Lagern offenbar regelrechte Märkte befanden, auf denen die Frauen den IS-Kämpfern angeboten wurden wie Ware. Besonders beliebt, auch darin stimmen die Berichte überein, seien ganz junge Mädchen gewesen - diejenigen zwischen zwölf und vierzehn Jahren, mit heller Haut und hellen Haaren, grünen oder blauen Augen und guten Zähnen."

Der Londoner Historiker Jan Plamper erzählt in der FAZ die Geschichte von Karen Dawishas Buch "Putin's Kleptocracy", das minuziös nachweist, wie Putin nebenbei zum Mafiaboss wurde - und auch die deutsche Beteiligung daran von Schröder bis Siemens thematisiert -, das der Verlag Simon & Schuster aus dem Hause CBS aus Angst vor Ärger aber keinem deutschen Verlag geben will: "Das heißt: Putin und seine Clique haben so viel Geld zusammengestohlen, dass die mächtige CBS Corporation zurückschreckt, ein Buch global zu verbreiten, das die Einzelheiten dieses Diebstahls aufdeckt."
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