9punkt - Die Debattenrundschau

Nach höchst aktuellem Geschmack

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2016. Die neue polnische Regierung ist reaktionär, aber sie lässt sich nicht mit Putins Russland vergleichen, sagt Adam Zagajewski in der NZZ. In Europa ist noch eine rechtsextreme Regierung angetreten, schreibt Caroline Fourest mit Blick auf Kroatien, wo man katholischen und islamischen Fundamentalismus vereinen will. Was meint Russland, wenn es von "Kaltem Krieg" spricht, fragt die SZ. Die Zeitung ist tot, Online-Medien aber auch, meint die Financial Times, die von USA Today resümiert wird. In der FR jongliert Herbert Schnädelbach mit Normen, Werten und Gütern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.02.2016 finden Sie hier

Europa

Der neuen polnische Regierung, sagt ein sehr zorniger Adam Zagajewski im Gespräch mit der NZZ, geht es "um die Umwandlung der Gesellschaft, um einen zutiefst reaktionären Versuch, der - und das sage ich nicht als Linker, sondern als jemand, der die politische Mitte vorzieht - dem Geist der Europäischen Union zuwiderläuft". Autoritär wie Putins Russland sei Polen deshalb aber noch nicht: "Da müsste man die Meinungsfreiheit unterdrücken, die freien Medien einschränken, sogar das Internet. Als ich vor ein paar Tagen in Bonn dieses satirische Gedicht gelesen habe, fragte jemand, ob es in Polen habe publiziert werden können. Ja, natürlich. Jedenfalls vorläufig kann man sagen: natürlich."

Was meinte Dmitrij Medwedjew, als er in München von einem "neuen Kalten Krieg" sprach, fragt Jens Bisky in der SZ, "eine Definition übrigens, die Russland selbstverständlich die Rolle einer Supermacht zuschreibt. Neuer Kalter Krieg - das sollte in München wohl vor allem auf die Gegnerschaft zwischen 'dem Westen' und Russland hinweisen, eine Gegnerschaft, die schon einmal überwunden wurde. Impliziert die Floskel auch eine Einladung, sich noch einmal über die Köpfe der Polen, Esten, Letten, Litauer und Ukrainer hinweg zu einigen? Und auf deren Kosten?"

Im EU-Mitgliedsland Kroatien ist eine neue rechtsextreme Regierung angetreten, schreibt Caroline Fourest in der huffpo.fr und spricht vor allem von der Most-Partei, die fundamentalistisch katholischen Kreisen nahe stehe. Einer ihrer Repäsentanten ist der neuen Kullturminister Zlatko Hasanbegovic, von dem Jugendfotos in Ustascha-Uniform existieren. "Als Historiker hat Hasanbegovic mit Leidenschaft über ein Ustascha-Projekt geschrieben, das Katholiken und Muslime, die für die Nazis waren, gegen ihre gemeinsamen Feinde zusammenführen wollte. Eine grünbraune Allianz nach höchst aktuellem Geschmack. Der Kulturminister hat auch schon mal in der Presse 'jene, die behaupten, den Islamofaschismus anzugreifen' als 'Sprachrohre der internationalen jüdischen Öffentlichkeit' bezeichnet. Eine mächtige Lobby, deren Ziel es sei, dem Bild der Muslime zu schaden..."

Ja, was denn nun, leisten wir bei Flüchtlingen humanitäre Hilfe oder wollen wir unsere geburtenschwachen Jahrgänge auffüllen? Beides gleichzeitig geht nicht, meint Henryk M. Broder in der Welt und plädiert dafür die Grenzen zu schließen, damit denen wirklich geholfen werden kann, die schon hier sind, statt herumzueiern: "Dieselbe Kanzlerin, die eisern an ihrem Kurs der offenen Grenzen festhält, macht sich zur Fürsprecherin einer Drehtür-Politik. 'Wir erwarten, dass, wenn wieder Frieden in Syrien ist und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass ihr auch wieder, mit dem Wissen, was ihr jetzt bei uns bekommen habt, in eure Heimat zurückgeht', machte sie vor Kurzem den 'Geflüchteten' klar. Die sollen sich also zuerst integrieren, um dann in ihre Heimat abgeschoben zu werden. Das ist eine extrem attraktive 'Bleibeperspektive'."
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Ideen

Im Gespräch mit Michael Hesse von der FR will der Philosoph Herbert Schnädelbach den Begriff der "Werte" am liebsten abschaffen und statt dessen einerseits von "Normen" sprechen (wenn wir uns dran halten müssen), andererseits von "Gütern". Der Begriff der Werte ist ihm zu unklar: "Es ist klar, dass mit den veränderten Lebensbedingungen sich die Dinge und Institutionen, die wir wertschätzen, auch verändern. Der Wertewandel und der damit verbundene Wertepluralismus sind Kennzeichen der offenen Gesellschaft, in der wir leben. Wichtig ist nur, dass beides durch eine Rechtsordnung begrenzt und gehegt wird."

Über Hassredner, die als Mob auftreten, hat sich vor 120 Jahren schon der französische Soziologe Gustave Le Bon in seinem Buch "Die Psychologie der Massen" Gedanken gemacht, erklärt der Medientheoretiker Tilman Baumgärtel in der taz. Der Mann war kein Demokrat und verachtete die Massen. Daran könnte man sich heute wieder ein Beispiel nehmen, findet Baumgärtel und will sich der "Pöbelherrschaft" im Internet entziehen: "Warum sollten sich vernünftige Menschen in eine fruchtlose Auseinandersetzung mit halbgebildeten Verschwörungstheoretikern hineinziehen lassen? Einfacher wäre der Rückzug der Intelligenzija in ihre historisch bewährten Reviere: redaktionell gestaltete Zeitungen und Zeitschriften, Seminarräume, Hinterzimmer, private Salons, geschlossene Gesellschaft."

Außerdem: Klaus Bartels denkt in seiner NZZ-Kolumne über das Wort "Industrie" nach.
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Geschichte

Dass die Herausgeber von Hitlers "Mein Kampf" eine "Edition mit Standpunkt" vorlegen wollten, findet der Historiker Peter Longerich in der NZZ löblich, recht gelungen sei es leider nicht. Der "Standpunkt" entpuppe sich nämlich als ein Meer von Fußnoten, die dem Text den giftigen Zahn ziehen sollen. Das funktioniert aber nur begrenzt, meint Longerich: "Eine ausführliche Kommentierung in Form von Fußnoten muss sich notwendigerweise in den Schlepptau des Textes begeben, jede auch noch so absurde Wendung des Autors nachvollziehen und den blühenden Blödsinn des Originals auf skrupulöse Weise kommentieren. Eine Analyse der Position Hitlers, die deutlich macht, wie er sich mit seinem ungebremsten Mitteilungsdrang den Zugang zu einer Erklärung der Ursachen der Niederlage von 1918 selbst verstellt, kann so nicht geleistet werden."
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Stichwörter: Longerich, Peter, Mein Kampf

Medien

Die Zeitung ist tot, Online-Medien aber auch, schreibt die Financial Times in einer Geschichte, die viel zitiert wird, aber online nicht zu lesen ist und die Michael Wolff von USA Today darum ausführlich resümiert: An die Parole Paywalls glaube inzwischen keiner mehr, sie führe zu kargen Einnahmen und dem Verschwinden der Markenrelevanz. Alle anderen Wege funktionieren auch nicht: "Die FT-Geschichte zitiert Versuche von Murdochs Sun in Britannien, eine der erfolgreichsten Zeitungen der Welt, zunächst eine Paywall aufzurichten und sie dann einzureißen und stattdessen das Modell der Daily Mail online mit ihrem Show Biz- und Tabloid-Herangehen nachzumachen, außer dass MailOnline, eine der größten digitalen Seiten, bis heute nicht profitabel ist und hinter ihren Einnahmezielen zurückbleibt. Mit anderen Worten: Während Nutzer oder Werbetreibende nicht mehr genug zahlen, um die Kosten von News im Print zu refinanzieren, zahlen sie auch nicht genug, um die Onlinekosten zu refinanzieren."

Stefan Aust
, Chefredakteuer der Welt (genauer der WeltN24-Gruppe) erklärt seinen Lesern, warum er den Redakteur Günther Lachmann, der der AfD per Mail Hilfe bei der Öffentlichkeitsarbeit angeboten hatte, rausgeschmissen hat: "Ein Journalist, der sich als PR-Berater einer Partei andient, hat seine Unabhängigkeit verloren, seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt - und damit seinen Job."

Alexander Becker, Chefredakteur von Meedia führt ein PR-Interview mit der stellvertretenden Chefredakteurin der Zeit, Sabine Rückert, zur Jubiläumsausgabe der Wochenzeitung, die siebzig wird, und kriegt es hin, keine Frage zu Online oder gar den mit Streik drohenden Online-Kollegen zu stellen. Rückert sagt zur Frage, ob die Zeit auch in siebzig Jahren wieder feiern wird: "Die Marke wird es noch geben, wenn die Leute nachwachsen, die sie lesen und wenn die Leute nachwachsen, die sie schreiben." Unterdessen erzählt David Hugendick von Zeit online unter der Überschrift "Wir Kellerkinder", dass der Online-Journalimus in dem Institut auch schon Geschichte hat.
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