9punkt - Die Debattenrundschau

Emotional und intellektuell faszinierend

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2015. Bei irights.info beschreibt Yochai Benkler, wie das offene Netz durch die mobilen Geräte und die im mobilen Netz  dominierenden Plattformkonzerne in Gefahr gerät. In den USA geht wegen der Smartphones bereits die Zahl der Breitbandanschlüsse zurück, sekundiert Vice. Das Zeit-Magazin beschreibt, wie der Blogger Caspar Mierau von einem Internetstalker terrorisiert wurde. In der FAZ streiten Friedrich Wilhelm Graf und Martin Mosebach über die "Interpretationsfigur Auferstehung". Und wer Weihnachten feiern will, sollte heute besser die Länder Somalia, Tadschikistan und Brunei meiden! Da ist Weihnachten verboten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.12.2015 finden Sie hier

Internet

Sascha Lobo benennt in seiner Spiegel-Online-Kolumne fünf wichtige digitale Tendenzen des Jahres 2015. Eine davon ist die fatale Tendenz zum mobilen Netz: "In den Vereinigten Staaten verbringt die Bevölkerung 38 Prozent der Zeit mit dem stationären Internet und 62 Prozent der Zeit mit dem mobilen Internet. Die 'Mobile Revolution' wird in ihrer Wirkung selbst von Experten noch gar nicht voll verstanden, weil sie noch am Anfang ist. Das Smartphone - das einer britischen Untersuchung zufolge im Schnitt 221-mal am Tag aus der Tasche gezogen wird - ist ja in seiner heutigen Form erst acht Jahre alt."

Eine andere von Lobo benannte Tendenz ist das Internet als Medium des Hasses. Hierzu erzählt Khuê Pham im Zeit-Magazin die Geschichte des Bloggers Caspar Mierau, dessen Leben von einem Internetstalker auf den Kopf gestellt wurde. Auch Mierau selbst schreibt in seinem Blog über seine Geschichte.

Auch der Trend zum mobilen Netz hat seine fatalen Seiten: Der große Yochai Benkler, der mit seinem Buch "The Wealth of Networks" (hier als kostenfreies Download) eines der wichtigsten Grundlagenwerke zur Idee eines offenen Internets viorgelegt hat, benennt diese Tendenz im Gespräch mit John Weitzmann von irights.info: "Das mobile Smartphone ist inzwischen die primäre Plattform geworden. Dadurch sind Kontrollstrukturen entstanden, vom proprietären Funknetz über das proprietäre Betriebssystem bis zum jeweiligen App-Store. Auch Cloud-Speicherdienste gehen in diese Richtung. Tatsächlich werden es immer mehr Kontrollpunkte, von denen aus wenige Unternehmen den Informationsfluss kontrollieren können."

In den USA führt diese Tendenz zum mobilen Netz schon dazu, dass die Leute weniger Breitbandanschlüsse für das Internet zuhause haben, schreibt Jason Koebler von Vice nach Lektüre einer Studie des Pew Instituts, die diesen Rückgang in den USA statistisch nachweist: "Man muss kein Ökonom sein um herauszufinden, warum das passiert. Breitband ist teuer, Smartphone-Zugang ist teuer, und an einem gewissen Punkt musst du die Wahl treffen. Pew stellt fest, dass Leute, die nur noch Smartphone nutzen, in der Regel ärmer sind."
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Europa

Dankwart Guratzsch (Welt) versteht nach Lektüre des 2005 erschienenen Buchs "Historische Städte von West- und Nordpolen" der polnischen Denkmalpflegerin Maria Lubocka-Hoffmann erstmals, warum die Polen Flüchtlingen gegenüber so abweisend sind: "Die im Zweiten Weltkrieg und zu Sowjetzeiten schwer beschädigte Identität Polens - das mag für die meisten ehemaligen Ostblockländer gelten - ist in weiten Teilen auch heute noch ungefestigt. Abwehrreflexe, die einst der deutschen Kultur galten, wenden sich nun gegen eine Vereinnahmung durch eine als 'hegemonial' missverstandene EU-Politik und gegen Zuwanderer, die mit neuen Einflüssen und Ansprüchen in diesen empfindlichen Entwicklungsraum eintreten."

Frankreich droht Doppelstaatlern, deren Eltern nach Frankreich eingewandert sind, bei Fehlverhalten neuerdings die Aberkennung der Nationalität an. Diese Maßnahme rührt an innerste Tabus des französischen Repbulikanismus (anders als in Deutschland mit seinem "Blutrecht" gilt in Frankreich ein "Bodenrecht"). Johan Hufnagel und Jonathan Bouchet-Petersen verbergen ihre Empörung in Libération nicht: "War es wirklich nöltich, aus rein politischen Gründen - und schlimmer - aus Gründen der Beliebtheitsquote, eine unnütze, skandalöse Maßnahme vorzuschlagen, die sämtlichen Werten der Linken widerspricht? Die Antwort liegt in der Frage."

In der Welt kommt Marcus Funck vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung noch einmal aus akademischer Perspektive auf den Zuckerberg- und Antisemitismusstreit zwischen den Börne-Preisträgern Götz Aly und Jürgen Kaube und ein paar anderen Autoren zurück (unsere Resümees) und rät, "nüchtern-sachliche Kritik der Polemik vorzuziehen - selbst wenn das Götz Alys Sache nicht sein sollte".
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Ideen

Martin Meyer denkt in der NZZ über "Zeitungen" und "Ewigungen" und die Beschleunigung unseres Alltags nach.
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Stichwörter: Beschleunigung

Religion

Die FAZ lässt den evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf und den katholischen Autor Martin Mosebach gegeneinander antreten. Es moderieren Patrick Bahners und Edo Reents. Es geht ums Christentum. Graf will's historisch sehen: "Die frühen Christen waren in aller Regel noch Juden, sie haben eine gewisse Zeit gebraucht, bis sie sich als Christen verstanden haben. Diese frühen Christen haben mit der Interpretationsfigur 'Auferstehung' ein Scheitern in einen Sieg umgedeutet - eine auch emotional und intellektuell faszinierende Idee."

Darüber regt sich Mosebach auf: "Wir können die Sache doch ganz schmerzlos erledigen: Man kann sagen, wir haben heute die Geschichte Jesu und seiner Jünger aufgeschlüsselt in psychologische Phänomene mit der phantastischen Wendung, aus einem Versagen einen Sieg zu machen - das findet man häufig bei Neurotikern oder bei Alkoholikern, die sich ihre Welt zimmern. Und daraus wurde eine Massenpsychose, die sich..." Graf: "Davon habe ich nichts gesagt."

Ebenfalls in der FAZ erzählt Noemi Schneider eine Geschichte religiöser Versöhunng ausgerechnet aus dem Heiligen Land, wo Christen in einer Kirche, die 1951 von der israelischen Armee zerstört wurde, zusammen mit allen religiösen Fraktionen feiern.
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Medien

Sind deutsche Medien "islamophob"? Charlotte Wiedemann schildert in der taz ihren Eindruck vom Verhältnis deutscher Medien zu Flüchtlingnen und Islam: "Medien haben über Jahre entscheidend das negative Image muslimischer Einwanderer geprägt. Die 'Islamisierung des Abendlandes' begann nicht bei Pegida, sondern auf den Titeln des Spiegels. Die Medien tragen insbesondere Verantwortung für die Verachtung, mit der die deutsche Öffentlichkeit auf die muslimische Frau blickt. Bis heute illustrieren Redaktionen das Thema Bildungsdefizite am liebsten mit einem Kopftuch. So ist denn auch eine neue Generation hoch gebildeter Musliminnen in Deutschland gegen die Medien herangewachsen." Andreas Fnizadeh feiert in derselben Ausgabe der taz dagegen die "neue deutsche Gelassenheit angesichts von Flüchtlingskrise und islamistischem Terror".
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Gesellschaft

Einen Tag nach Brunei hat auch Somalia alle Weihnachtsfeiern verboten, weil sie "nicht mit der islamische Kultur vereinbar" seien, berichtet Simon Tomlinson in der Daily Mail. Somalias Präsident Hassan Sheikh Mohamud befürchtet außerdem, Weihnachtsfeiern könnten die islamistische Terrorgruppe Al Shabaab zu neuen Angriffen provozieren. Die somalische Bevölkerung ist da mutiger, erzählt Tomlinson weiter. "Als am Montag zehn Al-Shabaab-Milizen im Norden des Landes einen Bus überfielen, forderten sie die muslimischen Passagiere auf, die Christen auszusondern. Aber die Passagiere weigerten sich, einige gaben ihren Mitreisenden sogar islamische Utensilien, damit sie nicht unterschieden werden konnten." Auch im mehrheitlich muslimischen Tadschikistan darf weder Weihnachten noch Silvester gefeiert werden, berichtet der Guardian.
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