9punkt - Die Debattenrundschau

Das einzige, was meins war

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2015. Dient Kriegsfotografie heute dazu, den Krieg zu ästhetisieren? Ja, meint David Shields in einem neuen Essay, den Tim Parks im NYRBlog mit leiser Skepsis bespricht. Heinrich August Winkler in der SZ und Wolf Lepenies in der Welt kritisieren Deutschlands Flüchtlings- und Europapolitik. Opendemocracy definiert Leihmutterschaften als Arbeit. Rupert Murdoch ist zurück im Zentrum der britischen Macht, konstatiert der Guardian. Und die NZZ geht nach Versailles.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.12.2015 finden Sie hier

Ideen

Prostitution muss weder mit sexuellen noch mit emotionalen Gefühlen verknüpft sein, und darum kann sie wie jede andere Dienstleistung als normaler Beruf mit entsprechenden sozialen Versicherungen ausgeübt werden: Dafür stritten in den achtziger/neunziger Jahren Organisationen wie Hydra in Berlin, Nitribitt in Bremen oder Kassandra in Nürnberg. Werden Schwangerschaften jetzt ebenfalls in die Dienstleistungsberufe aufgenommen? Nach fünfzehn Monaten Feldforschung in Sankt Petersburg plädiert die britische Anthropologin Christina Weis in Open Democracy eindeutig dafür. Und deshalb wäre auch "Leiharbeiterin", nicht "Leihmutter"der korrekte Begriff für das Austragen fremder Kinder: "Nadja, die Zwillinge ausgetragen hat, hatte vorher stundenlang online über IVF und Leihmutterschaft recherchiert um sicherzustellen, dass bei der Prozedur keins ihrer Gene übertragen wird. 'Das einzige, was ich diesen Babies gegeben habe, ist mein Blut. Die Föten waren an meine Plazenta angeschlossen. Das war die einzige Verbindung zu meinem Organismus, das einzige, was meins war!'" (Wird dieser Zweig der Reproduktionsmedizin nicht viel zu selten diskutiert, im Gegensatz zur PID?)

Donald Trump soll laut einer britischen Petition wegen einer diskriminierenden Äußerungen über Muslime die Einreise nach Britannien verwehrt werden. Aber auch der britischen Ex-Muslimin Maryam Namazie wird das Rederecht an britischen Universitäten verweigert, weil sie mit ihrer Religionskritik angeblich die Gefühle der Muslime verletzt. Kenan Malik findet in seiner New York Times-Kolumne dass die britischen Linken und Trump durchaus einiges gemein haben: "So wie Trump Muslime als ein gleichförmiges Pack ansieht, alles potenzielle Terroristen, so sehen auch die Linken Muslime oft als eine homogene Community, die mit einer Stimme spricht. Beide nehmen progressive muslimische Stimmen wahr, als seien sie nicht Teil dieser Community, während sie die konservativsten Stimmen als die authentischen feiern."
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Europa

Der Historiker Heinrich August Winkler wirft den Deutschen in der SZ vor, Europa in der Flüchtlingsfrage zu moralischen, aber gleichwohl nationalen Zwecken zu instrumentalisieren: "Eine Instrumentalisierung Europas zu nationalen Zwecken ist keine deutsche Besonderheit. Sehr deutsch ist es hingegen, an ein Europa zu glauben, das es nur als Wille und Vorstellung gibt. Die Tatsache, dass fast alle anderen Mitgliedstaaten der EU in der Asyl- und Flüchtlingsfrage anders denken und handeln als die Bundesrepublik, beweist noch längst nicht, dass sie recht haben. Aber es ist wichtig zu wissen, warum die Unterschiede gerade auf diesem Gebiet so groß sind."

Deutschland hätte nicht so darauf drängen sollen, die mittel- und osteuropäischen Länder in die EU aufzunehmen, meint Wolf Lepenies in der Welt: "Heute zeigt sich nirgends deutlicher als im nationalkonservativen Polen Jaroslaw Kaczynskis, dass aus der Interessendivergenz innerhalb Europas längst eine Interessenkonfrontation geworden ist. Deutschland steht vor den Scherben der von Berlin forcierten Erweiterungspolitik der Europäischen Union nach Osten."
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Urheberrecht

Ho Nam Seelmann berichtet von einer gigantischen Plagiatsaffäre in Korea, wo gegen 179 Professoren ermittelt wird, weil sie Lehrbücher buchstäblich durch Auswechseln der Umschlagseiten produziert haben: "Ein Professor verfasst ein Lehrbuch, das ein Kollege mit Zustimmung oder Duldung des Verfassers, versehen mit einer anderen Umschlagseite, unter dem eigenen Namen neu herausbringt. Hat der Verfasser zugestimmt, erhält er regelmäßig sein Honorar vom Verlag. Dieser profitiert auch davon, da Lehrbücher keine hohen Auflagen haben und nicht zu teuer sein dürfen. Funktioniert dieses System, können die Verlage so die Verkaufszahlen erhöhen und den Lagerbestand verringern."
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Geschichte

Marc Zitzmann besucht in der NZZ die große Ausstellung in Versailles über den Tod Ludwig XIV vor 300 Jahren und lernt vor allem viel über Verkörperung und Staat: "Den berühmt-berüchtigten Satz 'L'Etat, c'est moi' hat der Sonnenkönig nie formuliert, er wurde ihm zweihundert Jahre nach seinem Tod in den Mund gelegt. Attestiert ist hingegen, dass er auf dem Sterbebett die Worte sprach: 'Ich gehe, aber der Staat wird immer bleiben.' Wohl stilisierte sich Louis XIV gezielt zur Verkörperung des Staats. Doch die Strukturen, die er geschaffen hatte, überdauerten ihn und seine Minister. Wo zuvor Klientelismus herrschte, schälte sich eine von den Seilschaften des Hochadels unabhängige Frühform der Fonction publique heraus."
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Stichwörter: Ludwig XIV, Versailles

Medien

Etwas skeptisch liest Tim Parks im Blog der NYRB den neuen Essay von David Shields "War Is Beautiful", der die New York Times anklagt, mit ihren Kriegsfotos den Krieg zu ästhetisieren. Ganz von der Hand weisen kann Parks das nicht: "Es ist beim Durchblättern dieser Fotos kaum zu leugnen, dass sie ihre Gegenstände mit voller Absicht ästhetisieren - und auf den Betrachter somit anästhesierend wirken. Das sind Glamour-Bilder, gemacht, bewundert zu werden und keine Dokumentarbilder, die der Gewalt und dem Horror Unmittelbarkeit geben... Kurz: Wir sind weit entfernt von den nüchternen Schwarzweißbildern, die den Vietnamkrieg in der selben Zeitung illustrierten." Parks Gegeneinwand liegt in einer Frage: "Ist es uns überhaupt möglich, dieser Verwandlung der Bestie in eine Schönheit zu entkommen?" Rita Banerjee hat schon im November bei electricliterature ein Interview mit Shields zu dem Buch geführt.

Tja, Rupert Murdoch hat nur ein paar Dutzend enge Freunde zu einer kleinen Weihnachtsfeier bei sich zuhause eingeladen. Und David Cameron zählte zu den Gästen, berichtet Jane Martinson im Guardian: "Vier Jahre nach dem Telefon-Hacking-Skandal, der Medien und Politik durcheinanderstöberte, gilt Camerons Auftritt bei der Party als sein erstes Treffen mit Murdoch seit seiner Wiederwahl im Mai. Beweis, dass der Chef von News Corp wieder im Machtzentrum von UK angekommen ist."

Weiteres: Lalon Sander besucht im indischen Varanasi die Zeitung Khabar Lahariya, die recht mutig und erfolgreich über Gewalt gegen Frauen und Korruption auf dem Land berichtet. In der taz ärgert sich Margarete Stokowski über die Häme, mit der Frauen überschüttet werden, die eifrig unter dem Hashtag #whyisaidnothing über verschwiegene sexuelle Gewalt twittern.
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