9punkt - Die Debattenrundschau

Die schönsten Frauen der Revolte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2015. Die allgemeine Erleichterung in Frankreich sollte den Blick auf die veränderte politische Landschaft nicht trüben, meint Anne Sinclair in der huffpo.fr. taz und Washington Post beleuchten die Lage der Presse in Mexiko. Götz Aly bleibt im Deutschlandfunk bei seinem Antisemitismusvorwurf in der Zuckerberg-Debatte. Verleger und Gewerkschafter streiten über das Wohl der Autoren. In der FR möchte Robert Spaemann vor allem Glaubensgenossen Gutes tun.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.12.2015 finden Sie hier

Europa

Das "Uff" ist allgemein, schreibt Anne Sinclair in der Huffpo.fr nach den Regionalwahlen in Frankreich - aber geht man nun wieder zum business as usual über? "Am Freitag hat eine Hörerin von France Inter Manuel Valls ein intelligentes Argument an die Hand gegeben, an das er sich in seiner Erklärung nach der Wahl offenbar erinnerte: Früher, sagte sie, sei die Stimme für den Front national eine Stimme 'gegen' das System gewesen, und die Stimme für die Sozialistische oder andere gemäßigte Parteien eine Stimme aus Überzeugung. Heute, so fuhr sie fort, ist die Stimme für den Front national Ausdruck einer Zustimmung, und eine Stimme gegen diese Zustimmung ist alles, was bleibt, um die anderen zu abzusichern."

War die Kritik Michael Hanfelds an Mark Zuckerberg antisemitisch? Götz Aly bleibt im Interview mit Ute Welty vom Deutschlandfunk dabei und will auch der Forderung des Autors Per Leo, sich für den Vorwurf zu entschuldigen, nicht nachkommen (unsere Resümees der Debatte). Hier das Transskript seines Interviews: "Was die Entschuldigung anbelangt, denke ich, im Spiegel, Sascha Lobo, den ich kritisiert habe, da hat's angefangen in meinem Text, der hat sehr einsichtsvoll reagiert und gesagt, ja, da ist etwas dran. Er hat sofort sich damit auseinandergesetzt. In der FAZ ist man auf vollständige Betonabwehr gegangen, wobei man sehen muss, dass es in der FAZ offenbar interne Kritik gegeben hat, nämlich sofort in der Sonntagszeitung ist ein Gegenartikel gewissermaßen zu dem von mir angegriffenen Artikel von einem Herrn Hanfeld erschienen. Also ich finde das jetzt alles nicht so schlimm, das bewegt sich im Rahmen der öffentlichen Debatte."

Außerdem: In ihrer Maschinenraumkolumne in der FAZ wendet sich Constanze Kurz gegen elektronische Wahlsysteme.
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Gesellschaft

Georg Imdahl (SZ) lernt in der Ausstellung "Politischer Populismus" in der Kunsthalle Wien, dass auch die Eigenvermarktung in den sozialen Medien als Populismus in eigener Sache gelten kann: "So erzählt der 1975 im südchinesischen Qingtian geborene Jun Yang, wie er nach Europa kam und als Junge mit dem Wiener Schnitzel aufwuchs. Mit Allerweltsvokabeln verschlagwortet der in Wien, Yokohama und Taipeh lebende Künstler seine Biografie und illustriert sie - austauschbar, aber eben auch seltsam glaubwürdig - mit den erstbesten Bildern, die bei Google oben stehen."

Der Architekt Vittorio Lampugnani weigert sich in der NZZ, die Stadt als Maschine zu begreifen: "Sämtliche Versuche, die gesamte Stadt als veritablen Apparat zu begreifen und zu konstruieren, sind bezeichnenderweise auf dem Papier geblieben. Le Corbusier verwandte zwar den Maschinenbegriff als Metapher, setzte ihn aber in seinen Projekten nie wortgetreu um. Die Visionen der sowjetischen Avantgarde, von Anton Lawinskis mehrgeschossiger 'Stadt auf Stoßdämpfern' von 1921 bis zu Georgi Krutikows 'Fliegenden Städten' von 1928, bei denen Einpersonenkabinen Verkehrsmittel und Wohnraum zugleich waren und die Menschen von der Erde zu raumschiffartigen Wohngebilden transportieren sollten, waren nicht mehr als virtuose ideologische Übungen, künstlerische Darstellungen des jungen sozialistischen Staates."

Willi Winkler schreibt in der SZ den Nachruf auf den Schriftsteller, Revolutionär und Dandy Gaston Salvatore, "um den sich bald die schönsten Frauen der Revolte rankten".
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Ideen

In einem seltsam symbolischen Moment des Wiederaufstiegs der Nationalismen kommt die Meldung, dass Benedict Anderson, einer der berühmtesten Historiker der Idee der Nation (und Bruder von Perry Anderson) in Indonesien gestorben ist - Anderson kam aus einer anglo-irischen Familie, hat aber lange in Indonesien gelebt und war traumatisiert von dem extrem brutalen Coup des antikommunistischen Diktators Suharto. Jeet Heer schreibt in der New Republic einen lesenswerten Nachruf: "Andersons berühmtestes Werk, 'Imagined Communities', ist in der Hitze der indonesischen Geschichte geschmiedet worden. Wie halten vielfältige Nationen wie Indonesien, die aus vielen Sprachen und Völkern bestehen, zusammen? Warum fallen sie manchmal auseinander? Was hält die Leute in großen Nationen davon ab, sich gegenseitig umzubringen, und warum versagt nationale Bindung manchmal? Das waren für Anderson keine abstrakten Fragen, sie sind aus seiner Verwicklung in die indonesische Geschichte entstanden."

Außerdem: Martin Hesse lässt sich in der FR vom Philosophen Robert Spaemann zeigen, dass auch Tugendhaftigkeit ihre zweckrationale Seite haben kann, vor allem gegenüber Flüchtlingen: "Johannes schreibt in einem Brief: Tut Gutes allen. Besonders aber den Glaubensgenossen. Folglich ist es nicht der Zufall. Es gibt rational nachvollziehbare Gründe der Auswahl. Auch berufliche Kompetenz kann ein solcher Grund sein." In der FAZ spürt der Archäologe Michael Siebler aktuellen Diskuren über die Bedeutung der Stadt Troja nach.
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Medien

Im fünften Teil einer Serie über die "menschlichen Kosten" der Wahrnehmung von Pressefreiheit berichtet Dana Priest in der Washington Post über die Lage in Mexiko, wo es für die Presse heißt: "Censor or Die": "Vor einigen Jahren fingen Ladeninhaber, Regierungsmitarbeiter und Studenten an, die Lücke in den Lokalnachrichten mit Berichterstattung in den sozialen Medien zu füllen. Die Kartelle brauchten eine Weile, bis sie verstanden, dass dies auf anonymen Twitter- und Facebook-Konten geschah. Dann folgte Vergeltung. Am 26. September 2011 wurde der geköpfte Körper einer Bloggerin am Columbus-Denkmal in Nuevo Laredo liegengelassen. Neben der Leiche fanden sich zwei Tastauren und eine mit ZZZZ signierte handschriftliche Warnung. Aber die Berichterstattung in den sozialen Medien ist seitdem nur gewachsen. Inklusive Karten und endlosen Handy-Videos von Massakern und Entführungen."

Im taz-Interview mit Wolf-Dieter Vogel fordert die mexikanische Journalistin Marcela Turati mehr Solidarität mit den Journalisten in ihrem Land, die nicht nur von den Kartellen, sondern auch von Politik und Staatsapparat bedroht würden: "Man kann schlicht nicht das Richtige tun. Ein Reporter berichtete mir von einem Anruf, den er von Killern bekam. Sie forderten ihn auf, einen Toten zu fotografieren, damit dieser am nächsten Tag in der Zeitung erscheint. Dann meldet sich das gegnerische Kartell und stellt klar: Das war unser Mann. Wenn du ein Bild von ihm veröffentlichst, bekommst du Probleme. Als der Kollege am Tatort war, ließen ihn die Soldaten nicht durch und verbaten ihm, aus der Nähe zu fotografieren. Also machte er aus großer Entfernung ein schlechtes Bild, um alle drei zufriedenzustellen."

Perlentaucher Thierry Chervel erklärt im Interview mit Arno Widmann von der Berliner Zeitung, warum er den Begriff der "Zeitungskrise" für falsch hält und eher von einer Krise der Informationsökonomie spricht: "Zeitungen waren das Ebay des 19. Jahrhunderts. Sie organisierten den Markt. Denken Sie an die Rolle der Kleinanzeigen für die Regionalzeitungen oder den überregionalen Stellenmarkt. Davon haben die Zeitungen gelebt... Als die Anzeigen ins Internet abwanderten, stürzten die Zeitungen gewaltig in die Tiefe. Ebay, Google, Amazon haben die Märkte effizienter organisiert. Jetzt stellt sich heraus, dass es für Information jenseits dieser überkommenen Bündelung kein Geschäftsmodell gibt."
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Urheberrecht

Am Wochenende veröffentlichte eine Reihe von Verlegern und sehr prominenten Autoren einen offenen Brief gegen die geplante Urheberrechtsreform (unser Resümee). Die darin enthaltene größere Vertragsfreiheit für Autoren schade diesen nur. Dem widerspricht jetzt auf seiner Website der Deutsche Journalisten-Verband - bei deutlicher Bereitschaft, die strittige Klausel zu opfern. Der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall wird so zitiert: "Nur wegen eines Details, über das man im Gesetzgebungsverfahren reden kann, das gesamte Reformvorhaben der Bundesregierung abzulehnen, entlarvt die Absicht der Verlage: Sie wollen ihre herrschende Dominanz gegenüber den Urhebern zementieren."

Auch die Freischreiber hatten den Gesetzentwurf gelobt, "der in weiten Teilen den Interessen der Urheber und unseren Forderungen entspricht. Wenn sich Bundesjustizminister Heiko Maas damit durchsetzen kann, hätten wir ein Urheberrecht, das diesen Namen auch verdient." Auf der Website der Freischreber wird resümiert, was sich für Autoren bessern soll.

Jan Wiele wirbt in der FAZ für den Standpunkt der Verleger: "Bei der Debatte fällt allgemein auf, für wie gering manche den kreativen Anteil der Verlage an Werken halten. Insbesondere bei der Belletristik bleibt dieser der Öffentlichkeit meist verborgen."

Wieland Freund hält die umstrittene Fünjahresregel in der Welt für sinnlos, weil sie sich gegen Buy-Out-Verträge wende: "Buy-out-Verträge gibt es in der Filmbranche, in der Buchbranche gibt es sie so gut wie nicht. Von der geplanten Gesetzesänderung würden also nur einige wenige Erfolgsautoren profitieren - solche nämlich, deren Werke verfilmt werden, oder solche, deren Werke Longseller sind und sich auch fünf Jahre nach Erscheinen noch so gut verkaufen, dass sich ein neuer 'Verwerter' für sie interessiert." Aber wenn nur Erfolgsautoren profitieren - warum wenden sich so viele Erfolgsautoren gegen die geplante Reform?
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Politik

Im FAZ-Interview mit Joachim Müller-Jung preist der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber den Pariser Gipfel als Triumph für Vernunft, Moral und Weltgesellschaft.

Der Paris Gipfel mag ein großer Erfolg gewesen sein, in der Schweiz sind die Verhandlungen zur Durchsetzung der Genfer Konvention dagegen kläglich gescheitert, schreibt der Völkerrechtler Michael Bothe in der SZ, und zwar an Russland, Indien und der Organisation für islamische Zusammenarbeit.
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