9punkt - Die Debattenrundschau

Das Haben von Bae-zzang

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2015. Die taz spürt dem ersten tödlich-beabsichtigten Schlag der Menschheitsgeschichte nach, der gerade in Halle dokumentiert wird. Der Tagesspiegel notiert einen Paradigmenwechel in der deutschen Geschichtsschreibung: Die Geschichte der Nazizeit rückt aus dem Blickfeld. Bei politico.eu fragt sich Tim Parks, wie wohl er sich in Europa fühlt, wenn Deutschland der Buchhalter ist. Die FAZ will nicht einsehen, dass die Dahlemer Museen jahrelang geschlossen werden sollen. Amerika streitet über Mark Zuckerbergs Gesinnung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.12.2015 finden Sie hier

Geschichte

Begeistert kommt taz-Autor Ambros Waibel aus der Ausstellung "Krieg - Eine archäologische Spurensuche" in Halle, die die Geschichte des Krieges aus archäologischen Funden rekonstruiert. Hauptausstellungsstück ist ein Massengrab aus der Schlacht bei Lützen unweit von Halle im Jahr 1632. Aber die Idee ist schon ein bisschen älter: "Überhaupt - der Kopf. Durch die Jahrtausende der Gemetzelgeschichte erweist er sich als das bevorzugte Angriffsziel. Der erste nachweislich tödlich-beabsichtigte Schlag, sagt uns die Ausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte, geschah vor 430.000 Jahren, in Spanien. Die 'akribische forensische Untersuchung von Cranium 17 schließt die Möglichkeit eines Sturzes aus, da es bei einem Sturz unmöglich ist, zweimal in verschiedenen Winkeln gegen denselben Felsen zu prallen.' Hörst du das, Kain?!"

Andreas Rödders weithin gepriesene "Kurze Geschichte der Gegenwart" stellt für Hans Monath im Tagesspiegel einen bedeutsamen Paradigmenwechsel dar: "Der 46-Jährige ist einer der klügsten Vertreter einer Generation deutscher Historiker, von denen einige zwar den zentralen Stellenwert der Erinnerung an Krieg und Nationalsozialismus (noch?) nicht infrage stellen, den Holocaust und seine Vorgeschichte aber zur Erklärung der Gegenwart nicht mehr für zentral halten. Das 'Entschwinden des 20. Jahrhunderts' nennt er das Phänomen in seinem Buch. Folgt man Rödder, dann verblasst der Schatten Adolf Hitlers ziemlich schnell."

Außerdem: In der SZ untersucht der Historiker Jörn Leonhard das wechselhafte Verhältnis der Deutschen zu ihrem Nationalstaat.
Archiv: Geschichte

Europa

Anders als viele konservative Autoren in FAZ und SZ ist der Soziologe Armin Nassehi im Tagesspiegel durchaus der Meinung, dass mit dem Beharren auf den westlichen Hedonismus ein Wert gepflegt wird: "Der Terrorist nutzt das zivilisatorische Vertrauen in den Anderen, um es zu zerstören. Gegen die daraus resultierende Angst gibt es kaum Gegenmittel - außer vielleicht den Trotz, das Vertrauen in die Anderen nicht zu verlieren. In Frankreich ist derzeit das Ausgehen die erste Bürgerpflicht. Wir sollten es den Franzosen gleichtun!"

Reichlich euroskeptisch klingt, was der britische Autor Tim Parks in politico.eu zum Zustand der Europäischen Union zu sagen hat: "Die Union ist heute nurmehr ein lästiger, bisweilen tyrannischer Buchhalter, der uns erzählt, wofür wir Geld ausgeben dürfen und wofür nicht, welche Steuern wir zu zahlen haben, wie niedrig unsere Renten sein müssen. Und dieser Buchhalter ist ein Deutscher. Denn auf einmal ist jedem klar, dass das einzige wirkliche Machtzentrum der EU Berlin ist. Die alte Farce der kollektiven Entscheidungsfindung ist vorbei. Es dauerte zu lang. Alles war Kompromiss und Schlamassel. Wenn schnelle Entscheidungen notwendig sind, fällt Deutschland sie."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Im Januar beginnen die Vorbereitungen für den Umzug der Dahlemer Museen. Die Hälfte des Asiatischen und des Ethnologischen Museums werden geschlossen. Bald darauf die ganzen Museen - für Jahre. Andreas Kilb will das in der FAZ nicht einsehen und benennt Planungsfehler, die dafür verantwortlich seien, dass dem Publikum die Exponate vorenthalten werden: "Die Dahlemer Museen besitzen nämlich kein Depot, in dem sie ihre Schätze zwischenlagern können. Die Magazine der Ethnologen sind seit Jahren baufällig, und das geplante Großmagazin in Friedrichshagen am Ostrand der Stadt bleibt mangels Finanzierung bis auf weiteres eine Karteileiche. Deshalb müssen die Museen ihren eigenen Raumbestand kannibalisieren, sprich: ihre Säle in Depots und Restaurierungswerkstätten für ihre Objekte verwandeln."

Außerdem: Ebenfalls in der FAZ resümiert Patrick Bahners neueste Diskussionen um den Standort eines geplanten Münchner Konzertsaals.
Archiv: Kulturpolitik

Gesellschaft

Gangarten und Körperhaltungen, überhaupt das ganze Körperverständnis sind Ausdruck einer bestimmten Kultur. Globale Einflüsse ändern das gerade in Korea, erzählt Hoo Nam Seelmann in der NZZ, aber bei mittelalten Männern könne man die traditionelle Haltung noch gut beobachten. Beim lockeren Stehen liegt das Gewicht auf der Ferse, der Körper bildet eine gerade Linie, nur der Bauch ist leicht vorgeschoben. "Der Koreaner zeigt seinen Bauch her, um zu signalisieren, dass er Mut hat, dass er jemand ist und dass er nicht zurückweichen will. Diese Haltung hat auch in der Sprache ihren Niederschlag gefunden. Es gibt ein Wort, 'Bae-zzang', das sich mit 'Mumm im Bauch' übersetzen lässt. 'Bae' heißt auf Koreanisch 'Bauch'. Allgemein bedeutet es 'mutig, kühn, waghalsig, nervenstark, frech' oder 'durchsetzungsstark'. Was die geschwellte Brust in Europa ist, ist in Korea das Haben von Bae-zzang."

Wenn Europa heute die Grenzen öffnete, würde ein Großteil der muslimischen Jugend ihre Länder auf Dauer verlassen, meint Necla Kelek, die in der Welt ein vernichtendes Bild der Gesellschaften im Nahen Osten und Nordafrika zeichnet. Vor allem für die Jugend gebe es in diesen Gesellschaften keine Zukunft: "Petrodollars werden weltweit in den Finanzmärkten, aber nicht zur Entwicklung der eigenen Region investiert. Die Reichen verteilen Zakat, Almosen und produzieren Abhängigkeit, aber unterstützen nicht die nachhaltige Entwicklung der armen Gesellschaften. Die Palästinenser wurden von ihren saudi-arabischen Glaubensbrüdern allenfalls mit Koranschulen beglückt. Syrische Flüchtlinge finden keine Heimstatt in Arabien."

Claudia Schwartz stellt in der NZZ Güner Yasemin Balcis Fernsehdokumentation "Der Jungfrauenwahn" vor, die das Leben muslimischer Mädchen beleuchtet und heute abend auf Arte gezeigt wird.

Mark Zuckerberg hat nichts gestiftet, schreibt Jesse Eisinger bei propublica. Er hat eine Limited Liability Company gegründet, und das ist eine Rechtsform für Unternehmen: "Eine LLC kann in gewinnorientierte Unternehmen investieren (die vielleicht später als ethisch verantwortliche Firmen definiert werden, aber viele behaupten das von sich). Eine LLC kann politische Spenden vergeben. Sie kann Lobbyarbeit für Änderungen an Gesetzen machen. Zuckerberg bleibt völlig frei, sein Geld so auszugeben, wie er will. Darum geht's in Amerika. Aber als Gesellschaft nennen wir das für gewöhnlich nicht 'Wohltätigkeit'."

Darauf antwortet Felix Salmon bei Fusion.net: "Steuerfreiheit heißt nicht, dass du wohltätig bist, Steuerpflichtigkeit bedeutet nicht, dass du nicht wohltätig bist. Wenn Zuckerberg sein Versprechen hält und 99 Prozent seiner Facebook-Aktien weggibt, um das Leben künftiger Generationen zu verbessern, dann ist das eine philanthropische Tat, egal was das Finanzamt sagt."
Archiv: Gesellschaft