9punkt - Die Debattenrundschau

Dieses manische Rezipieren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2015. In La Règle du Jeu analysiert Gilles Hertzog den Selbsthass der Mörder von Paris. In Le Point erklärt der französische Philosoph Michel Onfray, warum er sein neues Buch "Penser l'Islam" in Frankreich nicht herausbringen wird. In der taz spricht Lukas Bärfuss über die Faszination der Gewalt. Schweizer Medien berichten über ein "Gnadenverfahren" für Raif Badawi.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.11.2015 finden Sie hier

Ideen

Die Tage der Stille dürften in Paris bald vorbei sein, und die Debatte dürfte noch hysterischer zurückkehren. Das zeigt zum Beispiel diese Meldung aus Le Point: "Die französischen Leser werden das nächste Buch Michel Onfrays - 'Penser l'islam' (Grasset) - nicht lesen können. Der Philosoph bestätigt dem Point, dass er auf die für Januar 2016 angesetzte Veröffentlichung verzichtet. 'Debatte ist in Frankreich nicht mehr möglich' sagt er. Er wolle die Hysterie nicht weiter anfachen, die durch seine Stellungnahmen ausgelöst werde. Jüngstes Beispiel: seine Reaktion auf die Pariser Massaker. 'Rechte und Linke haben den Krieg gegen den politischen Islam gesät, nun ernten sie den Krieg des Islams', hat er auf Twitter geschrieben." Die Attentäter haben sich in ihrem Brekennerschreiben auf Onfray bezogen (mehr dazu in Le Monde). Auch sein Twitter-Konto hat der ehemals ernstzunehmende Autor geschlossen.

In einem bemerkenswerten Essay auf La Règle du Jeu analysiert Gilles Hertzog den Selbsthass, der die Attentäter von Paris antreibt und der sich aus zwei Quellen speist: den tief empfundenen Niedergang der arabischen Kultur und den Rassismus in Frankreich. Beide produzieren "jenes unglückliche Selbstbewusstsein, das Hegel beschrieben hat und das bei den Jugendlichen zum Bruch mit den Vätern und zur Revolte gegen eine als überlegen empfundene Welt führt. Eine Welt, die theoretisch offen ist und zu der sich der Zugang immer weiter verschiebt. Dieses Gefühl der Zurückweisung wird zunächst erlitten, dann aggressiv ausgelebt: arabischer Hass auf sich selbst, der zuerst verdrängt, dann auf die Welt der anderen übertragen wird, das Frankreich der 'Gallier' und und den magischen, arroganten Westen, der seine Versprechen nie einhält, Objekte des Begehrens, die zugleich zurückgestoßen werden. Daher diese unglaubliche Gewalt der Gotteswütigen."
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Politik

Kommt Raif Badawi frei? "Für Raif Badawi läuft ein Gnadenverfahren beim saudischen König", meldet der Onlinedienst des Schweizer Fernsehens rts.ch, der sich auf den Schweizer Chefdiplomaten Yves Rossier und die Zeitung La Liberté in Feiburg bezieht. Die FAZ berichtet unterdessen über Proteste gegen die Festnahme Schriftstellers Aschraf Fajad, der von einem Todesurteil bedroht ist.

Der argentinische Autor Martín Caparrós, der für sein Buch "Hunger" nach Caparrós nach Niger, Indien und Bangladesch gereist ist, erklärt im Interview mit der Literarischen Welt, warum Menschen auch heute noch hungern. Zum Beispiel in Niger, ein heißes trockenes Land, in dem sich zwar nichts anbauen lässt, das aber eines der reichsten Uranvorkommen der Welt hat: "Man könnte von den Gewinnen aus dem Export eine Infrastruktur aufbauen, die jedem Einwohner ein Leben ohne Hunger ermöglichen würde. Aber das Uran wird von einem französischen und einem chinesischen Unternehmen gefördert, die stecken alle Gewinne ein. Man begreift viele Dinge erst, sobald man näher hinschaut." (In beiden Firmen sind allerdings jeweils die Staaten Hauptaktionäre.)


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Gesellschaft

In der Welt analysiert der Soziologe Tilman Allert im Selbstgespräch die Attraktion der Küche als Kommunikationszentrum.
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Stichwörter: Allert, Tilman

Europa

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss spricht mit Julian Weber von der taz über seinen Schweiz-Essay, der für Streit sorgte (unsere Resümees), aber auch über die Faszination der Gewalt nach Terrorattentaten: "Es ist dieser Mechanismus, den die Terroristen ausnutzen. Wir können uns von diesen Bildern nur schwer lösen. Sie werden im kollektiven Gedächtnis zu Ikonen des Schreckens. Diese Wirkungsmacht erstaunt uns immer wieder, und ich glaube, darin liegt eine Falle: Staunen bedeutet auch erstarren, die Faszination paralysiert uns."

Und auch Dirk Knipphals beschreibt in der taz die Reaktion des erschütterten Medienkonumenten auf ein solches Ereignis: "Man greift sich schlicht alles, was Aufklärung verspricht. Erschüttert ist dieses manische Rezipieren deshalb, weil es dabei nicht nur um Informationsaufnahme geht. Es geht auch um Neuorientierung. Die Routinen sind zerbrochen, und etwas muss neu zusammengesetzt werden. In etwa ist dieses erschütterte Lesen so, als ob man in einem dunklen Raum steht und keine Begrenzungen findet."

Die Franzosen finden nach den Terroranschlägen endlich zum Realitätsprinzip zurück, notiert der amerikanische Ideenhistoriker Mark Lilla zufrieden in der NZZ. "Es bleibt die Frage, ob die politische und intellektuelle Klasse Frankreichs, sobald der Schock verwunden ist, auf einige weitere liebgewonnene Illusionen verzichten will: dass nämlich der Nationalstaat überholt sei und alle Grenzen suspekt. Und dass man sich über solche Dinge nicht unterhalten könne, ohne ein Erzreaktionär zu sein. Denn man weiß ja: Das Ende der Illusionen ist selbst eine Illusion."
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