9punkt - Die Debattenrundschau

Traummänner und deren Hirngespinste

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2015. Die Vorratsdatenspeicherung höhlt Bürgerrechte aus und stellt jeden unter Generalverdacht, schimpfen die Medien. Die informationelle Selbstbestimmung macht uns überhaupt erst zu würdigen Menschen, meint Juli Zeh in der FAZ. Nur der Tagesspiegel beruhigt: Missbrauch mit Metadaten kann auch ohne die VDS betrieben werden. Moritz Rinke warnt in der Welt Angela Merkel davor, für Zugeständnisse an Erdogan die Werte der EU zu verraten. Die NZZ erlebt im Pariser Musée de l'Homme einen geradezu kämpferischen Humanismus. SpOn und taz sind schockiert über die neuen Enthüllungen zum Drohnenkrieg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.10.2015 finden Sie hier

Europa

In einem großen Interview mit Benno Stieber und Peter Unfried in der taz nimmt der Baden-Württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann Angela Merkels Politikstil des kleineren Übels in Schutz: "Ich habe ja einen anderen Politikstil und finde nicht, dass man zum Arzt muss, wenn man Visionen hat. Aber in der Krise ist das der richtige Stil. Die Alternative, die wir dazu hören: Grenzen abschotten, dicht machen. Das ist nur mit Mauer und Schießbefehl durchzusetzen. Die andere Alternative, die wir Grünen mal verfolgt haben: Grenzen auf. Das mussten wir aufgeben. Denn das geht auch nicht. Offene Grenzen stellen die eigene Gesellschaft infrage."

Als kleinstes Übel scheint Merkel derzeit eine engere Zusammenarbeit mit der Türkei ausgemacht zu haben. In der taz warnt Jürgen Gottschlich davor, für Zugeständnisse an Erdoğan die Werte der EU zu verraten: "So sehr eine Wiederannäherung der Türkei an die EU zu begrüßen ist, so sehr schadet sie langfristig beiden Seiten, wenn sie zu Erdoğans Bedingungen betrieben wird. Man darf Erdoğans undemokratische und repressive Politik nicht belohnen, schon gar nicht, um dann gemeinsam mit ihm eine unmenschliche Flüchtlingspolitik an der türkisch-griechischen Grenze durchzusetzen. Merkel will keinen Stacheldraht innerhalb Europas - das ist gut und richtig, verliert aber seinen humanen Anspruch, wenn man stattdessen den Stacheldraht an Europas Außengrenze hochzieht."

Wenn Merkel morgen Erdogan ihre Aufwartung macht, um gemeinsam mit der Türkei die Fluchtursachen zu bekämpfen, dann begeht sie einen schweren Fehler, meint auch der Schriftsteller Moritz Rinke in der Welt: "Der Besuch der Kanzlerin wird weitere Flüchtlinge produzieren, denn er wird das System Erdogan so kurz vor den Wahlen stärken. Menschenrechte kritisch ansprechen? Und das als Bittsteller? Und welche Medien in der Türkei sollten denn bitte über die kritischen Worte der Kanzlerin berichten?"

Die Ängste der sogenannten besorgten Bürger sind nicht nur ökonomischer Natur, sondern mindestens ebenso sehr ein Problem ihres durch den Umbau des Wohlfahrtsstaates unsicher gewordenen Selbstverständnisses, meint die Wiener Philosophin und Publizistin Isolde Charim in der Wiener Zeitung: "Der Wohlfahrtsstaat war eine Gestalt der sozialen Demokratie - einer Demokratie also, die den Bürgern neben politischen und juristischen Rechten auch soziale Rechte eingeräumt hat. Er erzeugte die Identität jener, die Rechte haben, indem er sie ihnen zusprach. So hat er eine Massenloyalität erzeugt. Der Rückbau des Wohlfahrtsstaates bedeutet auch die Aushöhlung dieses Identitätsstatus. An die Stelle des Rechte habenden Bürgers tritt das Subjekt, das Verpflichtungen erfüllen, das Leistungen erbringen muss - das Marktsubjekt. Das mag - kurzfristig - ökonomisch effizienter sein, identitätspolitisch ist es fatal."

"Die Schweiz ist des Wahnsinns", konstatierte der Schriftsteller Lukas Bärfuss am Donnerstag in der FAZ (unser Resümee). Roger Köppel, SVP-Politiker und Verleger der Zürcher Weltwoche, widerspricht ihm heute ebendort: "Die Schweiz ist eben kein abgeschottetes Jammertal, sondern ein verwundbarer Kleinstaat, der sich dank politischer Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Weltoffenheit erstaunlich friedlich und erfolgreich durch die Geschichte manövrierte. Mehr noch: Die klar umgrenzte Schweiz mit ihrer direkten Demokratie und Bürgernähe gewinnt in der aktuellen europäischen Unübersichtlichkeit einen neuen Reiz. Sie bestätigt die Vermutung, dass das historisch Gewachsene und praktisch Bewährte dem Konstruierten und Künstlichen oft überlegen ist." Weitere Reaktionen auf Bärfuss bringt die FAZ in einer Presseschau.
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Ideen

In der NZZ wandelt Marc Zitzmann geradezu ergriffen durch das heute wieder eröffnende Pariser Musée de l'Homme, das mit seinem Credo "Alle Menschen sind gleich, aber anders" einen geradezu kämpferischen Humanismus verficht: "Heute wissen wir, dass das Erbgut zweier Individuen um höchstens 0,1 Prozent differiert, alle Frauen und Männer auf Erden untereinander fortpflanzungsfähig sind. Es gibt nur eine Menschenrasse - auch wenn Rassisten das gern anders darstellen. Doch der erste Teil der Galerie de l'Homme wagt sich noch weiter vor, bis zum Reizwort 'Identität'. Ein Begriff, den raffiniertere Rassisten heute dem Unwort 'Rasse' vorziehen, gestattet er es doch, 'Andersartige' weiterhin auszugrenzen - freilich nicht aus nachweislich inexistenten biologischen Gründen, sondern aus angeblich 'kulturellen'. Dem hält die Galerie de l'Homme entgegen, Identitäten seien vielfältig und verschachtelt."

Um vielfältige und verschachtelte Identitäten geht es auch beim Berliner CDU-Abgeordneten Uwe Lehmann-Brauns, der im Tagesspiegel über Parallelgesellschaften nachdenkt: "Zweifelhaft schon, um welche Identität es sich in einer multinationalen Stadtgesellschaft handelt und wie sie sich definiert. Identität ist kein statisches, kollektives Merkmal, sondern ein sich stetig wandelnder, individueller Zustand, abhängig von Zeitläufen, Erlebnissen, Erfahrungen, Sozialisierung, Traditionen, Heimat. Wann liegt Heimat vor? Schwer zu sagen. Gibt es eine Berliner Identität? Sind es der Jargon, die Ruppigkeit, Schnelligkeit, Kaltschnäuzigkeit der Oberfläche - aber welcher nicht hier Geborene, woher auch immer stammend (abgesehen von Schwaben) - verfügte nicht über dieselben Fähigkeiten?"
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Gesellschaft

In Spanien ist Antisemitismus weit verbreitet, gleichzeitig gibt es kaum Wissen über den Holocaust, und auch Antisemitismus wird nicht reflektiert, berichtet der Soziologe Alejandro Baer, der das Center for Holocaust and Genocide Studies an der Universität von Minnesota leitet, im Gespräch mit Nicole Tomasek (Jungle World): "Ich habe von 2008 bis 2012 Seminare in Madrid gehalten. 2011 gab es eine internationale Konferenz zum Thema Antisemitismus. Am zweiten Tag der Konferenz fanden sich im Eingangsbereich des Gebäudes antisemitische Schmierereien, die über Nacht angebracht worden waren. Um die Konferenz zu schützen, wurde dann am zweiten Tag ein Polizeiauto geschickt. Als alle Referenten und das Publikum am Ende gehen, höre ich, wie ein Polizist zu einem Kollegen sagt: 'Die Antisemiten kommen raus.' Wie Biologen bei einem Biologiekongress waren die Antisemitismusforscher für sie 'die Antisemiten'. Sie wussten wirklich nicht, was dieser Begriff bedeutet. Das ist in Spanien geschehen, ich glaube in einem anderen europäischen Land, in Frankreich, in Deutschland, würde das nicht passieren."
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Geschichte

In der Nähe von Hannover sind Archäologen auf ein riesiges Römerlager aus der Zeit um Christi Geburt gestößen, das "durchaus eine Schlüsselrolle bei der Rekonstruktion der römischen Logistik in Germanien einnehmen" könnte, meldet Berthold Seewald in der Welt: "Mindestens 20.000 Soldaten, etwa drei kriegsstarke Legionen samt Tross, dürften hier einige Tage gerastet haben."
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Überwachung

Der Bundestag hat die Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Netzpolitik.org bringt eine Presseschau und eine Anleitung, wie sich Metadaten vermeiden lassen. Bei allen Bedenken gegen den Generalverdacht und die Aushöhlung der informationellen Selbstbestimmung ist die VDS für Christian Tretbar (Tagesspiegel) ein "notwendiges Instrument": "Sie wird kaum Straftaten direkt verhindern, sie kann aber zur Aufklärung beitragen und somit indirekt präventiv wirken. Ja, es geht auch um den Kampf gegen Terror, aber vielmehr noch um Bandenkriminalität, Menschenhandel und Drogenschmuggel. Sicherheit und die Aufklärung von Straftaten ist ein Recht der Bürger und insofern auch ein Bürgerrecht. Es ist richtig, dass mit sogenannten Metadaten jede Menge Unfug betrieben werden kann - nur kann das auch ohne Vorratsdatenspeicherung passieren."

Dem kann die Schriftstellerin Juli Zeh nur vehement widersprechen: Erst in der bewussten Entscheidung, etwas von sich zu veröffentlichen oder es unter Verschluss zu halten, werde der Mensch "zum würdigen Menschen", schreibt die Schriftstellerin in einem FAZ-Essay zur Verteidigung der Privatsphäre vor den Übergriffen von "irgendwelchen Post-Privacy-Affen oder Digitalen Oligarchen oder komplett mumifizierten Politikern oder größenwahnsinnigen Geheimdienstchefs oder paranoiden Ex-Großmächten."
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Kulturmarkt

Erstmals gab dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse einen Bereich für Selfpublishing, berichten Marcella Melien und Ana Maria Michel in der FAZ: "Hier, wo die Bücher Titel wie 'Schokolade zum Verzehren', 'Traummänner und deren Hirngespinste' oder 'Die Katzen Lady' tragen, haben sie sich also versammelt. 42 Autoren beziehungsweise Autorinnen, denn es sind fast nur Frauen, wollen hier ihre Leser treffen. Sie alle sind Selfpublisher, sie veröffentlichen ihre Bücher ohne einen Verlag: Krimis, Thriller, Softpornos und natürlich Liebesromane. Ein Cover ist knalliger als das andere. Auf dem roten Sofa im Barockstil sitzen die stolzen Autorinnen und machen Fotos voneinander. Aufregend ist das."
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Politik

The Intercept hat Unterlagen eines anonymen Whitleblowers veröffentlicht, die einen profunden Einblick in die Praxis des Drohnenkrieges ermöglichen. In der taz fasst Dorothea Hahn die Erkenntnisse zusammen: "Laut Intercept kommt es vor, dass die USA für eine einzige Person, die auf einer 'Kill-Liste' von Washington steht, in Afghanistan neun weitere Menschen tötet. Im US-Militärjargon werden diese nicht anvisierten Kollateral-Toten posthum zu 'im Kampf getöteten Feinden' gemacht... Die Enthüllungen von Intercept zeigen auch, dass zahlreiche Amtsträger in den Drohnenkrieg involviert sind. Nach dem langen Meinungsbildungsprozess verfolgen am Tag der Tötung mehr als 100 Personen die Bilder aus der Drohne. Das sind mehr als 100 Mitwisser, die schweigen."

"Die Drohnenschläge sind eine moderne Form der staatlichen Todesstrafe, ohne Richter, ohne Anwalt, ohne öffentliche Überprüfbarkeit", schreibt Holger Stark auf Spiegel Online: "Sie sind einer Demokratie nicht würdig, erst recht nicht einer der ältesten der Welt, die von einem Präsidenten geführt wird, der sich dem Ziel verschrieben hat, Kriege zu beenden. Die Drohnenangriffe sind die düstere Seite von Obamas Präsidentschaft."

Im Interview mit Michael Hesse in der FR spricht der Historiker Tom Segev über die Konflikte in Israel und die vergeblichen Bemühungen der Politik: "Zum ersten Mal in der Geschichte kooperiert die palästinensische Führung mit der Israels, um Gewalt zu vermeiden. Aber auch sie sind hilflos. Es gibt Extremisten auf beiden Seiten, die den Ton angeben... Ich bin schon seit mehreren Jahren der Ansicht, dass man diesen Konflikt nur managen und nicht lösen kann. Er ist auf absehbare Zeit unlösbar. Aber man kann ihn so gestalten, dass das Leben erträglich ist. Fakt aber ist, dass er sehr schlecht gemanagt wird."

In der SZ schildert Sonja Zekri, wie der georgische Ex-Präsident Michail Saakaschwili, die russische Oppositionelle Mascha Gaidar und der ukrainische Berater Alexander Borowik die ukrainische Hafenstadt Odessa aufräumen wollen: "Dies nämlich ist das Experiment: Die völlige Ausrottung des weder durch Umstürze noch Regierungswechsel angekratzten Odessaer Klüngels mithilfe dreier Zugereister. Die Reformer haben Polizisten entlassen, sich mit dem Zoll angelegt und eine reibungslose Verwaltung versprochen. 'Wir machen das nicht für Odessa, sondern für das ganze Land', hat Borowik gesagt. Odessa als Modell für die Ukraine - das können sich viele am Schwarzen Meer vorstellen." Ein schönes Porträt der Stadt am Schwarzen Meer hat auch Sally McGrane für Zeit Online geschrieben.
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