9punkt - Die Debattenrundschau

Friedliche Anfechtung der Macht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2015. Gestern hat Charlie Hebdo den Medienpreis M100 erhalten. Die Welt druckt die Dankesrede, in der Chefredakteur Gérard Biard das Recht auf Blasphemie verteidigt. Im Tagesspiegel erklärt Biard seinen aufgebrachten Kritikern die Karikatur mit dem Flüchtlingsjungen Aylan. Im Guardian erzählt der russische Dichter Kirill Medwedew, wie er sich und seine Werke vom Urheberrecht befreite. In der FR blickt Arno Widmann nach Zentralasien, dessen Landkarte China mit der Neuen Seidenstraße neuzeichnet. Die NZZ beobachtet entgeistert die deutsche Berichterstattung zur Flüchtlingskrise.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.09.2015 finden Sie hier

Ideen

In der NZZ denkt der Philosoph Iso Camartin über die "Sprache der Seele" und die "Seele der Sprache" nach: "Hat nicht jede Sprache auch ihre eigene Seele, etwas Unverwechselbares, bezwingend Schönes und Geheimnisvolles, das nicht ersetzbar ist, selbst wenn die besten Sprachkenner versuchen würden, es in eine andere Sprache zu übertragen? Ist die "Seele einer Sprache" letztlich so etwas wie die verborgene Anziehungskraft, das ungelüftete Geheimnis, das Wohlbehagen und das Glück einer Sprache, das sie jenen vermittelt, die mit ihr vertraut sind?"

In der Welt macht sich Michael Pilz Gedanken über die Neuvermessung der Welt durch Internetkonzerne.
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Geschichte

Peter Payer schreibt in der NZZ zum 161. Geburtstag der ältesten Gebirgsbahn der Welt, der 1854 eröffneten Semmeringbahn. Visuell-ästhetisch wurde sie oft gewürdigt, meint er. "Dass ihre akustischen und olfaktorischen Emanationen von Beginn an eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielten, ist uns heute nur selten bewusst. Doch wie prägten Geräusche und Gerüche die Rezeption der Verkehrsstrecke? Wie wirkten sie auf symbolischer Ebene mit bei der Mythisierung der Semmeringbahn als nationale Ikone von Österreich?" (Bild: Payerbach-Viadukt der Semmeringbahn in Niederösterreich um 1875. Foto: Michael Frankenstein, Wikipedia)

Und Sven Felix Kellerhoff besucht für die Welt das Spy Museum in Berlin.
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Urheberrecht

Im Guardian erklärt der russische Dichter Kirill Medwedew, warum er 2004 alle seine Werke freigegeben und auf jedes Copyright verzichtet hat: "Osip Mandelstam once defined acmeism, the poetic movement to which he belonged, as a "yearning for world culture". I think my rejection of copyright at that moment, my decision to release my work on to the internet without any claim of ownership, was a similar gesture of yearning for the international progressive intellectual, artistic and political movement that seeks a way out of neoliberal capitalism."
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Religion

Beim Internationalen Literaturfestival Berlin versuchte der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka verzweifelt das Phänomen der Islamisten zu erfassen, berichtet Sieglinde Geisel in der NZZ: "Im Phänomen des islamistischen Terrorismus sieht Soyinka kein lokales Problem, sondern "eine universale Heimsuchung". In der Tat fügt die Zerstörung der Altertümer im Nahen Osten der gesamten Menschheit Verluste zu, deren Tragweite wir noch kaum ermessen können. Aus Fremdenhass sei Menschenhass geworden, so Soyinka: Die Islamisten zerstörten alles, was es an menschlichem Fortschritt, Kreativität, Errungenschaften gebe. Die Muster dieses neuen Extremismus hätten sich von jeder Ideologie gelöst, so spiele auch die Frage der Religionszugehörigkeit längst keine Rolle mehr. Statt "Ich bin heiliger als du!" heißt es nun: "Ich bin heilig, du bist tot!""
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Politik

In der FR blickt Arno Widmann auf die zentralasiatische Landkarte und sieht mit Chinas Neuer Seidenstraße das größte Bauprojekt in der Geschichte der Menschheit entstehen. Er hörte auf dem Internationalen Literaturfestival mit Bangen davon: "Dennoch beschwor Ahmed Rashid die Besucher seiner Veranstaltung: "Die Neue Seidenstraße ist die letzte Hoffnung Zentralasiens. Wenn die Chinesen scheitern, wird Eurasien im Chaos versinken." Es war ein ergreifender Moment, gerade, weil kaum zu erkennen ist, warum ausgerechnet China glücken soll, was in den vergangenen Jahrzehnten weder Russland noch den USA gelang: der wirtschaftliche Aufstieg und die Befriedung Zentralasiens. Wenn ein so nüchterner Beobachter wie Ahmed Rashid all seine Hoffnung ausgerechnet auf China setzt, dann bekommt man eine Ahnung davon, für wie verfahren er die Lage ansieht."

Im Tagesspiegel berichtet Ulrike Baureithel, wie sich Autoren auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin mit der Zukunft von Megastädten wie Lagos, Jakarta oder Karatschi befassten.
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Europa

Die Welt druckt die Dankesrede Gérard Biards, Chefredakteur von Charlie Hebdo, zur Verleihung des M100 Media Award in Potsdam. Respekt und Blasphemie sind sein Thema: "In einer Demokratie muss das Recht auf Blasphemie geschützt und unantastbar sein, so wie alle anderen Formen der friedlichen Anfechtung der Macht. Sie ist eine der vielen Formen der Meinungs- und Gedankenfreiheit. Sie ist ein universelles Prinzip." In der FAZ berichtet Regina Mönch emphatisch über die Veranstaltung.

Im Tagesspiegel-Interview Joachim Huber und Christiane Peitz spricht Biard über das Lachen angesichts des Monströsen und stellt mehr als klar, dass sich die jüngst angefeindete Karikatur nicht gegen den Flüchtlingsjungen Aylan richtet, sondern gegen Europas Gleichgültigkeit: "Ich würde mir gerne erklären lassen, was an dem Bild rassistisch ist. Ich kann verstehen, dass es schockiert, wie jede gute Satire. Tausende Menschen suchen Zuflucht in Europa, wir sehen hunderte Fotos mit Flüchtlingen, und es ist uns egal. Und dann sehen wir dieses eine Foto, ein perfektes Bild, ohne Gewalt, als schlafe der Junge. Ein Symbol der Gesamtsituation: Auch angesichts der Flüchtlingstragödie machen wir weiter wie bisher, stellen unsere Fast-Food-Reklame auf."

Im Standard betont Paul Lendvai, dass Österreich - entgegen Darstellungen des ZDF -, ungarische Flüchtlinge 1956 sehr großzügig aufgenommen hat. Den neuen Riss zwischen beiden Ländern, sieht er mit Schmerzen: "Die abstoßende Mischung aus Zynismus und Dilettantismus der Orbán-Regierung angesichts der beispiellosen Flut der Flüchtlinge verletzt die Grenzen des moralischen Zumutbaren. Der gewaltsame Ansturm der Grenze Ungarns durch Hooligans aus der Masse der verzweifelten Fremden - ungehindert von der serbischen Polizei - ist freilich ebenso zu verurteilen wie die Hassrhetorik von rechts in Österreich."

Für die taz trifft Martin Kaul von ihrer eigenen Größe besoffene Fluchthelfer, die unter anderem dem Aufruf des Kollektivs Peng! gefolgt sind, Flüchtenden illegal über die Grenze zu helfen: "Hunderte Menschen sind in diesen Tagen und Nächten mit Privatautos und Mietwagen in serbischen, ungarischen, österreichischen und deutschen Grenzgebieten unterwegs. Teils fahren sie allein, teils in Konvois organisiert. Sie verlangen kein Geld dafür."
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Medien

In der NZZ ist Heribert Seifert entsetzt über den hysterisch-kitschischen Kampagnenjournalismus, in den deutsche Medien in der Flüchtlingsdebatte verfielen. Überall sah man Bilder von weinenden Kindern, wer nicht in die Willkommenseuphorie einstimmen wollte, wurde mit "rabiatem Kommunikationsabbruch" bestraft. "Zu voller kritischer Wucht läuft man dagegen auf, wenn es den "Kampf gegen rechts" aktivistisch zu befördern gilt. Sprachregelungen sind etabliert, Meinungskontrollen im Netz mit nachfolgender Denunziation beim Arbeitgeber werden empfohlen, Zensurforderungen sind gesellschaftsfähig. Sie finden Widerspruch nur bei unabhängigen Außenseitern."

Kritischer Journalismus in der Türkei ist fast nicht mehr möglich, berichtet Cigdem Akyol in der NZZ. Die Repressionen richten sich inzwischen auch gegen die Medien des mächtigen türkisch-sunnitischen Predigers Fethullah Gülen, die Erdogan jahrelang "jubelnd unterstützt" haben: "Doch als Gülen und Erdogan die mächtigsten Gegner - das Militär und die säkulare Opposition - in die hinteren Reihen verbannt hatten, begann der Streit um die Beute. Die Gülen-Medien vollzogen einen Kurswechsel und berichteten plötzlich regierungsfeindlich. Der Machtkampf eskalierte schließlich im Dezember 2013, als ein gewaltiger Korruptionsskandal die Türkei erschütterte. Seitdem wirft Erdoğan der "Bande aus Pennsylvania" vor, ihn stürzen zu wollen."

Weiteres: Im Blog der NYRB beklagt Leslie T. Chang, wie kritiklos sich Ägyptens Medien auf die Seite von Präsident al-Sisi stellen. Nicht einmal Videos, die zeigen, wie Polizisten Demonstranten erschießen, werden noch im Fernsehen gesendet: "Vier Jahre nachdem sich die Ägypter gegen das autoritäre Regime Hosni Mubaraks erhoben haben, zeigen die Medien im größten Land der arabischen Welt stärkere Unterstützung für eine Politik der harten Hand als unter Mubarak." Ana Maria Michel wirft in der FAZ einen Blick auf den Journalistenverband DJV, der 25 Jahre nach dem Mauerfall ein Problem mit Stasi-belasteten Landesvorständen hat. Mehr dazu im Tagesspiegel.
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