9punkt - Die Debattenrundschau

Durch den Willen des Schicksals

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2015. Politico.eu legt der gerade aus dem Urlaubsschlummer erwachenden EU die aktuelle To-Do-Liste vor. Armin Nassehi analysiert in der FAZ die Mentalität des Hasses auf Flüchtlinge. Die NZZ schildert die unmöglichen Arbeitsbedingungen palästinensischer Journalisten. Gabriele Goettle zweifelt in der taz an den Lehren der Veganerin Friedericke Schmitz. Die IS-Milizen sprengen Tempel um Tempel. Alle Zeitungen trauern um Oliver Sacks.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.08.2015 finden Sie hier

Europa

Brüssel erwacht langsam aus seinem ausgedehnten Urlaubsschlummer, schreiben Matthew Karnitschnig und Zeke Turner in Politico.eu und bringen kurz die To-Do-Liste in Erinnerung: "Von der Lösung der griechischen Probleme über die Flüchtlingskrise bis hin zum britischen Referendum über den Verbleib in der EU und dem Projekt einer Kapitalmarktunion. Dann ist da noch der schwelende Konflikt in der Ukraine und die Terrordrohung durch heimkehrende islamische Kämpfer."

In der Welt warnt Kay Hailbronner, emeritierter Juraprofessor der Universität Konstanz, vor den Folgen eines ufer- und folgelosen Asylrechtsverfahrens, das das Grundrecht auf Asyl am Ende für diejenigen aushöhle, die es am meisten benötigen.

Der Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi analysiert in einem luziden FAZ-Essay die Struktur und Mentalität des Hasses auf Flüchtlinge, der unter anderem auch von der falschen politischen Kategorisierung der Flüchtlinge in wirtschaftliche und politische herrühre (meistens sind sie beides). Aber auch die Vereinnahmungen durch die gebildeten Stände kritisiert er: "Ich frage mich manchmal, wie es aus der Perspektive von Flüchtlingen wohl aussieht, einerseits vor einem schwierigen Gewirr von Ämtern und Instanzen um Inklusionsmöglichkeiten zu kämpfen, andererseits als kulturelle Form herhalten zu müssen, das ganz andere sein zu sollen. Am besten, das wissen wir aus klassischen Einwanderungsländern, geht es Migranten (welcher Art auch immer), wenn sie möglichst wenig erzählen müssen. Erst dann entstehen ganz neue Geschichten." Zur selben Frage schreibt in der FAZ am Sonntag Mark Siemons.
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Internet

Parker Higgins erklärt bei der Electronic Frontier Foundation, warum der russische Versuch, einen Wikipedia-Artikel zu zensieren, fehlschlug: "Die Wikimedia Foundation benutzt Https-verschlüsselte Verbindungen für alle ihre Webseiten. Der Regierung blieb nur die Wahl, entweder die ganze Wikipedia zu blockieren oder die ungenehme Seite zugänglich bleiben zu lassen."
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Ideen

Die Feuilletons nehmen Abschied vom Neurologen und Schriftsteller Oliver Sacks, der am Sonntag seinem Krebsleiden erlegen ist. Willi Winkler würdigt Sacks in der SZ als großen Erzähler von Krankheitsschicksalen: "Die futterneidischen Kollegen (...) warfen ihm Geldgier und Ausbeutung seiner Patienten zur eigenen schriftstellerischen Ruhmvermehrung vor. Wie hätten sie auch sehen können, dass hier einer den Menschen mit psychischen Störungen einen Respekt verschaffte, wie es seit dem Goldenen Zeitalter Athens nicht mehr vorgesehen war."

Auf Sacks" produktive Getriebenheit kommt auch Ulrich Seidler in der FR zu sprechen: "Er fing Feuer beim Lesen von Gedichten und bei der Begegnung mit Poeten, durchlitt intensive, aber nie sehr haltbare Liebesgeschichten, pflegte ausufernde Korrespondenzen und war natürlich jederzeit für seine Patienten da. Zum Essen nahm er sich nie mehr Zeit, als zum Öffnen einer Fischbüchse oder einer Cornflakes-Schachtel nötig ist." In der FAZ erklärt Helmut Mayer das Geheimnis von Sacks besten Fallgeschichten: Stets gehe es "um die verborgene körperliche Maschinerie, deren komplizierter Aufbau uns erst bewusst wird, wenn sie nicht wie gewohnt funktioniert."

In der Welt schreibt Hannes Stein den Nachruf, in der taz Jan Feddersen, in der NZZ Oliver Pfohlmann. Bereits im Februar hatte sich Sacks in der New York Times verabschiedet.
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Politik

In der Welt antwortet Richard Herzinger jenen, die westliche Interventionen im Nahen Osten für die Flüchtlingswelle verantwortlich machen. Ganz im Gegenteil: "Die vor Jahren erhobene Forderung an die internationale Gemeinschaft, in Syrien eine Sicherheitszone vor Assads Terror zu errichten, wurde von verantwortlichen Politikern damit abgebügelt, es müsse jede Ausweitung des Konflikts und eine indirekte Stärkung dschihadistischer Kräfte vermieden werden. Beides ist nunmehr in apokalyptischem Maß eingetreten - gerade weil der Westen untätig blieb."
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Stichwörter: Flüchtlinge

Medien

Viola Schenz schildert in der NZZ die Arbeitsbedingungen palästinensischer Journalisten, die fast nicht neutral berichtet können und zitiert den palästinensischen Kollegen Mohammed Daraghmeh: ""Normalerweise arbeiten Journalisten unter einer Autorität", sagt er, "hier arbeiten wir unter vielen Autoritäten: der Autonomiebehörde, der Hamas, den arabischen Nachbarn. Als Palästinenser kann man zum Beispiel nicht aus Ägypten berichten. Wenn du das tust, darfst du dort nicht mehr einreisen.""

Drei Reporter, darunter Mohamed Fahmy, der sich neulich in der FAZ äußerte (unser Resümee), sind in Ägypten zu drei Jahre Haft verurteilt worden, weil sie dem Regime nicht passen, meldet turi2. Zeit online bringt einen Ticker mit kritischen Stimmen zum Urteil.
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Gesellschaft

Gabriele Goettle porträtiert für eine ihrer großen taz-Reportagen die Veganerin und Tierethikerin Friederike Schmitz. Hier eine Aussage Schmitz" und ein Kommentar Goettles dazu: ""Ich habe vorigen Herbst auf einem bioveganen Gemüsehof mitgearbeitet, zwei Wochen lang. Da gab es zwar ein Haustier, einen Hund, aber keinerlei Nutztiere. Das war schön. Der Hund wird vegan ernährt, doch doch! Das geht. Man kann Hunde und Katzen sehr gut vegan ernähren." (Ich habe mich inzwischen sachkundig gemacht. Es geht nicht, oder nur auf Kosten der Gesundheit der Tiere, denn sie erleiden einen Mangel an Taurin. Die reinen Fleischfresser unter den Säugetieren, wie z. B. Katzen, können kein Taurin bilden und werden durch Mangel blind. Hunde können zwar fleischarme Nahrung vertragen, aber nicht fleischlose.)"
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Geschichte

Peter Brugger erzählt in der FAZ, wie das Elsass vor etwas mehr als 300 Jahren an Frankreich fiel. Im politischen Teil der FAZ erinnert Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin an die heuchlerische Ausländerpolitik der DDR, wo es schon vor dem Mauerfall eine aktive rechtsextreme Szene gab.
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Kulturpolitik

Die IS-Milizen haben einen weiteren Tempel in Palmyra gesprengt, berichten Spiegel online und alle anderen Medien mit Agenturen: "Augenzeugen berichten, dass die Dschihadisten am Sonntag den Baaltempel in Palmyra gesprengt hätten. Das rund 2000 Jahre alte Bauwerk sei dabei schwer beschädigt worden. "Diese Explosion hätte sogar ein Gehörloser gehört", sagte Nasser al-Thaer, ein Bewohner Palmyras der Nachrichtenagentur AP. "Es ist die totale Zerstörung. Die Steine und Säulen liegen auf dem Boden.""

In einem sehr interessanten Artikel in der NZZ beschreibt Ulrich M. Schmid, wie der Kreml mit seiner Doktrin der "Russischen Welt" versucht, die außerhalb Russlands verstorbenen berühmten Landsleute wieder für sich zu beanspruchen. Schaljapins Leiche wurde bereits von Paris nach Russland gebracht, jetzt soll auch auch die sterblichen Überreste Rachmaninows, die am Vierwaldstättersee begraben liegen, zurück nach Russland. Die amerikanischen Erben Rachmaninows lehnen das allerdings strikt ab: Kulturminister Wladimir Medinski "begründete seinen Vorstoß mit der Gefahr, dass Rachmaninoff bald nicht mehr als russischer Komponist wahrgenommen werde: "Wenn man heute amerikanische Quellen anschaut, dann ist Sergei Rachmaninoff ein großer amerikanischer Komponist russischer Herkunft. Die Amerikaner privatisieren auf arrogante Weise Rachmaninoff, wie auch die Namen von Dutzenden und Hunderten Russen, die sich durch den Willen des Schicksals nach der Revolution im Ausland wiederfanden.""

Im Gespräch mit Sabine Vogel von der FR versucht der britische Museumsmann Neil MacGregor seine Begriffe fürs kommende Humboldt-Forum zu präzisieren: "Es gibt Shared Heritage, aber vor allem gibt es Shared Experience... Eine Sammlung wie die des British Museums oder der Stiftung Preußischer Kulturbesitz bietet die Möglichkeit zu sehen, wie anderswo und in einer anderen Epoche andere Leute zu anderen Lösungen gekommen sind, die jetzt vielleicht nutzbar sind. Das ist das revolutionäre Potenzial dieser Sammlungen: Die anderen Denkarten kennenzulernen." Der Tagesspiegel dokumentiert Neil MacGregors Rede zur Auszeichnung mit der Goethe-Medaille.

In der FAZ weist Kerstin Holm auf zwei kommende Zusammenarbeiten zwischen Museen des Preußischen Kulturbesitzes und der Ermitage hin, die bei allen politischen Schwierigkeiten zu begrüßen seien.
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