9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Arrangement totaler Absurdität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2015. Tagesspiegel und FR sind sich im Unklaren, ob sie die "kreative Ungenauigkeit" der griechischen Linken kritisieren oder begrüßen sollen. Mobylives resümiert den weiter köchelnden Streit zwischen Salman Rushdie und Teju Cole über Charlie Hebdo. Und die Welt hat herausgefunden: Die Berliner, von islamischen Verbänden organisierte Soli-Demo nach den Pariser Massakern war wohl eher Fassadenzauber.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.07.2015 finden Sie hier

Europa

Im Tagesspiegel erklärt die Autorin Amanda Michalopoulou, was ihr an der griechischen Linken so auf auf die Nerven geht: Die Sprache. "Diese Sentimentalität des "kleinen Griechenland". Ihr Zwang, über alles mit Pathos zu sprechen (und insofern zu spalten). Aber auch mit "kreativer Ungenauigkeit" (ein vieldiskutierter Ausdruck des unvergesslichen Varoufakis, der durch seine Kreativität ein ganzes System klaren Denkens in die Ungenauigkeit entließ). Diese Sprache hat die paranoide Politik der letzten Monate erschaffen - "Jas", die als "Nein" betrachtet wurden und "Neins", die man als "Ja" interpretiert hat. Und weil die öffentliche Rede sich als Denkungsart weiter verbreitet, hat sich die Sprache der Syriza zersetzend auf die psychische Verfassung der Griechen ausgewirkt, die nicht mehr wissen, was und wem sie glauben sollen."

Robert Misik bewundert in der FR dagegen diese Unschärfe als Form der politischen Schönheit: "Oberflächlich betrachtet ist das ein Arrangement totaler Absurdität: 60 Prozent der Griechen haben für Oxi, also gegen ein weiteres Austeritätsprogramm gestimmt. Trotz oder wegen dieser Zustimmung, die alle für richtig halten, zu einem Programm, das alle für falsch halten, hat Tsipras persönliche Zustimmungswerte von 70 Prozent. Es ist wie bei einem Vexierbild: je nachdem, aus welcher Perspektive man blickt, scheint diese Gemengelage total verrückt und im nächsten Moment schon wieder völllig einleuchtend und plausibel zu sein."
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Kulturpolitik

Isabel Pfeiffer-Poensgen, Chefin der Länderkulturstiftung, versucht im FAZ-Gespräch mit Andreas Kilb und Julia Voss zum Thema Kulturgutschutzgesetz abzuwiegeln: "Ein Kulturgutschutz existiert nicht erst seit 1955, sondern bereits seit 1919. Aber es muss eben auch immer klar sein, dass das nur die absolute Ausnahme ist. Nicht zuletzt die Kunsthändler waren mit der bisherigen Situation sehr unzufrieden. Es gibt Listen, die von den Bundesländern mit unterschiedlichem Engagement geführt werden. Wenn Sie dort hineinschauen, sehen Sie, dass in manchen Ländern nur ein Werk aufgeführt wird, in anderen sind es unglaublich viele. Das wurde schon lange als Ausdruck einer gewissen Willkür empfunden."
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Gesellschaft

Die Zeit-Autorin Elisabeth Wellershaus erklärt, warum sie den Fall zweier Frauen in Marokko, die wegen ihrer Miniröcke fast im Gefängnis landeten, fast nicht aufgegriffen hätte und die Selbstzensur dann doch überwand: "Ich habe lange überlegt, ob ich den Vorfall kommentieren soll. In Zeiten wachsenden Islamhasses gilt gerade das Bild der Frau wieder verstärkt als Symbol der Unterdrückung in arabischen Ländern. Weil ein rückständiger Maghreb und die muslimische Frau als Opfer aber ein grob vereinfachtes Bild darstellen, sage ich etwas dazu. Nicht, weil noch immer viele marokkanische Frauen unter Repressionen leiden. Sondern weil sie sich immer öfter wehren."
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Politik

In den Tagen nach den Pariser Massakern riefen muslimische Verbände zu einer Mahnwache in Berlin und mobilisierten die allerhöchsten Staatsspitzen, wenn auch nicht die Bevölkerung und schon gar nicht die muslimische. Nun kommt heraus, dass die Sache eigentlich eher von Politikern organisiert war, die die muslimischen Verbände nur vorschoben, schrieb schon vorgestern Robin Alexander in der Welt: "Tatsächlich hatte die Politik an der "Mahnwache der muslimischen Verbände" (Merkel) einen weit größeren Anteil als bisher bekannt. So werden die Kosten fast ausschließlich von deutschen Parteien getragen. Und schon bei der Organisation spielten staatliche Stellen eine entscheidende Rolle. Die Mehrheit der muslimischen Verbände musste mit gar nicht so sanftem Druck überhaupt erst zur Teilnahme bewegt werden und mobilisierte deshalb nur widerwillig oder gar nicht."

Johannes Boie denkt in der SZ über Polizeigewalt in den USA nach und fragt, ob die Ausstattung der Beamten mit Kameras auch in Deutschland eine gute Idee wäre.
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Ideen

Nach jüngsten Interview-Äußerungen Salman Rushdies (unser Zitat) resümiert Simon Reichley in Mobylives nochmal den Streit zwischen Rushdie und Teju Cole, der die ermordeten Zeichner von Charlie Hebdo als Rassisten betrachtet. Reichley will aber lieber keine Meinung zum Streit entwickeln: "Einerseits ist es nicht schwierig, sich vorzustellen, dass heute anders als in den spätern Achtzigern auf die "Satanischen Verse" und auf eine Fatwa reagiert würde. Es ist aber auch gut möglich, dass es heute gar keine Fatwa gegen einen populären Literaten gäbe. Ein langes, um Selbstreflexion bemühtes Gespräch über Wirkungen und Ursachen von Islamophobie und eines radikalisierten Islam wäre vonnöten."

Isolde Charim erhofft sich in der taz die Fortsetzung eines linken Theorie-Projekts durch die jetzigen Betreiber des Merve-Verlags (über den alten Merve Verlag hat Philipp Felsch ein lesenswertes Buch geschrieben): "Es war immer schon Merve-Konzept, eine neue Linke zu begleiten und zu befördern, etwa durch Theorieimporte. Früher vorwiegend aus Frankreich, heute eher aus dem angelsächsischen Raum. Waren die siebziger Jahre geprägt von Abschieden - den Absagen an das Subjekt, die Metaphysik, die großen Erzählungen, die Geschichte -, so versucht Merve 2.0 die Wiedergewinnung all dieser Kategorien nach ihrem Ende. Eine Postpostoperation."
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Medien

"Meistens hilft einfach logisches Denken", konstatiert in der taz die junge ukrainische Journalistin Tetiana Matychak von der Organisation Stopfake.org, die Propaganda und Falschmeldungen meist von russischer Seite zu entlaven versucht. Das Problem: "Die russische Regierung versucht, nicht eine, sondern viele unterschiedliche Botschaften zu senden. So kommt es zu unzähligen Versionen einer Geschichte. In der Sowjetunion gab es immer nur eine Wahrheit. Heute gibt es viele. So war es auch beim Absturz des Flugzeugs der Ma­laysia Airlines: Zuerst sollte das Flugzeug von selbst abgestürzt sein, dann hieß es in den russischen Medien, es sei von der Ukra­ine angegriffen worden oder von den Amerikanern. Die Leser oder Zuschauer können nichts glauben, weil sich die vorherigen Informationen immer wieder als falsch herausstellen. Das Ziel ist, zu signalisieren: Es gibt keine Wahrheit, alles ist möglich."

In der NZZ erklärt der Medienwissenschaftler Roger Blum sein Modell unterschiedlicher Mediensysteme. Danach hat sich in den meisten Länder ein bestimmtes Modell etabliert - ein Kommando-Modell in China etwa oder ein Klientel-System in Italien oder Rumänien. Das Beispiel Ägypten zeige, dass selbst ein Machtwechsel daran wenig ändert: "Nachdem das Militär Mursi gestürzt hatte, wurden alle Medien und Journalisten verfolgt, die ihn unterstützt hatten. Jedes ägyptische Regime, ob das von Mubarak, Mursi oder al-Sisi, verlangte die geradezu blinde Gefolgschaft der Medien im Interesse der jeweiligen Staatsziele. Es handelt sich um ein "patriotisches" Medienmodell."

Der zahlbare News-Aggregator Blendle geht in Deutschland in die Testphase, berichtet Jens Twiehaus bei turi2. Technik und Begrifflichkeit sind aus dem Perlentaucher bekannt - die Artikel werden von munteren Nachtarbeitern persönlich empfohlen: "Die Perlen landen in einem Newsletter - der heute morgen erstmals an die Beta-Tester von Blendle rausgeht. Die Idee baut auf Erfahrungen aus den Niederlanden auf. Ein paar Wochen nach dem Start habe das Team gemerkt, dass Nutzer es sehr schätzen, Hinweise auf tolle Artikel zu bekommen."

Mehrere Zeitungen melden, dass der Bayerische Rundfunk seine Kultursendungen Lesezeichen und Lido einstellen will. Der Inhalt soll auf andere Programmplätze verteilt werden, es kursiert eine Petition gegen den Plan, alle Links bei turi2. Dazu passt eine heute in der FAZ erwähnte Studie der Otto-Brenner-Stiftung, die einen mangelnden Informationsgehalt und einen zu hohen Zuckergehalt bei den Dritten Programme der Öffentlich-Rechtlichen beklagt. Große Story in den amerikanischen Medien heute: Das New York Magazine brachte auf dem Cover die Bilder von 35 Frauen, die sagen, dass sie von Bill Cosby vergewaltigt worden seien - die Website des Magazins wurde darauf hin Opfer eine Hackerangriffs, und das Cover verbreitete sich in Windeseile über die sozialen Netze, mehr im Niemanlab.
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