9punkt - Die Debattenrundschau

Reduzierterer Begriff der Zugehörigkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2015. In der NZZ ruft Wole Soyinka den Terroristen von Boko Haram zu: Nennt euch wie ihr wollt, wir nennen euch Boko Haram. In Causeur.fr betont Mona Eltahawy, dass im Nahen Osten nicht nur die muslimischen Frauen unterdrückt sind - den Koptinnen geht's nicht anders. In Le Soir holt Emmanuel Todd zu einer antideutschen Tirade aus. In der New York Times beklagt Kenan Malik die Tribalisierung der britischen Gesellschaft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.07.2015 finden Sie hier

Politik

Es ist fatal, dass der Westen die Selbstbezeichnung der Terrorgruppe "Islamischer Staat" übernimmt, erklärt Wole Soyinka in der NZZ. Vor allem junge Menschen würden dies als Geste des Respekts verstehen. Die Nigerianer wären da widerständiger: "Die Anerkennung, die dem "Islamischen Staat" quasi gedankenlos gezollt wird, haben die Nigerianer den einheimischen Terroristen verweigert. Nein, ihr seid weder ein Staat noch ein Kalifat. Ihr seid Aufklärungsverweigerer, die es sich zur ersten Pflicht gemacht haben, alles zu zerstören, was mit Wissen und Kreativität zu tun hat, all das, wofür Bücher stehen. Boko Haram. Nennt euch, wie ihr wollt, eure nigerianischen Landsleute haben keinen andern Namen für euch als Boko Haram. Leider sind wir den Terror damit noch bei weitem nicht losgeworden, aber der Kampfgeist hat in der restlichen Bevölkerung Wurzeln geschlagen, und das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor." (Der Text, den die NZZ übernommen hat, ist die Rede des nigerianischen Literaturnobelpreisträgers bei der 65. Lindauer Nobelpreisträger-Tagung.)

In der NZZ wehrt Daniel Steinvorth den Vorwurf ab, der Westen tue mehr im Nahen Osten, um Kulturstätten vor den Islamisten zu schützen als Menschen. Bei den Kulturgütern gehe es schließlich nicht einfach um Steine, das hätten sogar die Islamisten begriffen: "Nichts soll im Wege stehen, wenn ein homogener neuer Staat geschaffen wird, nichts soll an die Vergangenheit vor dem "Kalifat" erinnern. Was den Irakern und Syrern entlang aller Unterschiede an gemeinsamer Identität noch geblieben ist - und dazu gehört ihr kulturelles Erbe -, muss ausgemerzt werden. Es geht also nicht um das Zertrümmern von Steinen, nicht um deren physische Existenz, sondern um die Auslöschung von Identität."

Scharf kritisiert die israelischen Autorin Eva Illouz im Gespräch mit taz-Autor Ulrich Gutmair die israelische Linke: Sie habe sich "so stark auf den Konflikt mit den Palästinensern konzentriert, dass sie keine starke soziale Vision entwickelt hat. Links zu sein hieß in Israel sehr lange - mir ist klar, dass das vielleicht zynisch klingt -, sich mit Palästinensern und Arabern zu treffen. Man hegte die Hoffnung, dass sich aus dem zwischenmenschlichen Dialog gegenseitiges Verständnis entwickeln würde." Außerdem "wurde Israel nicht als universalistischer Staat gegründet, und die Linke hat es versäumt, Universalismus einzufordern. Bevor man Pluralist oder Multikulturalist sein kann, muss man ein universalistisches Gemeinwesen haben."
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Religion

Gil Mihaely unterhält sich für causeur.fr mit der ägyptisch-amerikanischen Journalistin Mona Eltahawy, die in Frankreich ihr Buch "Warum hasst ihr uns so? Für die sexuelle Revolution der Frauen in der islamischen Welt" vorlegt. Sie betont, dass die Unterdrückung der Frauen im Nahen Osten keineswegs allein eine Spezialität des Islams ist: "Genitalverstümmelung wird bei den Christen genauso praktiziert wie bei den Muslimen. Viele koptische Familien sind bei den Belangen der Frauen genauso konservativ wie die Muslime. In vielen Ländern wird das Familienrecht den Religiösen überlassen. Konkret heißt das, dass Kopten kein Scheidungsrecht haben. Nicht der Islam, die Religion ist also das Problem."

In der NZZ analysiert der Theologe Jan-Heiner Tück eine Rede, die Benedikt XVI. kürzlich über Musik gehalten hat.
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Europa

Das SZ-Feuilleton bringt eine vielstimmige Hommage auf Europa und unter anderem diese Liebeserklärung des belgischen Autors Stefan Hertmans an Brüssel: "Ich selbst finde, es ist eine gemütliche Stadt, mit einem überwältigenden Angebot an Hochkultur und den feinen Dingen des Lebens. Was auch daran liegt, dass ich das Angebot nutze. Oft höre ich Ausländer sagen: Ich verstehe Brüssel einfach nicht. Im einen Moment läufst du durch eine prächtige Straße, im nächsten landest du in einer stinkenden Gasse oder vor einem chaotischen Trümmerhaufen, um danach auf einen netten kleinen Park zu stoßen, in dem dubiose Typen gerade am Dealen sind."
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Stichwörter: Brüssel, Hertmans, Stefan

Geschichte

Die SZ bringt in ihrem Buch zwei ein großes Dossier über die letzten Prozesse gegen Mörder von Auschwitz und über die zu späten und wenigen Prozesse, die es in Deutschland nach dem Krieg gegen Judenmörder gab.
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Stichwörter: Holocaust

Ideen

Superaggressiv äußert sich der französische Demograf Emmanuel Todd im Interview mit dem belgischen Soir (das bei herodote.net zusammengefasst ist) über das "von Deutschland und seinen baltischen, polnischen etc. Satelliten kontrollierte Europa, das zu einem hierarchischen, autoritären, "austeritären" System geworden ist". Und "für François Hollande ist das die Minute der Wahrheit. Wenn er die Griechen fallenlässt, dann stellt er sich in die Tradition jener Sozialisten die seinerzeit dem Maréchal Pétain unbeschränkte Vollmacht erteilten... Die reale Tragik der Situation ist, dass Europa ein Kontinent ist, der sich im 20. Jahrhundert in zyklischer Weise unter deutscher Führung umbringt."

In der NZZ singt der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider ein Loblied auf die Skepsis.
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Gesellschaft

Zum zehnten Jahrestag der Londoner Attentate denkt Kenan Malik in seiner New York Times-Kolumne über wachsende Entfremdung zwischen den Bevölkerungsgruppen trotz normalerweise friedlichen Zusammenlebens nach: "Sowohl bei Muslimen als auch bei Nicht-Muslimen hat eine Unzufriedenheit mit Mainstream-Politik zu einer immer stärkeren Politik der Identität geführt, die die Menschen dazu verführt, ihre Probleme durch den engen Fokus des Glaubens und der Kultur zu sehen... Das eigentliche Problem ist weder muslimische Illoyalität noch eine grassierende Islamophobie. Es liegt eher im entstehen einer tribalisierten Gesellschaft, in der die Menschen einen immer reduzierteren Begriff der Zugehörigkeit haben."

Außerdem: In der FAZ-Bildungsserie staunt Donata Elschenbroich über das Ausmaß an Erziehung, das schon auf die armen Kindergartenkinder losgelassen wird.

Hufffpo.fr bringt eine Instagram-Auswahl mit Hipster-Hunden. Hier toby_littledude.


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Medien

Das Orient-Magazin Zenith - Slogan "von den Scheichs und Mossad lassen wir uns nicht kaufen" - bittet per Startnext um Unterstützungm, meldet turi2. "Das Magazin will 120.000 Euro einsammeln, um neben dem gedruckten Heft ein aktuelles Online-Angebot aufzubauen." Zu den Unterstützern des Magazins gehört Sandra Maischberger.
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Stichwörter: Crowdfunding, Orient