9punkt - Die Debattenrundschau

Nietzsche ist abwesend

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2015. Alle Zeitungen sind happy: Neil MacGregor wird Gründungsintendant des Humboldt-Forums und muss sich jetzt nur noch ein bisschen gegen die Berliner wehren. Alain Jakubowicz prangert in der Huffpo.fr die Feigheit und Passivität der internationalen Gemeinschaft angesichts der Genozide an Christen und anderen nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen durch Islamisten an. Journalisten in der Türkei werden immer mehr drangsaliert, so AFP und FAZ. Für die Zeit liest Jürgen Habermas den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Gershom Scholem.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.04.2015 finden Sie hier

Politik

Einen Tag vor Karfreitag wurden in Kenia 148 Menschen als Christen selektiert und umgebracht - aber die Öffentlichkeit ließ sich von diesem Massaker nicht allzusehr aufstöbern. Alain Jakubowicz von Ligue internationale Contre le Racisme et l"Antisémitisme (LICRA) schreibt in der Huffpo.fr von einem "Genozid an Christen" und anderen nicht-muslimischen Gruppen der Bevölkerungen durch Gruppen wie dem "Islamischen Staat": "Dieser Genozid trifft wie alle großen Genozide der Geschichte auf die Feigheit und Passivität der internationalen Gemeinschaft. Syrische Christen werden enthauptet, koptische Christen werden massakriert, nigerianische Christen werden lebendig in ihren Kirchen verbrannt und kleine Schülerinnen vergewaltigt oder verkauft, 148 Studenten aus Kenia werden umgebracht, weil sie den Koran nicht rezitieren können. Sie waren alle unbewaffnet. Es handelt sich um Zivilbevölkerungen ohne Verteidigung, die von den Daech-Islamisten niedergemäht werden. Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass etwa in Frankreich nur ein paar christliche Organisationen sich hiergegen engagieren."
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Religion

Emel Zeynelabidin, Tochter eines deutschen Milli Görüs-Repräsentanten erregte vor ein paar Jahren Aufsehen, weil sie auf das Kopftuch, das sie bisher immer getragen hatte, verzichtete. Im Interview mit Ursula Scheer in der FAZ sagt sie, was das für sie veränderte: "Als ich mein Kopftuch abgenommen habe, wurde ich nicht mehr zuerst als "die Muslimin" gesehen und habe mein Gegenüber nicht mehr zuerst als den "Nichtmuslim" betrachtet. Die Verhüllung verändert die Wahrnehmung des anderen - und die Selbstwahrnehmung."
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Geschichte

Was wird aus Posens letzter Synagoge? Erbaut wurde sie Anfang des 20. Jahrhunderts, dann von den Nationalsozialisten entweiht und umgebaut und nach dem Krieg jahrzehntelang als Schwimmbad benutzt. Erst 2011 wurde das Bad geschlossen. Heute ist das Gebäude viel zu groß, um der kleinen jüdischen Gemeinde als Gemeindesaal zu dienen, berichtet Sarah M. Schlachetzki in der NZZ. Für die Einrichtung eines Zentrums des interkulturellen Dialogs fanden sich keine Gelder. Jetzt soll der Bau teilkommerzialisiert werden: "Das Projekt sieht vor, den größeren Teil der ehemaligen Synagoge in ein Luxushotel zu verwandeln. Mit diesem und einem koscheren Restaurant soll zugleich ein kleines Museum der Juden in der Region Großpolen finanziert werden. Das Äußere des Gebäudes wird dabei nicht in neoromanischen Formen restauriert, sondern erheblich umgestaltet."
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Kulturpolitik

Nun hat er doch ja gesagt! Neil MacGregor, bisheriger Direktor des Britischen Museums, wird Gründungsintendant des Humboldt-Forums. In der Welt ist Eckhard Fuhr begeistert: "Mit den Gewerken auf der Baustelle geht alles gut voran. Wenn nun einer der renommiertesten Museumsmänner der Welt seinen Londoner Traumposten verlässt, um auf dieser riesigen Berliner Kulturbaustelle anzupacken, dann trägt das die Botschaft in die Welt, dass in Berlins Mitte nicht nur die Kopie eines alten Schlosses entsteht, sondern ein Ort, an dem sich die Kulturen der Welt begegnen. Dafür nämlich, für einen offenen Blick auf die Kulturgeschichte(n) der Menschheit ohne Eurozentrismus, steht Neil MacGregor wie kaum ein anderer."

Regina Mönch klopft in der FAZ fest, dass sich MacGregor auch gegen die Piefkes aus Berlin wird wehren müssen. Regierender Bürgermeister Michael Müller plant im Schloss schon Berliner Touristenwerbung: Müllers Plan, "ein Zwitter aus Stadtreklame und Kulturprojektchen, kam im forschen Propagandaton daher und beruht auf einem fundamentalen Missverständnis... Nein, auf dem Schlossplatz geht es gerade nicht um die Stadt, sondern um das "ambitionierteste Kulturvorhaben unseres ganzen Landes" (Monika Grütters). Der Bund zahlt den Löwenanteil und hatte auch darum über diese Personalie zu entscheiden."

Außerdem: Gina Thomas würdigt ebenfalls in der FAZ noch einmal MacGregors Verdienste. Nikolaus Bernau skizziert in der Berliner Zeitung frohgemut die gewaltigen Aufgaben, die auf MacGregor zukommen. Auch Tagesspiegel (hier) und die SZ widmen der guten Nachricht eine ganze Seite.
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Medien

Ein türkischer Staatsanwalt fordert viereinhalb Jahre Haft gegen die Cumhuriyet-Redakteure Ceyda Karan und Hikmet Cetinkaya, die bei der Berichterstattung über Charlie Hebdo das nach den Massakern veröffentliche Mohammed-Cover nachgedruckt haben, berichtet Agence France Press (hier auf gobalpost.com): "Am 14. Januar hatte Cumhuriyet vier seiten aus Charlie Hebdo ins Türkische übersetzt, um so die erste Nummer nach den Massakern zu würdigen. Die Ausgabe beinhaltete nicht das Mohammed-Cover, aber eine kleinere Version des Bildes wurde zweimal innerhalb der Zeitung abgebildet."

Auch Medien der islamistischen Hizmet-Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die Erdogans AKP einst nahestand, werden inzwischen verfiolgt. Die FAZ bringt einen Brief aus dem Gefängnis des Journalisten Hidayet Karaca.



Der internationale französische Sender TV5.org,der in den Nahen Osten expandieren will, ist von angeblichen IS-Milizen gehackt worden, berichtet Zeit online auf Tickerbasis: "Mittlerweile hat der Sender wieder die Kontrolle über seine Accounts bei Facebook und Twitter. Am frühen Donnerstagmorgen waren auf den Seiten des Senders keine IS-Forderungen mehr zu sehen. Die Website der Sendergruppe war jedoch immer noch nicht abzurufen. Es erscheint lediglich eine Wartungsmeldung. Auch die TV-Kanäle waren nicht zu empfangen."
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Ideen

Der Briefwechsel von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem (frisch herausgegeben bei Suhrkamp) verdankt sich zu einem gut Teil ihrer Liebe und Bewunderung für Walter Benjamin. Aber nicht nur, erklärt Jürgen Habermas in der Zeit: "Adorno und Scholem sind an dem möglichen Wahrheitsgehalt interessiert, den die monotheistischen Überlieferungen unter Bedingungen der Moderne noch entfalten können. Sie suchen nicht nach mythischen oder vorsokratischen Ursprüngen. Der Mythos, den der Logos der großen Weltreligionen überwunden hatte, darf nicht "das letzte Wort behalten". Nietzsche ist abwesend, und der Schwefelgeruch des neuheidnischen Nietzscheanismus erst recht. Das "Umschlagen der Mystik in Aufklärung" bezeichnet den Ort, an dem sich Adrorno und Scholem treffen."

Schwer verständlich findet es der Historiker Volker Weiß, dass der westlichen Linken zum Glaubensterror der Islamisten so gar nichts einfällt - außer Schweigen. Dabei müssten sie einfach mal wieder ihren Edward Said lesen: "Seine Formel, dass "der Orientalismus ein konstitutiver und nicht nur beiläufiger Bestandteil der modernen politisch-intellektuellen Kultur ist - und als solcher weniger mit dem Orient selbst als mit unserer Welt zu tun hat" - lädt umgekehrt ein zur Frage, auf welche inneren Defizite eigentlich der Hass der Islamisten gegen "den Westen" deutet. Niemand kam auf den Gedanken, sich mit der Methodik Saids dem grassierenden muslimischen Antisemitismus oder der verschwörungstheoretischen Rhetorik der mittelöstlichen Regime zu nähern (in die Said stellenweise selbst verfällt). Dabei präsentiert sich hier ebenfalls ein Diskurs, der nichts über sein Objekt, aber alles über seine Träger verrät."

Außerdem: In der taz widersetzen sich die französischen Philosophen Emmanuel Faye, Sidonie Kellerer und der Linguist François Rastier allen Versuchen, Heidegger für die Philosophie zu retten.
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