9punkt - Die Debattenrundschau

Die grausame Wahrheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.03.2015. In Hundervierzehn erklärt Yu Hua, warum die Chinesen so oft Beschwerde einlegen. Für das Weiße Haus interviewt Barack Obama den "The Wire"-Erfinder David Simon. Im Figaro will Michel Onfray den Sturz unserer Ziviliation nicht mehr aufhalten. Laut Heise will Sigmar Gabriel die Netzpolitik auf keinen Fall mehr den Netzpolitikern überlassen. In der New Republic beharrt Diana Pinto darauf, dass man jüdisch sein und in Europa bleiben kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.03.2015 finden Sie hier

Politik

Das Fischer-Blog Hundertvierzehn übernimmt die New-York-Times-Kolumne des chinesischen Autors Yu Hua, der in der ersten Folge über das Petitionswesen in China schreibt. "Schon im Jahr 2004 hat die offizielle Zahl der Beschwerdeschriften die Zehn-Millionen-Marke überschritten. Seitdem ist keine neue Zahl mehr bekanntgegeben worden. All diese Opfer von Korruption und Justizwillkür haben ihr Vertrauen in das Rechtssystem verloren. Stattdessen träumen sie von einem aufrechten Beamten, der sich ihrer Sache annimmt."

Auf ein erstaunliches Dokument verweist Le Monde heute morgen: Barack Obama höchstselbst hat in einem Salon des Weißen Hauses den Erfinder der Serie "The Wire", David Simon, interviewt. Diese Serie handelt bekanntlich vom Drogenhandel in Baltimore und zeigt das komplexe Widerspiel von Drogenhandel und Polizei. Mit dem Gespräch bezweckt Obama etwas, meint der namenlose Le Monde-Autor: "David Simon sagen zu lassen, dass die systematischen Festnahmen nichts lösen, dass es in den USA einen übertriebenen Rückgriff auf das Gefängnissystem gibt, dass man sich nach einem Aufenthalt im Gefängnis so gut wie gar nicht mehr integrieren kann, erlaubt es Obama, bestimmte Aspekte einer Reform des amerikanischen Rechtssystem durch einen der angesehensten Journalisten des Landes ansprechen zu lassen."



Bernard-Henri Lévy ruft in seiner Kolumne dazu auf, weiter nach Tunesien zu fahren und dieses Reiseziel nicht wie viele Reiseveranstalter zu streichen: "Halten wir im Gegenteil Kontakt. Lasst uns noch häufiger hinfahren und die Beziehungen vertiefen, unsere Buchungen bestätigen und uns der Panik entgegenstellen. Wir müssen noch zahlreicher die Ausstellungssäle des Bardo-Museums und der Museen in Sousse, Karthago oder Raqqada besuchen und diesen Anhängern einer neuen Assassinen-Sekte zeigen, dass sie nur stark sind, wenn wir uns schwach machen."
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Kulturpolitik

Jörg Häntzschel und Catrin Lorch kritisieren in der SZ die Arbeit der Taskforce, die an der Identifizierung möglicher Raubkunstwerke in der Gurlitt-Sammlung arbeitet, "für ihre Geheimniskrämerei, für ihren wenig einfühlsamen Umgang mit den Anspruchstellern, für ihre umständliche Organisation. Als die Taskforce ihre Arbeit aufnahm, versprach deren Leiterin Ingeborg Berggreen-Merkel: "Wir arbeiten so schnell wie möglich." Heute, mehr als ein Jahr nach dem Beginn der Arbeit, sind von rund 500 Werken ohne sichere Provenienz lediglich drei zweifelsfrei als Raubkunst identifiziert, werden also zurückgegeben. Sieht so schnellstmögliche Aufklärung aus?"
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Geschichte

Zum siebzigsten Jahrestag schildert Thomas Kielinger in der Welt die Zerstörung Danzigs, die er als Kind miterlebte: "Es wurde die erste audiovisuelle Erfahrung des noch nicht Fünfjährigen. Ich schrie aus Leibeskräften, die Hände an eine Laterne geklammert, mich dem Inferno verweigernd. Die Innenstadt war eine einzige Fackel, die Nacht wolkenlos, der Vollmond hinter Rauch glutrot gefärbt. Flammen überall, Hitze, sprühende Funken, zusammenbrechende Hausfassaden. Die Straße voller Gefährte, Panzer, Kutschen, Panjewagen, Leiterwagen mit Hausrat, totes Getier, schreiende Soldaten und Flüchtlinge."

Ebenfalls in der Welt stellt Sven Felix Kellerhoff das Projekt European Holocaust Research vor, das länderübergreifend 464 Archive und Einrichtungen vernetzt: "Was auf den ersten Blick nach reiner Fleißarbeit klingt, erweitert in Wirklichkeit die Möglichkeiten der Forschung, aber auch anderer Nutzer erheblich: Mit geringem Aufwand kann man künftig in der zum größten Teil in Englisch verfassten Datenbank nach speziellen Quellen zum Holocaust in bestimmten Orten oder zu einzelnen Personen suchen."



Vor 500 Jahren führte die Schweizer Eidgenossenschaft ihren letzten Krieg - und erlebte in Marignano eine schwere Niederlage, die ihrer Großmachtpolitik ein für alle mal ein Ende setzte. Eine Ausstellung im Landesmuseum Zürich erinnert nun an die Schlacht, berichtet Marc Tribelhorn in der NZZ: "Es zeigt sich, dass die Eidgenossen der Sprengkraft der Franzosen nichts entgegenzusetzen haben. Die verweigerte waffentechnische Modernisierung hat sie zu Fall gebracht. Die Sieger kennen kein Erbarmen, erbeuten alles Wertvolle und schneiden den Gefallenen auch noch das Bauchfett aus dem Leib." Allerdings vermisst Tribelhorn den Bereich der Erinnerungskultur in der um historische Rekonstruktion bemühten Schau. (Bild: Darstellung des Schlachtfeldes von Marignano durch den Augenzeugen Urs Graf, 1521)

Weiteres: In der FAZ denkt Gina Thomas über die symbolische Bedeutung der Umbettung der Gebeine Richards III. für die Briten nach.
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Ideen

Für den Figaro bauen sich die beiden Denker François-Xavier Bellamy und Michel Onfray vor der ehrwürdigen Kulisse der Brasserie Lipp auf und stellen sich der schwerwiegenden Frage, ob wir am Ende unserer Zivilisation angelangt seien. Onfray trifft gleich zu Beginn des Gesprächs eine Diagnose in wünschenswerter Klarheit: "Die grausame Wahrheit ist, dass unserer Zivilisation zusammenbricht. Sie hat 1.500 Jahre gedauert. Das ist ja schon viel. Ich betrachte das aus spinozistischer Perspektive: nicht lachend, nicht weinend, im Versuch zu verstehen. Man kann einen herabstürzenden Felsen nicht aufhalten." Und was er einem Zwanzigjährigen sagen würde? "Das Schiff geht unter, bleiben Sie elegant, sterben Sie aufrecht. " Und ein gutes Steak bitte, bien saignant.

Nicht sehr begeistert von diesem Gespräch ist Fernando de Amorim in der huffpo.fr, der es dürr und kalt nennt.
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Medien

Deutsche Medien nennen den Namen des Kopiloten Andreas Lubitz sehr häufig nicht (und manchmal doch), berichtet Meedia in einer Presseschau und beleuchtet unterschiedliche Praktiken: "Während angelsächsische Medien durchgehend den Co-Piloten im Bild zeigen und mit vollem Namen nennen, gibt es in deutschen Medien eine große Bandbreite. Vom völligen Bild-Verzicht bis hin zur vollen Namensnennung. Zwischen Boulevard- und "Qualitäts"-Medien ist kein Unterschied feststellbar."
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Stichwörter: Germanwings, Lubitz, Andreas

Kulturmarkt

Ausgerechnet Dieter Gorny, Lobbyist der Musikindustrie, wird von Sigmar Gabriel zum ehrenamtlichen Digitalbeauftragten in seinem Ministerium gemacht. Laut Stefan Krempl bei heise.de bedauert Gabriel auch ausdrücklich, "die Digitalisierung zunächst den Netzpolitikern überlassen zu haben". Gorny sagte dann auch gleich das Erwartbare: "Die hiesige Antwort auf das Silicon Valley müsse sich aus europäischen Werten "wie geistigem Eigentum und Urheberrecht" speisen. Das Wohl und Wehe der Musikbranche dürfe nicht ein paar Nerds überlassen werden."
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Europa

Die Pariser Historikerin Diana Pinto erklärt in der New Republic, warum sie als Jüdin trotz allem in Europa bleibt, und sie antwortet kritisch auf Leon Wieseltier (ehemals New Republic), der dem letzten Juden, der emigriert, geraten hat, auf Europa zu spucken, auch wenn sie Wieseltier irgendwie verstehen kann : "Über Wieseltier hinaus würde ich sagen, dass die meisten amerikanischen Juden - von denen die überwältigende Mehrheit aus den Gegenden stammten, die im Zweiten Weltkrieg die osteuropäischen "Bloodlands" wurden - in ihre kollektiven jüdischen Identitäten ein nachvollziehbares Gefühl existenzieller Dankbarkeit gegenüber ihren Vorfahren eingebaut haben, dafür dass sie den Kontinent des Antisemitismus und anschließenden absoluten jüdischen Horrors rechtzeitig verlassen haben. Hinzu kommt das generelle Ethos des Einwanderers im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, demzufolge die Alte Welt ein Ort der Ungerechtigkeit und Armut war, dem man zum Glück entkommen ist. Und darauf kommt ein noch eine spezifisch jüdische Schicht von Antipathie gegen Frankreich, das im Vorfeld des Sechstagekrieges von 1967 seine Allianz abrupt von Israel zur arabischen Welt verschoben hat."
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