9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Werkzeug potenziell evolutionärer Macht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2015. Alexander Graf Lambsdorff in der Welt und Antje Vollmer in der taz entwickeln höchst divergente Standpunkte zu den griechischen Reparationsforderungen. Irights.info macht sich keine Hoffnung mehr, dass die Öffentlich-Rechtlichen die Creative-Commons-Idee aufgreifen: Sie sind einfach zu arm. Laut FAZ graut den Gentechnikern so langsam vor sich selbst. Der New Yorker erinnert an Richard Stallmans vor dreißig Jahren formuliertes GNU-Manifesto, ohne das es das Internet wohl nicht geben würde. Die Aufregung um das Finger-Fake ebbt langsam ab.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.03.2015 finden Sie hier

Geschichte

Der EU-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff weist griechische Forderungen nach Reparationszahlungen in der Welt entschieden zurück: "Während die historische und moralische Aufarbeitung vergangenen Unrechts nicht enden kann und soll, muss es die juristische und finanzielle sehr wohl. Die heutige Generation junger Deutscher muss die deutsche Geschichte kennen, sie auch als handlungsleitend anerkennen - für Nazi-Verbrechen zahlen muss sie hingegen nicht mehr."

Dagegen weist die grüne Exbundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer im taz-Gespräch mit Pascal Beucker auf einen Präzedenzfall hin: "Ich habe mich seit den 80er Jahren mit der Zwangsarbeiterentschädigung befasst. Da wurde auch immer gesagt: Bitte nicht an diese Frage rühren, das wird teuer. Im Jahre 2000 gab es dann heftige Angriffe gegen deutsche Konzerne in den USA. Das führte zu dem Zwangsarbeiterfonds in Höhe von 10 Milliarden Mark. Das heißt: Es geht doch noch etwas, wenn der entsprechende politische Druck da ist. Den haben die Griechen natürlich nicht." Lambsdorff macht allerdings auf den Unterschied aufmerksam, dass sich die Ansprüche der ehemaligen Zwangsarbeiter nicht an den Staat, sondern an deutsche Privatunternehmen richteten.

Hundert Jahre nach dem türkischen Völkermord an den Armeniern fragt eine internationale Historikertagung in Berlin nach der Rolle Deutschlands in dem Verbrechen, berichtet Frank Nordhausen in der FR. Unzweifelhaft ist, dass die Berliner Regierung wusste, das sich die geplante Deportation der Armenier zu einem Massenmord entwickelte, und nichts dagegen unternahm: "So beklagte der armenierfeindliche Botschafter Wangenheim plötzlich die "Vernichtung der armenischen Rasse". Als er im Oktober 1915 an einem Schlaganfall starb, wurde er von Paul Graf Wolff Metternich abgelöst - dem einzigen Deutschen, der von einer hohen Position aus das Morden stoppen wollte, doch er wurde schnell wieder aus Konstantinopel abberufen. Die Angst, den wichtigen türkischen Verbündeten zu verlieren, gab den Ausschlag dafür, nichts zu tun - gemäß dem berüchtigtem Diktum des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg von Ende 1915: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.""
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Europa

Nachdem die Rauchschwaden der gewalttätigen Proteste gegen die Eröffnung der neuen EZB-Zentrale in Frankfurt verflogen sind, bemühen sich die Blockupy-Anhänger, ihre inhaltlichen Anliegen wieder auf die Tagesordnung zu stellen. In der taz erläutert der Philosoph Thomas Seibert im Gespräch mit Christian Jakob die Absicht der Bewegung: "Wir müssen der Europäischen Union aus ihrer ökonomischen Krise heraus eine politische Krise aufzwingen. Dazu müssen wir Europa so darstellen, wie es ist: eine Macht, die Millionen aus ihrem Leben geworfen, gedemütigt und verarmt hat. Ein Beispiel nur: Die von der Troika aufgezwungene Zerstörung des griechischen Gesundheitssystems bedroht die Leute buchstäblich in ihrem Überleben."
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Gesellschaft

Für den Aufmacher des FAZ-Feuilletons liest Joachim Müller-Jung einen in Science veröfentlichten Aufruf von Genwissenschaftlern zu einer Diskussion über das eigene Tun und kann den Diskussionsbedarf nur bestätigen: "Aus Gentechnikern sind Genomdesigner geworden. In der schon in Hunderten Labors verwirklichten Allianz mit Stammzellforschern, die jede beliebige Zelle des Körpers - eben auch die Keimzellen Ei und Spermien - quasi wie ein Computerprogramm reprogrammieren und ineinander verwandeln können, ist aus einer groben Mikrotechnik ein mächtiges Instrument, ein Werkzeug potenziell evolutionärer Macht, geworden."
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Internet

Maria Bustillos erinnert im New Yorker daran, dass Richard Stallman vor genau 30 Jahren sein "GNU Manifesto" veröffentlicht hat, ohne das wir das Internet wohl nicht hätten, und sie zitiert seinen berühmten Satz, der im Zeitalter der Geheimdienstaffäre noch prophetischer wird: "With software, either the users control the program, or the program controls the users."
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Überwachung

In Frankreich will die Regierung nun per Algorithmus, der auf die gesamte elektronische Kommunikation angewandt wird, verdächtige Verhaltensweisen einzelner herausfiltern, um sie im Rahmen von Terrorabwehrmaßnahmen zu untersuchen, berichten Pierre Alonso und Amaelle Guiton in Libération. Netzaktivisten sind beunruhigt: "Die Unklarheiten werden nicht beseitigt. Die Regierung erweist sich bei diesem Thema als als sehr reizbar und beruft sich schnell auf Geheimhaltungsvorschriften, um keine Details herauszurücken. Hierüber beklagt sich Adrienne Charmet von der Aktivistengruppe La Quadrature du Net: "Es gibt überhaupt keine Information über die Art des Überwachungsmechanismus, der da installiert wird, das bleibt allein den Diskussionen zwischen Providern und den Geheimdiensten überlassen. Aber es müsste eine öffentliche Debatte hierüber geben.""
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Stichwörter: Frankreich, Geheimdienste

Urheberrecht

Auf eine Anfrage, wie man mit der CC-Idee in den Öffentlich-Rechtlichen umzugehen gedenke, hat der RBB geantwortet, dass man sie im Einzelfall trotz zu leistender "Zusatzaufwände" unterstützen wolle. Matthias Spielkamp kommentiert bei irights.info: "Zusatzaufwände sind im öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Allgemeinen nur gegen Zusatzhonorare zu bekommen. Und da es kein Geld für Zusatzhonorare gibt, gibt es auch keine Zusatzaufwände. Und wo keine Zusatzaufwände, da keine Creative-Commons-Inhalte. Es ist also so, wie wir uns das immer vorgestellt haben: Im Topf der Öffentlich-Rechtlichen mit insgesamt 7.681.218.209,65 Euro (2013) ist nicht genug Geld für CC-lizenzierte Inhalte."
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Medien

Die Aufregung um das Video von Yanis Varoufakis" Stinkefinger kulminierte im Bekenntnis Jan Böhmermanns, er habe das Video selbst fingiert (unser Resümee, im Tages-Anzeiger wird die Angelegenheit nochmal ausführlich rekapituliert). Mit der eiligen Versicherung des ZDF, bei Böhmermanns Sendung Neo Magazin Royale handele es sich um Satire, ist das Rätsel zwar gelöst (was Böhmermann umgehend dementiert), die öffentliche Erregung jedoch noch lange nicht abgeklungen.

Gar nicht lustig findet jedenfalls Michael Hanfeld in der FAZ das Ganze. Für ihn gibt Jan Böhmermann "denjenigen, denen das Wort "Lügenpresse" leicht von den Lippen geht, eine Steilvorlage." "Satire muss als Korrektiv vermeintlicher Gewissheiten fungieren, und das ist hier vorbildlich erfüllt", meint hingegen Sebastian Lange in der Welt. Und für David Hugendick (Zeit online) handelt es sich um eine "gewitzte Relativierung, welche die Hysterie um das Mittelfinger-Video nivelliert, indem sie sie bedient und alles in einer ohrenbetäubenden Leere untergehen lässt." Srećko Horvat, Organisator des "Subversive Festival" in Zagreb, bei dem Yanis Varoufakis seinen Stinkefinger zeigte, fürchtet in der SZ nach Böhmermanns Fake, "dass wir wirklich eine gefährliche Zeit erreicht haben. Eine Zeit, in der es nicht mal mehr wichtig ist, ob ein Finger gefälscht ist oder real."
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Politik

Antisemitische Ausschreitungen auch in Südafrika. Die südafrikanische Autorin Ruth Weiss liefert in der Jüdischen Allgemeinen interessante Hintergründe, etwa den, dass der ANC traditionell mit der PLO liiert war. Aber andererseits: "Schon ab 1936 verbot das Apartheidsregime Juden die Einwanderung. Da wird es vielleicht verständlich, dass Juden eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Apartheid gespielt haben: 14 der 23 weißen Angeklagten im Hochverratsprozess 1956 waren Juden; fünf der 17 ANC-Führer, die 1963 festgenommen wurden, waren Juden; mit Denis Goldberg und Joe Slovo waren zwei enge Vertraute Nelson Mandelas Juden."

"Tunesiens junge Männer sind frustriert, weil sie nach den Sternen griffen und erst einmal im Restpatriarchat landeten", erklärt Edith Kresta in der taz die Beweggründe junger Tunesier, sich trotz der vielversprechenden Entwicklung ihres Landes dschihadistischen Terror anschließen: "Im heutigen, demokratisch verfassten Tunesien gibt es alle Freiheiten und viele Verheißungen. Die Realität ist jedoch ernüchternd: Nur ein Teil der Jugendlichen kann sich die Freiheit leisten. Ein anderer, männlicher Teil ohne festes Einkommen vegetiert in Kaffeehäusern, abhängig von der Familie und damit entmündigt. Waren vor der Revolution noch 13 Prozent der Tunesier arbeitslos, sind es heute 19 Prozent. Unter den Fach- und Hochschulabsolventen hat jeder zweite keine feste Stelle."
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